Das spannendste Projekt der NBA

Haruka Gruber
31. Januar 201318:58
Dirk Bauermann analysiert für SPOX die Taktiken der Knicksspox
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Die New York Knicks sind ein taktisches Faszinosum: Wie wurde Carmelo Anthony zum MVP-Kandidaten? Was macht Amare Stoudemire und ist er der überflüssigste Superstar der Liga? Und wieso kommt es zur Guard-Inflation? Zum Start der neuen monatlichen Serie "Bauermanns Playbook" analysiert der Ex-Bundestrainer und neue polnische Nationalcoach Dirk Bauermann die Knicks.

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Teil I: Wie Anthony zum MVP-Kandidaten wurde

Die Wandlung vom Superstar - zum Superstar? Carmelo Anthony gehörte in letzten Jahren beständig zu den fünf besten Basketballern des Planeten, nur es ging ihm etwas ab, das Weltklassespieler zu MVP-Kandidaten macht: Gemeinsinn.

"Melo ist diese Saison definitiv ein anderer Basketballer, weil er mit einer viel größerer Bereitschaft den Ball passt und für sich selbst viel weniger forciert. Er wurde zu einem kompletten Mannschaftsspieler und hilft so den Teamkollegen: Diese bekommen leichtere Würfe und so findet die Mannschaft als Ganzes schneller ihren Rhythmus", sagt Dirk Bauermann.

Diese Uneigennützigkeit von Melo erlaubte es Coach Mike Woodson, seinem talentiertesten Spieler eine neue Position zuzuweisen. Bis zuletzt war Anthony das Exempel des klassischen Small Forwards, doch seit dieser Saison steht er als Power Forward in der Starting Five und spielt so gut wie noch nie (Career-High mit 29,1 Punkten).

Dabei auffällig: Weiterhin definiert sich Melo primär über das Scoring, aber wenn er näher in Korbnähe agiert und daher vom Gegner eher gedoppelt wird, gibt er den Ball raus, um den Mitspielern freie Würfe zu verschaffen. Dass er dabei in der Regel nur den einleitenden Pass gibt und nur selten den direkten Assist zugeschrieben bekommt (siehe Diashow), scheint ihn weniger zu stören. Mit 2,7 Assists gibt er so wenige Vorlagen wie seit der Saison 2005/06 nicht mehr. "Woodson hat es ganz offensichtlich geschafft, einen besonderen Zugang zu Melo zu finden", sagt Bauermann.

Wenn der Gegner wiederum aus Furcht vor Melos Passfähigkeiten auf das Doppeln verzichtet, bestraft es dieser auf vielfältigste Weise. Per Post-Move, Drive, Mitteldistanzwurf, Dreier. Nicht verwunderlich, dass Boston-Coach Doc Rivers in Melo den hinter Kevin Durant komplettesten Scorer der NBA sieht. Beim Sieg über Orlando stellte er mit dem 30. Spiel in Folge mit mindestens 20 Zählern einen neuen Franchise-Rekord auf.

Bauermann: "Melo besitzt eine Variabilität, die auf der Power-Forward-Position noch besser zur Geltung kommt: Schnelle, aber dafür weniger physische Gegenspieler nimmt er nach innen in Korbnähe und postet auf. Physische, aber dafür weniger schnelle Gegenspieler nimmt er nach außen." Daher ist die Isolation für Anthony (siehe Diashow) auch einer der am meisten genutzten Spielzüge der Knicks.

Unabdingbar für New Yorks erfolgreiche Saison (Platz zwei im Osten) ist die zugleich nicht herausragende, trotzdem ordentliche Verteidigung von Melo. Obwohl die Gegner gelegentlich Angriffe über einen besonders bulligen Power Forward laufen lassen, um Anthony zu entblößen, hält sich dieser wacker. "Er ist sehr kompakt und physisch stark, das wird unterschätzt", sagt Bauermann. Außerdem seien die Verteidigungs-Taktiken der Knicks so ausgefeilt, dass Melo von verschiedenen Positionen unterstützt werde. "Vor allem Tyson Chandler ist als defensiver Anker unverzichtbar, um Melo abzusichern."

Nur: Wenn Chandler auf der Bank verschnauft, geht den Knicks allzu oft die Ordnung verloren. So zu sehen in der Diashow: Atlanta sucht gezielt das Duell Josh Smith gegen Anthony. Smith postet auf im sicheren Wissen, dass ein Mitspieler Melo zur Hilfe eilt. Diese Konfusion nutzt Smith, nimmt kurz den Kopf hoch, sieht den freien Dreierschützen - Treffer.

Teil II: Die Wiedergeburt des Jason Kidd

Teil III: New Yorks Guard-Rotation

Teil IV: Stoudemire - Der übeflüssigste Superstar der NBA?

