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Zukunft schlägt Gegenwart

Von Max Marbeiter
Luol Deng (r.) gilt als Lieblingsschüler von Bulls-Coach Tom Thibodeau
© getty

Luol Dengs Abschied aus Chicago leitet einen Paradigmenwechsel bei den Bulls ein. Die Saison ist offiziell abgehakt, der alte Kern Geschichte. Mit neuen Assets und mehr Flexibilität unter dem Salary Cap soll ein neuer Contender aufgebaut werden. Die Voraussetzungen stimmen, doch es gibt Unwägbarkeiten.

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Einige Entscheidungen gehen weit über ihre unmittelbaren Konsequenzen hinaus. Erst ein Schritt zurück gewährt den Überblick über das große Ganze. Allein deshalb muss im Falle des Trades zwischen den Chicago Bulls und den Cleveland Cavaliers immer der Gesamtkontext im Blick behalten werden. Gerade aus Sicht des sechsmaligen Champions.

Denn der Wechsel von Luol Deng beraubt die Bulls nicht nur ihres nach Derrick Rose' erneutem Saisonaus besten Spielers, er signalisiert auch einen Richtungswechsel in der Windy City. Einen Richtungswechsel, den nicht wenige den Bulls nahegelegt hatten, nachdem die Saisonziele abermals an den Knien ihres Franchiseplayers gescheitert waren. Nur hatte wohl kaum einer erwartet, dass das Front Office am Ende tatsächlich einen derart schmerzhaften Schritt wagen würde.

Schließlich verlässt mit Deng der erste Spieler jenes Teams Chicago, das eigentlich die erste Meisterschaft seit Michael Jordan gewinnen sollte. In gewissem Sinne kommt der Trade also einem Eingeständnis gleich. Augenscheinlich ist man zu dem Schluss gekommen, dass die Kombination aus altem Kern und fehlender Cap-Flexibilität keinen Championship-Run mehr zulässt.

Bester verbliebener Spieler gegen Draftpicks

Keine angenehme Erkenntnis - noch dazu eine, zu der die Bulls offenbar erst einmal gezwungen werden mussten. Noch vergangene Woche sollen sie dem angehenden Free Agent nämlich 30 Millionen Dollar für drei Jahre angeboten haben. Deng lehnte jedoch ab und spielt deshalb ab sofort an der Seite von Kyrie Irving. Im Tausch erhält Chicago einen geschützten First-Round Pick sowie zwei Second-Round Picks, 2015 zudem die Möglichkeit, die Draftposition mit den Cavs zu tauschen, sollten diese nicht mindestens an Nummer 14 ziehen dürfen - und natürlich Andrew Bynum.

Dass die Bulls den Center behalten würden, stand jedoch zu keinem Zeitpunkt zur Debatte. Bynums Wert, oder vielmehr der Wert seiner Entlassung, lässt sich einzig und allein von der Gehaltsliste ablesen. So entließ Chicago den Ex-Laker kurz nach Abwicklung des Trades, spart sich damit bis zum Saisonende 12,3 Millionen Dollar und liegt (endlich) unterhalb der Luxury-Tax-Grenze.

Die Intention ist damit klar: Zukunft schlägt Gegenwart. Zumal der Trade mit Cleveland auch noch einen direkten Playoff-Konkurrenten - die Cavs (Rang 13) liegen nur drei Siege hinter den Bulls (Rang 6) - stärkt. Den Bulls deshalb gleich zu unterstellen, sie würden skrupellos auf den Tanking-Zug aufspringen, wäre dennoch zu weit gegriffen. Allerdings lassen die Aktivitäten vermuten, dass man ein Verpassen der Playoffs diesmal durchaus billigend in Kauf nimmt, um sich für die Zukunft besser aufzustellen.

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Optimalfall: Zwei First-Round Picks 2014

Schließlich besäße Chicago im "Optimalfall" gleich zwei First-Round Picks - und das im so gehypten 2014er Draft. Neben dem eigenen dürfen die Bulls nämlich auf Charlottes Pick hoffen. Der ist zwar Top-10-protected, sollten die Bobcats in die Playoffs einziehen - angesichts der nicht vorhandenen Leistungsdichte im Osten kein utopisches Szenario - wandert er allerdings gen Windy City.

Ob die Bulls beim Gedanken, Derrick Rose mit Jabari Parker Chicagos zweiten Hometown-Hero an die Seite zu stellen, feuchte Augen bekommen, weiß niemand. Die Möglichkeit besteht sicherlich, sich darauf zu verlassen wäre allerdings fahrlässig naiv. Auf der anderen Seite muss es auch nicht immer der nächste Superstar sein. Mit ein wenig Geschick lassen sich diesmal auch ohne Top-Pick wertvolle Assets verpflichten, die dem Team direkt weiterhelfen können.

