Beim FCB spricht fast alles gegen Thomas Tuchel: Ein Rauswurf des Trainers nach der Blamage gegen Leverkusen wäre jetzt dennoch aktionistisch

Thomas Tuchel, FC Bayern München
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Nach einer Pleite in Leverkusen unter Julian Nagelsmann begann im März 2023 Thomas Tuchels Amtszeit beim FC Bayern. Rund elf Monate später verloren die Münchner an selber Stelle - jetzt wackelt auch Tuchel. Wie ist sein bisheriges Wirken beim FC Bayern zu bewerten? Eine Analyse.

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Viel ist nicht bekannt über Thomas Tuchels Ski-Begeisterung. Immerhin aber der Fakt, dass er die Skipiste dem Karneval vorzieht. "Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Mitmachen oder zum Skifahren gehen", stellte Tuchel 2009 nach seinem Amtsantritt als Trainer des FSV Mainz 05 fest, gefragt nach seiner Einstellung zu Fastnacht-Festivitäten. "Bisher habe ich mich für das Zweite entschieden."

Im Jahr 2024 wird Tuchel auf beides verzichten. Lust auf Partys dürfte er nach der 0:3-Pleite gegen Bayer Leverkusen nicht haben, der Rückstand auf den Bundesliga-Spitzenreiter beträgt bereits fünf Punkte. Aufgrund des engen Terminplans bleibt auch keine Zeit für einen Skiurlaub. Bereits am Mittwoch ist der FC Bayern zum Achtelfinal-Hinspiel der Champions League bei Lazio Rom zu Gast. Wohl besser so!

Als der FC Bayern vor rund elf Monaten letztmals in Leverkusen verloren hat, kostete ein Skiurlaub in der darauffolgenden Länderspielphase Trainer Julian Nagelsmann letztinstanzlich den Job. Statt die Pleite in München aufzuarbeiten, bretterte er lieber durch den Schnee. Nagelsmanns Entlassung kam damals überraschend und trotz eines vorherigen Treuebekenntnisses von Präsident Herbert Hainer.

Thomas Tuchel, FC Bayern München
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FC Bayern: Bosse und Spieler stellen sich hinter Thomas Tuchel

Nach einer neuerlichen Niederlage in Leverkusen wackelt laut ungeschriebenem Fußball-Gesetz nun auch Nagelsmanns Nachfolger. Tuchels Mannschaft verlor nicht nur gegen Leverkusen, sie ließ sich regelrecht deklassieren. Das Ergebnis war leistungsgerecht, die Münchner kamen zu keiner einzigen klaren Torchance. Der Trainer hatte entscheidenden Anteil am Untergang im Spitzenspiel: Tuchel machte taktische und personelle Fehler - und korrigierte sie erst viel zu spät.

Ein Trainerwechsel zum jetzigen Zeitpunkt wäre aber ähnlich aktionistisch wie vor einem Jahr - für eine unmittelbare Verbesserung der Gesamtsituation würde er wohl eher nicht sorgen. Die Probleme des FC Bayern liegen tiefer, das sollte längst klar sein. Der Vorstandsvorsitzende Jan-Christian Dreesen sowie Sportdirektor Christoph Freund stellten sich trotz des Offenbarungseids noch am Samstagabend hinter Tuchel. "Da ändert sich gar nichts", sagte Dreesen auf die Frage nach der Einstellung der Klubführung zu Tuchel.

Auch Joshua Kimmich und Thomas Müller nahmen den Trainer - trotz ihrer überraschenden Bankplätze - aus der Schusslinie und stattdessen die Spieler in die Pflicht. Tatsächlich verwundert es, dass sich eine derartige Ansammlung an hochdekorierten Nationalspielern dermaßen vorführen lässt. Ganz losgelöst von sämtlichen taktischen und personellen Fehlern des Trainers. Die titelverwöhnte Mannschaft wirkt satt, mit Blick auf die jüngere Vergangenheit könnte man ihr auch ein Trainer-unabhängiges Mentalitäts- und Motivations-Problem diagnostizieren.

Jan-Christian Dreesen, FC Bayern München
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Der FC Bayern unter Tuchel: Keine fußballerische Weiterentwicklung

Bedenklich ist dennoch, dass in den rund elf Monaten unter Tuchel keine wirkliche fußballerische Weiterentwicklung zu erkennen ist. Die Mannschaft tritt gehemmt und uninspiriert auf. "Lockere Spiele gibt es in der Bundesliga für uns erstmal nicht. Es geht viel über Kampf", sagte etwa Kapitän Manuel Neuer nach dem knappen 3:2-Sieg gegen den FC Augsburg. Das ist nicht der Anspruch des FC Bayern.