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Teil II: Die Wiedergeburt des Jason Kidd

Die Knicks als das taktische Faszinosum - nicht nur wegen Melo und dessen Hybridrolle aus Power Forward und Small Forward, sondern auch wegen Jason Kidd. "New York ist interessant zu beobachten, weil an ihrem Spiel die Weiterentwicklung des Basketballs zu sehen ist", sagt Bauermann.

"Neben der Position des Power Forwards hat sich vor allem die Position des Shooting Guards am meisten verändert. Der Urtypus wie Reggie Miller, der vor allem aus dem Catch-and-Shoot operiert, gibt es kaum mehr. Heutzutage müssen die Shooting Guards Qualitäten eines Point Guards mitbringen. Sie müssen ein gutes Ballhandling mitbringen und Pick'N'Roll-Situationen auflösen können."

Jason Kidd erfindet sich neu

Daher entschlossen sich Kidd und Coach Woodson zu einer ungewöhnlichen wie sinnvollen Umpositionierung. Kidd, seit fast 20 Jahren der Inbegriff des Floor Generals, verantwortet nur noch vereinzelt den Ballvortrag und überlässt diese Aufgabe sogar Shooting Guards wie J.R. Smith oder Combo-Guards wie Iman Shumpert. Stattdessen übernimmt er erst den Ball und gibt die Anweisungen, wenn das Setplay im Half Court beginnt. Bauermann: "Der Vorteil liegt auf der Hand: Kidd muss sich nicht um den Ballvortrag kümmern und kann dann im Setplay ausgeruht die Pick'N'Roll-Situationen laufen, so wie es Panathinaikos Athen seit Jahren mit Dimitrios Diamantidis vormacht."

Eine andere Variante: Kidd beschränkt sich in einigen Angriffen komplett darauf, als Spot-Up-Shooter in der Ecke auf den Pass zu warten und den Dreier zu nehmen. In dieser Saison trifft Kidd 41,1 Protent aus der Distanz. "Faszinierend, wie Kidd in hohem Alter als Basketballer noch einmal an einer Schwäche gearbeitet und sich einen guten Dreipunkt-Wurf angeeignet hat", sagt Bauermann.

Besonders wirkungsvoll ist Kidd auf der Shooting-Guard-Position, wenn Schnellangriffs-Situationen entstehen. Nach einem Fehlwurf des Gegners hat New York neben dem Point Guard mit Kidd einen zweiten Spieler, der dank seiner Übersicht den Fast Break sofort einleiten kann. Häufig zu beobachten: Kidd, ohnehin einer der besten Rebounder aller Zeiten unter den Guards, bekommt den Abpraller und blickt sofort nach vorne, um die zum gegnerischen Korb stürmenden Flügelspieler einzusetzen.

Ein Manko allerdings: Kidd verleiht der Knicks-Offense eine Unberechenbarkeit, doch in der Verteidigung fehlt ihm der erste Schritt, um die teils wesentlich schnelleren Gegenspieler vor sich zu halten. "Kidd bedeutet ein defensives Risiko, keine Frage", sagt Bauermann. Dieses Risiko sei aber vertretbar: "Man sollte Kidd nicht unterschätzen: Er hat weiterhin die besten Hände der Liga und die seitliche Beweglichkeit ist immer noch sehr gut. Und als einer der intelligentesten und erfahrensten Spieler kompensiert er die athletischen Defizite mit einem cleveren Stellungsspiel."

So zu sehen bei der knappen Niederlage bei den Lakers am 25. Dezember. In der spannenden Endphase übernahm Kidd die Bewachung des 5 Zentimeter größeren Kobe Bryant und erschwerte diesem derart das Scoring, dass die Knicks das Spiel fast noch gewonnen hätten.

Teil I: Wie Anthony zum MVP-Kandidaten wurde

Teil III: New Yorks Guard-Rotation

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Teil III: New Yorks Guard-Rotation

Nicht nur wegen Kidd haftet New Yorks Backcourt etwas Exotisches an. Denn: Kein NBA-Team spielt derart Guard-fixiert wie die Knicks. In der Regel laufen in der Starting Five drei native Aufbauspieler auf, wenn man neben Raymond Felton und Kidd den nach langer Verletzung zurückgekehrten Combo-Guard Iman Schumpert als Einser zählt.

Zumal von der Bank J.R. Smith, Pablo Prigioni und mit Abstrichen James White viele Minuten erhalten. Nimmt man Scharfschütze Steve Novak, der wegen seinen 2,08 Metern zwar als Forward geführt wird, und Swingman Ronnie Brewer hinzu, stehen in der 12er-Rotation häufig 8 Spieler mit Guard-Charakteristika.

"Was mir besonders gefällt, ist das Facettenreichtum im Backcourt. Die Spieler interpretieren ihre Positionen nicht gleich, sondern jeder bringt eine neue Dimension ein", sagt Bauermann. Raymond Felton ist ein Vertreter des modernen NBA-Spielmachers: schnell, athletisch, stark im Scoring. Kidd wiederum personifiziert die Pass-First-Attitüde eines Magic Johnson und bildet mit Feltons Backup Pablo Prigioni, dem 35-jährigen Rookie aus Argentinien, die Antipode zu Felton.

