Mersad Selimbegovic von Jahn Regensburg im Interview: "Sie wissen gar nicht, zu was Sie im Krieg imstande sind"

Mersad Selimbegovic ist seit 2019 Trainer von Jahn Regensburg in der 2. Liga.
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Hier sind Sie auch wieder auf Ihren Vater getroffen. Wie lange hatten Sie ihn nicht gesehen?

Selimbegovic: Fünf Monate. Wir wussten zwischenzeitlich nicht, wie es ihm geht und hörten immer nur im Radio, wie bei ihm vor Ort die Lage ist und sich die Kämpfe entwickelten. Ob oder wann er aber wiederkommt, war völlig unklar. Ich war an dem Tag in der Umgebung draußen spielen. Auf einmal rannte ein Junge völlig außer Atem auf mich zu und sagte: Dein Vater ist da! Ich dachte erst, er will mich veräppeln, aber es stimmte. Als ich ihn wiedersah, habe ich stundenlang geweint.

Haben Sie auf der Flucht daran gedacht, wie ungerecht es ist, dass die Menschen wenige hundert Kilometer weiter westlich ein friedliches Leben führen können?

Selimbegovic: Nein. Ich habe nicht mit meinem Schicksal gehadert. Auch nicht damit, dass wir theoretisch schon vor dem Krieg nach Deutschland hätten kommen können. Mein Opa war seit 1974 in Düsseldorf, einige andere Familienmitglieder seit 1988 in München. Meine Eltern haben damals entschieden, nicht mitzugehen. Wir wussten, dass es ihnen gutging, denn wir haben von ihnen alle drei, vier Wochen Pakete zugeschickt bekommen. Das war jedes Mal wie Weihnachten.

Hatten Sie auf der Flucht die Hoffnung, dass Sie irgendwann wieder Ihr gewohntes Leben zurückbekommen?

Selimbegovic: Die hatte ich jeden Tag. Eines Tages, wenn alles vorbei und überstanden ist, werde ich dies und dies und dies machen - daran habe ich ständig gedacht.

Ab wann war die Bedrohung vorüber und wie haben Sie anschließend gelebt?

Selimbegovic: Nachdem mein Vater zurückkam, haben wir nur 500 Meter von der Tante entfernt ein leerstehendes Haus gefunden. Dort lebten wir von April 1993 bis August 1996. Danach sind wir nach Sarajevo gezogen. Der Arbeitgeber meines Vaters hat ihm dort eine Wohnung angeboten. Doch ab Mai 1993 verlagerte sich der Krieg mehr in den Süden - und das haben wir leider auch sehr gespürt.

Inwiefern?

Selimbegovic: Jeden Abend warfen die Flugzeuge eineinhalb Tonnen schwere Pakete herab. Man wusste nie, was drin war. Da mein Vater weiter als Soldat eingebunden war, bin ich immer mit meinen Kumpels auf die Jagd gegangen. Man wusste ungefähr, wo die Pakete landen, aber musste schnell sein. Dort war auch stets Polizei, die die Lieferungen beschützt hat, damit alles gerecht verteilt wird. Im Krieg lernt man jedoch schnell, dass es keine Gerechtigkeit dieser Art gibt. Wenn man Erwachsene erwischte, die dort plünderten, wurden sie für ein paar Tage verhaftet. Kinder bekamen nur eine Ohrfeige und wurden wieder laufengelassen.

Seit 2019 ist Mersad Selimbegovic Cheftrainer von Jahn Regensburg.
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Seit 2019 ist Mersad Selimbegovic Cheftrainer von Jahn Regensburg.

Wie oft hat man Sie erwischt?

Selimbegovic: Kein einziges Mal. Einmal hatte ich Glück und habe 25 Kilogramm getrocknete Feigen mit nach Hause gebracht. Das war eine Delikatesse. Ich weiß aber auch noch, wie ich zwei Säcke schnappte und mich wunderte, dass die so leicht waren. Darin waren Stofftiere. Ich war stinksauer, weil ich damals nicht verstand, was man im Krieg damit anfangen sollte.

War der Zusammenhalt unter anderen Flüchtlingen groß?

Selimbegovic: Nicht immer und nicht mit allen. Manche ältere Jugendliche waren schlau, die haben am Ortseingang gewartet und uns die Beute abgenommen. Wir mussten also nicht nur vor der Polizei flüchten, sondern uns auch unbemerkt in den Ort schleichen. Das war große Kunst.

Ihre Familie soll später in Sarajevo ein zweites Mal alles verloren haben. Was war geschehen?

Selimbegovic: Mein Bruder setzte unsere Wohnung in Brand. Wir hatten einen Ofen, da die Zentralheizung nach dem Krieg nicht funktionsfähig war. Er war allein zu Hause und das Feuer ließ nach. Auf dem Balkon fand er einen Benzinkanister, den mein Vater für seine Kettensäge benutzte. Als er das Benzin in den Ofen kippte, fing der Kanister Feuer und er schmiss ihn vor Schreck weg. Die Wohnung brannte komplett aus.