Ohnehin dürfte sich der Deal für Chicago auch ohne die Perspektive Draft gelohnt haben. Auf kurze Sicht allein, da Rookie Tony Snell, von dem die Bulls offenbar eine Menge halten, nun noch häufiger auf dem Feld steht und sich ohne den ganz großen Druck beweisen kann. Gegen die Suns, in Spiel eins nach Luol Deng, dankte er 20 Minuten Spielzeit schon mal mit 12 Punkten und starken Quoten (5/7 FG, 2/3 3FG).

Kommt Mirotic im Sommer?

Und auch mit Blick auf dem Sommer eröffnen die frei gewordenen Dollars einige Optionen. Optionen, die in diesem Ausmaß vorher sicherlich nicht vorhanden waren. Höchste Priorität dürfte die Verpflichtung von Nikola Mirotic haben. Bereits seit 2011 halten die Bulls die Draft-Rechte des Big Man. Aufgrund seines Vertrags mit Real Madrid hatten sie bislang jedoch keine Möglichkeit, den vielleicht besten Spieler der Euroleague in die NBA zu holen.

Da Mirotic nun jedoch nicht mehr unter die Rookie-Regelung fällt und somit besser bezahlt werden darf, kann Chicago das gesparte Geld nutzen, um ihm den Wechsel heraus aus der Wohlfühloase Madrid schmackhaft zu machen. Der vielseitige Vierer stünde dem Nukleus aus Rose, Jimmy Butler, Joakim Noah und Taj Gibson sicherlich gut zu Gesicht. Allein, zum Contender würden die Bulls dadurch nicht.

Auch deshalb dürfte Deng nicht der letzte aus dem aktuellen Roster sein, der Chicago demnächst verlassen muss. Heißester Kandidat ist - natürlich - Carlos Boozer. 16,8 Millionen Dollar schulden die Bulls dem Power Forward für die kommende Saison. Zu viel, schließlich läuft die "Booz-Cruise" wesentlich seltener aus als bei der Verpflichtung 2010 erhofft.

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Boozer wohl das nächste Opfer

Deshalb gilt es ligaweit als offenes Geheimnis, dass Boozer nach Saisonende der Amnesty-Klausel zum Opfer fällt, sollte sich nicht noch ein Trade-Partner finden. Selbst John Paxson kommt kein klares Bekenntnis zum Vierer über die Lippen: "Jeder weiß, dass wir diese Möglichkeit noch besitzen. Wir werden darüber entscheiden", erklärt der Vize-Präsident, möchte allerdings gleichzeitig einige Dinge richtiggestellt sehen.

"Carlos ist manchmal unfairer Kritik ausgesetzt. Wenn ein Spieler in den letzten drei vier Jahren täglich trainiert, fast jedes Spiel absolviert hat und mit einer positiven Einstellung zum Training erschienen ist, war das Carlos. Er war gut für unser Team und unsere Jungs. Solche Dinge beachten wir natürlich."

Am Ende dürften sie allerdings kaum dazu führen, dass auch kommende Saison ein lang gezogenes "Booooooz" durchs United Center hallt. Die Hoffnung, endlich einen namhaften Free Agent von Chicago zu überzeugen, ist einfach zu groß. Natürlich müssten die Bulls noch weiteres Gehalt einsparen, gelingt dies, bieten sich jedoch einige Varianten an.

Melo als Option?

So fällt der Name Carmelo Anthony beispielsweise immer wieder im Zusammenhang mit dem sechsmaligen Champ. "Melo?", werden einige Fragen. Etwa derselbe Melo, der jede Offense durch seine Vorliebe für den eigenen Wurf zum Erliegen bringen kann, der noch dazu nicht gerade als herausragender Verteidiger verschrien ist?

Genau der. Schließlich gäbe es in Sachen Defense wohl keinen besseren Coach als Tom Thibodeau, der bereits in der Vergangenheit bewiesen hat, dass er durchschnittliche Verteidiger in ein funktionierendes Gebilde integrieren kann, ohne es zum Einsturz zu bringen. Zudem staunt man in Oakland gerade, dass die Warriors mit einem Defensive Efficiency Rating von 98,3 trotz der beiden schwachen Individual-Verteidiger Steph Curry und David Lee die vierteffektivste Defense der Liga stellen.

Mit Blick auf die Offense lohnt dazu ein Rückblick auf die Olympischen Spiele von London. Dort war Melo nie erste Option, glänzte allerdings regelmäßig als potenter, vor allem aber effektiver Scorer. Vielleicht benötigt er einfach einen weiteren Star neben sich, vielleicht liegt ihm sogar die Rolle der zweiten Option. Wahrscheinlich würde ein Duo Rose/Melo deshalb durchaus funktionieren. Zumal Anthony seinen Point Guard vorne definitiv entlasten würde und den Bulls endlich die so sehr vermisste zweite Scoringoption böte.