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Smith, der gewissenlose Shooter vergangener Tage, verbessert sich dank des Einflusses von Kidd, nimmt mehr am Teamplay teil und verantwortet sogar den Spielaufbau mit. Shumpert ist ein Versprechen für die Zukunft als variabler Combo-Guard, während White und Brewer Athletik sowie Novak den vielleicht besten Dreipunktwurf der Liga einbringen.

Aus der Ansammlung an unterschiedlichsten Spielertypen stellt sich Coach Woodson je nach Gegner das ideale Lineup zusammen: Geht es ihm um eine strukturierte Offensive, stehen Kidd und Prigioni zusammen auf dem Court. Will Woodson schnell spielen lassen, kommen Felton, Smith und Brewer. Benötigt New York Gefahr von außen, bietet er Smith, Kidd und Novak auf.

Bei all den Vorzügen bleibt jedoch ein Nachteil: Durch die Vielzahl an Guards und Anthonys Versetzung auf die Power-Forward-Position ist die Aufstellung oft sehr klein. Umso wichtiger die Rolle von Center Tyson Chandler, dem heimlichen MVP der Knicks.

Bauermann: "Es hilft New York ungemein, jemanden unter dem Korb zu wissen wie Tyson, der vieles ausbügelt und selbstlos Help Defense spielt. Ohne seine Präsenz würden die Knicks in der Verteidigung in richtige Probleme geraten." Und womöglich nicht nur dort: Auch in der Offense kommt Chandler als bevorzugter Pick'N'Roll-Partner von Kidd und Prigioni eine große Verantwortung zu (siehe Diashow).

Teil I: Wie Anthony zum MVP-Kandidaten wurde

Teil II: Die Wiedergeburt des Jason Kidd

Teil IV: Stoudemire - Der übeflüssigste Superstar der NBA?

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Teil IV: Stoudemire - Der übeflüssigste Superstar der NBA?

Die dreiköpfige Hydra: Im letzten Spiel bezwang New York mühelos Orlando, weil sich die Magic überfordert zeigten von der schieren Wucht der Knicks. Chandler (21 Punkte) und Melo (20) trafen nach Belieben und bekamen Unterstützung von Amare Stoudemire, der von der Bank kommend alle 7 Würfe für 14 Zähler verwandelte.

"Wenn wir zu dritt auf dem Court stehen, passieren offensiv und defensiv gute Sachen", sagt Anthony. Und doch stellt sich eine Grundsatzfrage nach Stoudemires Perspektive. Sein Selbstverständnis und sein Salär sind die eines Franchise Players - allerdings bleibt er bei aller Effizienz ein Reservist. "Seine Statistiken sind akzeptabel gemessen an den Einsätzen, aber klar ist auch: Er passt nicht hundertprozentig in die auf Ball Movement beruhende Philosophie der Knicks. Er ist ein bisschen wie das fünfte Rad am Wagen", sagt Bauermann.

Denn: So überzeugend er als Sixth Man spielt (12,6 Punkte und 4,3 Rebounds in 22,3 Minuten), ist es angesichts des erfolgreichen Saisonverlaufs schwer vorzustellen, dass Coach Woodson ihn als Power Forward in die erste Fünf bringt und Anthony als Small Forward zurückzieht. Bauermann: "Ich fand Stoudemire als Power Forward immer überbewertet, weil sein Entscheidungsverhalten nicht besonders ausgereift ist und er zu sehr auf eigene Rechnung spielt und die Defense vernachlässigt."

Vielmehr ist er in der jetzigen Rolle wesentlich wertvoller: Als Energizer von der Bank, der zwischen der Center- und Power-Forward-Position pendelt und die gegnerische Second Unit überpowert, sei es durch seine Schnelligkeit oder durch seine neu gelernten Post-Moves. (siehe Diashow).

"Ich sehe Stoudemire am besten, wenn er als Center an der Seite eines vielseitigen Vierers wie Shawn Marion damals in Phoenix und jetzt Anthony in New York aufläuft. Er ist für einen Fünfer unglaublich beweglich, daher ist das seine eigentliche Position", sagt Bauermann. Die Krux: Auf der Fünf spielt mit Chandler der neben Anthony unverzichtbarste Spieler der Knicks.

Demnach verbleibt Stoudemire womöglich bis zum Saisonende auf der Bank. Aber immerhin, merkt Bauermann an: "Anders als früher geht er offenbar sehr professionell mit der Situation um. Das ist ein Verdienst vom Coach und auch von ihm selbst. Das ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis."

Teil I: Wie Anthony zum MVP-Kandidaten wurde

Teil II: Die Wiedergeburt des Jason Kidd

Teil III: New Yorks Guard-Rotation

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