Räumt die Nordstadt frei

Borussia Dortmund steht zum dritten Mal in den vergangenen vier Jahren im Pokalfinale
© getty

Bei Borussia Dortmund nahm man vor dem DFB-Pokal-Halbfinalspiel beim FC Bayern München den Mund mächtig voll - und zeigte dann über eine Stunde lang eine Leistung ohne Mumm. Vollkommen unerwartet steht schließlich aber ein dramatischer Sieg über den sportlichen Erzrivalen. Jürgen Klopps Traum, noch einmal mit dem Laster über den Dortmunder Borsigplatz zu fahren, scheint Realität zu werden.

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Jürgen Klopp erwehrt sich in diesen Tagen jeglicher Sentimentalitäten. Einen Schutzpanzer werde er in den nächsten Wochen tragen, sagte er nach seiner Ankündigung, Borussia Dortmund am Saisonende zu verlassen.

Der Coach möchte zum Saisonausklang den letzten Tropfen aus seiner siebenjährigen Amtszeit herauspressen und nicht in Erinnerungen an eine glanzvolle Vergangenheit schwelgen. Mit einer Ausnahme: aus gutem Grund mit einem Lastwagen über den Dortmunder Borsigplatz fahren, so wie bei den bisherigen Titelgewinnen, das wäre nochmal was.

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Seit klar ist, dass Klopp Dortmund verlässt und Thomas Tuchel sein Nachfolger wird, ist der Borussia auch etwas Ballast abgefallen. Das Gros der katastrophalen Saison scheint in den Hintergrund gerückt zu sein, Klopps Entscheidung hat eine neue Dynamik entfaltet. Die Aussicht auf eine Begradigung der sportlichen Delle und einen würdigen Abschied des Cheftrainers hat für die Dortmunder nun oberste Priorität und beflügelt.

BVB 70 Minuten ohne Mumm

Reichlich selbstbewusst traten sie nämlich im Vorfeld der Halbfinal-Partie gegen den übermächtig erscheinenden FC Bayern auf. Unisono rechnete man sich gute Chancen aus, die Hürde München zu überspringen. Das war erstaunlich, wenn man sich die vielen Probleme vergegenwärtigt, die Dortmund durch diese Spielzeit schleppt. Fraglich, ob der BVB den Mund vor zwei Monaten ebenso voll genommen hätte wie zuletzt.

Auch Klopp merkt man die Befreiung an. Seine Laune ist ausgeglichener, die Entertainer-Sprüche sitzen wieder. "Wir sind auf Krawall gebürstet und werden uns nicht durch Blumen weichkochen lassen", sagte er vor der Partie zur Ankündigung der Bayern, ihn mit einem Blumenstrauß verabschieden zu wollen. Man werde seiner Mannschaft von der ersten Minute ansehen, dass sie ins Finale möchte.

Was sich dann allerdings in den ersten 70 Minuten der Begegnung von Dortmunder Seite abspielte, war gar nicht eindeutig. Klopps Elf spielte ohne Mumm, ließ die Aggressivität vermissen und zeigte sich offensiv höchst harmlos. Über eine Stunde lang sah es so aus, als ob diese Partie das Musterbeispiel dafür werden würde, wie sehr sich die Bayern in den letzten beiden Jahren von den Schwarzgelben entfernt haben. Der führende Rekordmeister war drauf und dran, die Vorentscheidung zu erzielen.

Zorc: "Dann hat es klick gemacht"

"Wir haben keine gute erste Halbzeit gespielt, direkt danach wurde es noch schlechter. Bis zur 70. Minute war eigentlich das Beste, das wir nur 0:1 zurücklagen", sagte Sportdirektor Michael Zorc nach der Partie. Zorcs Gesicht war gerötet und er war heiser. Dass seine brüchige Stimme vom Jubeln und nicht vom Toben herrührte, begründete er so: "Dann hat es klick gemacht."

Die Auswechslung von Bayerns Thiago sowie Klopps Entscheidung, Henrikh Mkhitaryan in die Partie zu werfen, waren die Auslöser für das Klicken. Ab diesem Zeitpunkt nahm das Spiel eine dramatische Wendung an, mit der niemand mehr gerechnet hat. Bayern verlor die Ballsicherheit, Dortmund kam ins Umschaltspiel und plötzlich zu Chancen.