Griffen die Münchner unter Nagelsmann gerne wild an, spielen sie unter Tuchel deutlich bedachter. Tuchel gilt als Seelenverwandter von Ballbesitz-Fanatiker Pep Guardiola. Seine Mannschaft strahlt aber bei weitem nicht die Dominanz von Peps (qualitativ sicherlich hochwertigerem und besser zusammengestellten) FC Bayern aus. In der Offensive hängt viel von Einzelaktionen der hochbegabten Stars ab.

So wird aus Kontrolle schnell Langeweile, auf Gala-Vorstellungen des FC Bayern wartet man aktuell vergeblich. Nach den (zahlreichen) Siegen kommt keine Euphorie auf, nach den (wenigen) Niederlagen herrscht umgehend apokalyptische Stimmung. Fast jede Pleite gleicht einem Offenbarungseid: Etwa beim DFB-Pokal-Aus gegen den Drittligisten 1. FC Saarbrücken oder in der Bundesliga gegen Eintracht Frankfurt und nun eben am dramatischsten gegen Leverkusen.

Kaum ein Spieler entwickelte sich unter Tuchel deutlich weiter: Der so sagenhaft talentierte Jamal Musiala stagniert, Leroy Sanés Hochform aus dem Herbst ebbte seit der Winterpause ab. Positiv ist immerhin die Entwicklung von Eigengewächs Aleksandar Pavlovic, dem Tuchel viel Spielzeit schenkt.

Julian Nagelsmann
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FC Bayern: Tuchel verliert Statistik-Vergleich mit Nagelsmann

Statistisch lässt sich Tuchels Bilanz beim FC Bayern so oder so lesen. In den bisherigen 42 Pflichtspielen unter seiner Leitung holten die Münchner im Schnitt 2,12 Punkte pro Spiel, unter Nagelsmann waren es in 84 Spielen 2,33. Tuchels Mannschaft schießt außerdem im Schnitt weniger Tore pro Spiel als Nagelsmanns (2,33 statt 3,04) und kassiert mehr (1,19 statt 1).

Trotz etlicher Patzer stolperten sich die Münchner in der vergangenen Saison zum Meistertitel. Blickt man nur auf die aktuelle Spielzeit, lesen sich die Zahlen etwas anders: Nach 21 Spielen hält der FC Bayern in der Bundesliga bei 50 Punkten, das sind sieben mehr als unter Nagelsmann zum gleichen Zeitpunkt in der Vorsaison. Dazu gelangen zuletzt Siege gegen die notorischen Angstgegner FC Augsburg und Borussia Mönchengladbach.

Anders als sein Vorgänger kann Tuchel mit Harry Kane seit Sommer aber auf einen Stürmer von Weltklasse-Format zurückgreifen. Dafür leidet die Mannschaft seit Monaten unter einer beispiellosen Verletzungsserie, Tuchel ist regelmäßig zum Improvisieren gezwungen. Die vielen Muskelblessuren könnten auch auf falsche Trainingssteuerung hindeuten.

Die zweifellos starke Punkteausbeute des FC Bayern wird in dieser Saison von historisch guten Leverkusenern relativiert. Dass sich die Münchner in einem direkten Titelduell dermaßen vorführen lassen wie am Samstag, ist unterdessen neu. Das hat es seit Beginn der Meisterserie vor zwölf Jahren nicht mehr gegeben. Traditionell läuft die Mannschaft eigentlich genau in diesen Spielen zur Hochform auf.

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Ratlos und dünnhäutig: Thomas Tuchels Probleme in der Kommunikation

Tuchel verteidigte anschließend zwar seine umstrittene Taktik, nahm die Niederlage aber auf sich. Generell verwundert seine Kommunikation nach Pleiten: War er nach dem 0:3 gegen Manchester City in der vergangenen Saison noch "schockverliebt" in seine neue Mannschaft, so kritisierte er sie bei den darauffolgenden Niederlagen mehr oder weniger offen. Viele seiner Aussagen vermitteln pure Ratlosigkeit. Fragwürdig und wenig zielführend sind auch die permanenten Verweise auf vermeintlich herausragende Trainingsleistungen.