Wo waren Ihre Eltern und Sie zu dem Zeitpunkt?

Selimbegovic: Ich kam gerade von der Nachmittagsschule nach Hause und sah in unserem zweiten Stock kein Licht brennen, obwohl eigentlich jemand zu Hause hätte sein müssen. Plötzlich sah ich, wie die Feuerwehr ihre Sachen einpackte. Meine Eltern waren zum Glück oben bei den Nachbarn. Sie standen unter Schock, da sie nicht wussten, ob ich auch wirklich in die Schule gegangen war oder vielleicht noch in der Wohnung. Wir haben sie dann dank vieler helfender Hände innerhalb eines Monats wieder bezugsfertig gemacht.

Heute sind Sie der Einzige Ihre Familie, der nicht mehr in Bosnien lebt. Wie sehr ist der Krieg von damals bei Ihrer Familie in Regensburg ein Thema?

Selimbegovic: Er ist es immer und immer wieder. Der Krieg wurde zwar gestoppt, aber die Verhältnisse und die Situation in Bosnien sind weit davon entfernt, wirklich gut zu sein. Erst im Januar gab es wieder eine kritische Entwicklung, die NATO hat beispielsweise weitere Truppen installiert. Dort steht der Frieden auf wackligen Beinen.

Sind Sie denn als Vater gegenüber Ihren Söhnen eher streng oder spendabel?

Selimbegovic: Wahrscheinlich zu streng, aber ich hoffe, dass es ihnen hilft. Ich will, dass sie sich viele Dinge selbst erarbeiten. Sie sollen das, was sie haben und bekommen, nicht als selbstverständlich erachten. Das formt ihre Persönlichkeit, da bin ich mir zu 100 Prozent sicher. Darüber diskutiere ich auch mit meiner Frau, denn sie verbringt die meiste Zeit mit ihnen und hat die längere Leine. Manchmal sagt sie zu mir: Du bist hier nicht auf dem Fußballplatz, es läuft nicht alles nach deinem Matchplan. (lacht) Ich bleibe meiner Linie aber treu.

In Ihrem Job verdienen Sie gutes Geld. Was bedeuten Luxus und Wohlstand für Sie?

Selimbegovic: Nicht viel. Ich unterstütze verschiedene Menschen mit dem, was ich habe. Ich habe für meine Eltern einen kleinen Bauernhof aufgebaut, auf dem sie ihr Leben genießen können. Mein Vater bekommt eine Rente von nur 180 Euro im Monat. Ich leiste mir maximal einen schönen Urlaub. Wobei der im Sommer, da war ich zum ersten Mal für einen längeren Zeitraum wieder in meinem Heimatort, recht günstig war.

Die Corona-Pandemie hat rein gar nichts mit einem Krieg zu tun, ist aber ebenso eine Ausnahmesituation. Sie fordert von den Menschen viel Solidarität, Rücksicht und Verständnis, damit dem Gemeinwohl gedient ist. Wie blicken Sie darauf, gelingt das?

Selimbegovic: Unsere Gesellschaft hat es im Großen und Ganzen sehr solide gemeistert. Ich hoffe nur, dass sie nicht mehr so lange dauert. Das persönliche wie gegenseitige Rücksichtnehmen ist endlich und kann in Gleichgültigkeit umschlagen. So war es auch im Krieg: Anfangs hat sich jeder vor allem noch versteckt. Nach eineinhalb Jahren betraten manche Leute aber Gebiete, obwohl sie ein Schild mit der Aufschrift "Vorsicht, Scharfschützen" warnte. Dort wurden Menschen erschossen, doch man ging am nächsten Tag wieder dort entlang.

Die Pandemie hat allerdings auch einige gesellschaftliche Gräben offengelegt. Manchmal sind die individuellen Interessen doch größer.

Selimbegovic: In meiner Heimat sind einige sehr reich geworden, weil sie vom Elend profitierten und ihren Reichtum auf Leichen bauten. Das wird ihnen noch auf die Füße fallen. Da bin ich sicher, die Gerechtigkeit wird jeden einholen. Die Pandemie zeigte, dass viele ihre eigene Erklärung für die Dinge haben - und sei sie noch so seltsam. Mein Rat ist, noch mehr und ehrlicher miteinander zu kommunizieren. Denn mangelnde Kommunikation führt zu Spaltung, zumal der Mensch eher zu Abgrenzung von anderen Menschen neigt. Obwohl wir so viele Gemeinsamkeiten haben, sucht man nach kleinsten Unterschieden, die dann irgendwann nicht mehr klein, sondern riesig sind.