Diese Phase dauerte allerdings keine 15 Minuten an, danach drückten die Hausherren die später noch in Unterzahl agierenden Gäste wieder in die eigene Hälfte. Dass der Rekordmeister mehrere gute Torchancen liegen ließ und im Elfmeterschießen nicht im Stande war, auch nur einen Ball ins Netz zu schießen - all dies ließ die Beobachter rätselnd zurück.

Heilende Kraft auf mehreren Ebenen

"Der Sieg war auch in der Höhe verdient", scherzte Zorc später in der Mixed Zone. Wenn der sonst so nüchternde Zorc zu solchen Späßen aufgelegt ist, ist klar: Der Einzug ins Finale hat für den BVB eine heilende Kraft, die auf mehrere Ebenen wirkt.

Alleine die Qualifikation für das Endspiel und die Aussicht auf einen Titel rückt die Saison in ein besseres Licht, der dramatische Triumph über den sportlichen Erzrivalen der vergangenen Jahre ist dazu eine gelungene Revanche für die bittere Pleite im Finale 2014. Und: Die Qualifikation für den internationalen Wettbewerb ist keine drei Monate, nachdem die Borussia Tabellenplatz 18 belegte, jetzt nur noch einen Sieg entfernt.

In Dortmund wissen sie nun: Die Nordstadt kann freigeräumt werden, Klopps Traum vom Lasterfahren um den Borsigplatz hat scharfe Konturen angenommen. Das Finale in Berlin wird Klopps letztes Spiel an der Seitenlinie der Schwarzgelben sein, eine Woche zuvor findet die offizielle Verabschiedung im heimischen Stadion statt.

Laute Gesänge in der Kabine

Doch dieser letzte Auftritt im Signal Iduna Park wird trotz der Möglichkeit, die Europa League bereits vor dem Endspiel klar zu machen, in seiner Emotionalität von Berlin getoppt werden. Nur dort ist die Endgültigkeit vom Ende der Klopp-Ära greifbar: Letztes Spiel, letzter möglicher Titel.

Das Szenario, dass Klopp nach der Rückkehr aus der Hauptstadt ein weiteres, letztes, großes Mal gefeiert wird, ist auf einmal realistisch - womöglich selbst bei negativem Spielausgang. Und wenn er alleine mit dem LKW im Kreis fährt.

So weit in die Zukunft wollte Zorc dann aber nicht schauen. Er genoss stattdessen sichtlich den Moment. Man hat die Dortmunder schon lange nicht mehr so gut aufgelegt und ausgelassen gesehen wie am Dienstagabend im Bauch der Allianz Arena. Wie gut dies der in dieser Saison so oft kritisierten Mannschaft tat, war unüberhörbar. Laute Gesänge waren aus dem Kabinentrakt zu vernehmen, die Spieler kamen erst weit nach Mitternacht aus ihrem geschützten Bereich.

Reus und Auba mit Musikbox unterm Arm

"Entschuldigung", sagte Klopp für die Lautstärke, die seine Truppe verursachte. Der Schutzpanzer des Trainer war gelockert, entgegen seiner Gepflogenheiten ließ er sich auch noch zu einigen Statements außerhalb der offiziellen Pressekonferenz hinreißen.

"Das war großes Tennis", so der Coach, "wir haben diese Saison nicht viel Grund gehabt, uns zu freuen. Wir haben es den Leuten in dieser Saison nicht leicht gemacht, oft glücklich zu sein. Wir haben in der Kabine Bilder gesehen, was in Dortmund heute los war. Man muss das schon auch mal kurz feiern. Das ist ein spezieller Tag."

Dann wurde Klopp von donnernden Bässen übertönt. Marco Reus und Pierre-Emerick Aubameyang liefen an ihm mit einer lauten Musikbox unter dem Arm schnurstracks vorbei in Richtung Mannschaftsbus. Klopp lachte herzhaft - und ließ hinsichtlich des möglichen Endspiels gegen den VfL Wolfsburg eine letzte Pointe los: "Das Stadion wird überwiegend gelb sein, wenn VW nicht dem ganzen Werk frei gibt. Das wird ein großer Tag."

Bayern - Dortmund: Daten zum Spiel

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