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Keine endlose Flexibilität

Es erscheint also keinesfalls unmöglich, dass man in Chicago von einer Starting Five aus Rose, Butler, Melo, Mirotic und Noah träumt. Ob die Bulls am Ende tatsächlich eine Anthony-Verpflichtung in Erwägung ziehen, bleibt dagegen abzuwarten. Bereits kommende Saison zahlt Chicago allein Rose, Noah, Gibson, Butler, Snell und Teague 43,7 Millionen Dollar. Bei einem Salaray Cap von ca. 61,2 Millionen Dollar. Um Melo tatsächlich zu verpflichten, müsste also weiteres Gehalt eingespart werden. Ein Deal wird da nicht gerade wahrscheinlicher.

Möglicherweise unternehmen die Bulls deshalb einen Anlauf bei Lance Stephenson. "Born Ready" wird ebenfalls Free Agent, wie groß seine Bereitschaft ist, die Pacers zu verlassen, muss sich jedoch zeigen. Speziell, da Indiana die Millionen aus Danny Grangers auslaufendem Vertrag direkt in Stephensons neuen Kontrakt investieren könnte.

Trade bringt Probleme

Greifbar ist der Impact des Trades auf den Erfolg der Bulls zunächst also nicht. Die Probleme dafür umso mehr. So machte Tom Thibodeau nie einen Hehl aus seiner Bewunderung für Luol Deng und dessen Spiel. Freude über den Deal sollte man beim Coach also nicht erwarten. "Ich hatte die Möglichkeit, meine Meinung kundzutun. Ihr Job ist, finanzielle und Roster-Entscheidungen zu treffen. Mein Job ist, die Jungs zu coachen, die hier sind. So läuft das", so der Coach. "Wir haben darüber gesprochen und dabei möchte ich es belassen."

Zwar wolle er professionell damit umgehen, allerdings dürfte sich das Verhältnis zum Front Office, das spätestens seit dem umstrittenen Abgang von Thibodeaus hochgeschätztem Assistenten Ron Adams im Sommer als sehr belastet gilt, durch Dengs Verlust nicht gerade verbessert haben.

Auch das implizierte Abschenken der Saison will so überhaupt nicht in die Philosophie des Coachs passen. Unter Thibodeau haben sich die Bulls schließlich zu einer immer kämpfenden Einheit entwickelt. Sie geben keinen Rebound, keinen Ball verloren, holen immer das letzte aus sich heraus. Die Vokabel "aufgeben" fehlt im vom Coach bei Amtsantritt ausgehändigten Duden eigentlich völlig. So bleibt die Frage, wie Thibodeau mit der Situation umzugehen gedenkt. Ob er, wie das Management, die Zukunft im Auge hat oder sich durch dessen Entscheidungen zu einem Wechsel gedrängt fühlt.

Team ist geschockt

Und was ist eigentlich mit der Mannschaft? Deng galt als wichtiger Faktor für die Teamchemie. "Es ist hart. Wir haben unseren besten Spieler verloren und unser Topscorer wurde getradet", sagt beispielsweise Kirk Hinrich. "Das ist schon eine große Sache. Lu war so lange hier und hatte eine großartige Beziehung mit jedem im Team, der Organisation, der Community. Wir werden ihn vermissen."

Jimmy Butler beschrieb das Gefühl, die Routine vor dem Spiel gegen Phoenix ohne Deng zu starten, als "komisch." Joakim Noah, einer der besten Freunde des Briten, wollte sich gleich gar nicht äußern. Das Team scheint geschockt zu sein, zeigte gegen die Suns aber die Bulls-typische Reaktion und gewann.

Sollten es das auch weiter tun, dürfen die Bulls ihre Hoffnungen auf einen Top-Pick schnell begraben. Nicht umsonst erscheint ein Playoff-Platz im Osten derzeit leichter zu erreichen als ein Platz in der Lottery. Läuft es ganz schlecht und die Kings sträuben sich weiter standhaft, ihr Potential endlich zu nutzen, würde aus dem geschützten First-Round- 2017 schnell ein Second-Round Pick.

Sicher ist trotz der guten Ausgangslage also nichts mehr in der Windy City. Dennoch hat der Trade den Bulls die Chance zu einem schnellen, sanften Rebuild geliefert. Mit einem Nukleus aus Derrick Rose, Jimmy Butler, Joakim Noah und Taj Gibson plus einer Vielzahl an Draftpicks lässt sich jedenfalls bestens arbeiten. Da lassen sich auch unbequeme Entscheidungen verschmerzen.

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