Dazu kommt Tuchels offensichtliche Dünnhäutigkeit: Wie die Bild berichtet, schmetterte der Trainer nach der Pleite in Leverkusen in den Katakomben rüde eine Interviewanfrage des ZDF ab. Beim Spiel gegen Augsburg wütete er in Richtung gegnerische Bank: "Bist du behämmert oder was?" In der Hinrunde lieferte sich Tuchel einen reichlich unnötigen öffentlichen Schlagabtausch mit den TV-Experten Lothar Matthäus und Dietmar Hamann, das Duell mit Hamann geht seitdem munter weiter.

"Er wirkt getrieben von der medialen Berichterstattung und reagiert regelrecht zickig", sagte Kommunikations-Experte Michael Cramer bei SPOX. "Dabei hat er das ja gar nicht nötig. Etwas mehr Ruhe und Gelassenheit würden ihm da guttun. Mehr Seniorität, weniger Sprunghaftigkeit." Im aufgeheizten Münchner Umfeld die Contenance zu bewahren, ist aber selbstverständlich eine Mammutaufgabe. Kritik gab es einst auch an Nagelsmanns Öffentlichkeitsarbeit, bei ihm wegen seiner Flapsigkeit und seinem überbordenden Geltungsdrang.

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FC Bayern: Tuchels unglückliche Äußerungen über seine eigenen Spieler

Tuchel verwundert mit öffentlichen Aussagen bisweilen auch seine eigenen Spieler, etwa im Zuge des 1:0-Sieges gegen Union Berlin. Leon Goretzkas Startelf-Rückkehr begründete Tuchel damals lapidar damit, dass Alphonso Davies eine Pause bekommt und durch Raphael Guerreiros Versetzung nach links hinten somit ein Platz im Mittelfeld frei wurde. Lobende Worte für Goretzka blieben aus.

"Ach so", erwiderte Goretzka und ergänzte auf die Frage nach einem Zweikampf mit Guerreiro: "Weiß ich gar nicht, müssen wir wahrscheinlich den Trainer fragen." Seine begleitende Mimik sagte noch mehr als alle Worte. Davies stellte Tuchel unterdessen eine Einwechslung in Aussicht, ließ ihn dann aber doch 90 Minuten lang auf der Bank.

Als nicht spannungsfrei gilt vor allem Tuchels Verhältnis zu Joshua Kimmich, einst Nagelsmanns Lieblingsschüler. Kimmich ist zwar auch unter Tuchel gesetzt, seinen Status der Unantastbarkeit hat er aber verloren. Wie der Trainer schon mehrmals betonte, wünscht er sich auf der Sechs einen defensivstärkeren Akteur. Tuchels öffentliche Forderungen nach Neuzugängen kommen im Klub nicht unbedingt gut an.

Gegen Leverkusen verzichtete Tuchel in der Startelf auf Kimmich, obwohl dieser nach auskurierter Schulterverletzung "fast zu 100 Prozent trainiert" habe. Wenig Verständnis für ihre Bankplätze in Leverkusen dürften Innenverteidiger Matthijs de Ligt und Thomas Müller aufgebracht haben. Den erst 2022 für 67 Millionen Euro verpflichteten de Ligt demontiert Tuchel förmlich - und flirtet dafür mit Ronald Araujo vom FC Barcelona.

International, Transfers
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Thomas Tuchel legte sich auch mit den eigenen Fans an

Bei den Fans gilt Tuchel nicht unbedingt als ausgewiesener Sympathieträger. Der Trainer wirkt wenig nahbar, scheint sich mit dem Job bei weitem nicht so sehr zu identifizieren, wie es sein mittlerweile zum Bundestrainer bestellter Vorgänger Nagelsmann getan hat. Für Tuchel ist der FC Bayern ein Projekt, keine Herzensangelegenheit.

Bei der Pleite gegen Werder Bremen gab es schon zur Pause Pfiffe, nach der Deklassierung von Leverkusen brachte jemand vor dem Klubgelände an der Säbener Straße ein "Tuchel raus"-Plakat an.

Zuletzt kritisierte der Trainer die aktiven Fans in der Südkurve für den Stimmungsboykott als Protest gegen die Investoren-Pläne der DFL. "Es wird mal wieder Zeit für ein Heimspiel mit Enthusiasmus", sagte der Trainer. "Eine Kurve lebt auch von Protest und Widerstand - Enthusiasmus gibt es nicht auf Knopfdruck", stand anschließend auf einem Spruchband in der Südkurve zu lesen. Enthusiasmus fehlt beim FC Bayern aktuell allerorts. Daran hat Tuchel einen gehörigen Anteil.