Mersad Selimbegovic von Jahn Regensburg im Interview: "Sie wissen gar nicht, zu was Sie im Krieg imstande sind"

Mersad Selimbegovic ist seit 2019 Trainer von Jahn Regensburg in der 2. Liga.
© imago images
Cookie-Einstellungen

 

 

Wie blicken Sie hinsichtlich Eigen- und Selbstständigkeit auf die heutige Generation an Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Sie ja auch trainieren, wenn Sie bedenken, dass Sie in diesem Alter um Ihr Überleben kämpfen mussten?

Selimbegovic: Einer meiner beiden Söhne ist 14. Wenn ich ihn im Winter bitte, er soll abends um halb sieben bei Dunkelheit noch schnell etwas vom 80 Meter entfernten Bäcker holen, antwortet er: Was, jetzt noch? Er sagt das natürlich aus Bequemlichkeit, aber er kann irgendwo auch nichts dafür, weil er es sich schlicht nicht vorstellen kann, dass ich damals mit zwölf nachts bei Schnee, Matsch und Regen auf der Jagd war, um für meine Familie Essen zu besorgen. Es ist unvorstellbar, wie schnell dich der Krieg erwachsen macht. Ich stoße als Vater auch immer wieder an meine Grenzen, wenn ich gewisse Dinge vermitteln möchte, weil sich meine Erlebnisse für meine Jungs wie Erzählungen aus einem Film anhören.

Als der Krieg 1991 in Kroatien ausbrach, war das auch für Ihre Familie und Sie zunächst noch weit weg. Dennoch wurde für den Notfall mit gepackten Rucksäcken vorgesorgt - die aber in dem Moment der Flucht liegen gelassen wurden. Wie schnell haben Sie anschließend realisiert, dass Sie Ihre Heimat verlieren werden?

Selimbegovic: Erst Monate später. Wir dachten anfangs, dass wir nach ein paar Tagen wieder nach Hause können. Doch unsere kleine Ortschaft mit 50 Häusern ist innerhalb von zwei Tagen komplett zerstört worden. Ich habe mit meinem jüngeren Bruder draußen gespielt. Dann hörte ich Schüsse und bin die paar Meter nach Hause gerannt. Daraufhin stürmten sofort alle los, in die entgegengesetzte Richtung der Schüsse. Es fiel uns wegen des Schocks erst Stunden später auf, dass wir die Rucksäcke vergessen hatten.

Ihre Familie ist im ersten Moment zusammen mit ein paar Nachbarn, insgesamt waren es zwölf Personen, in den Wald geflohen. Wie weit war der von Ihrem Zuhause entfernt?

Selimbegovic: 500 bis 700 Meter.

Mit welcher Ausstattung an Essen und Trinken haben Sie dort die ersten Tage und Nächte verbracht?

Selimbegovic: Mit gar keiner. Wir sind immer weiter gegangen und schließlich in eine Ortschaft gekommen, in der sich einige Leute gesammelt und uns die Einheimischen versorgt haben. Dort formierte sich dann ein Konvoi und wir sind wieder ein paar Tage durch den Wald gegangen. Es war ein immerwährender Fußmarsch.

Wohin wollten Sie flüchten?

Selimbegovic: Wir nahmen die Route nach Sarajevo, haben aber nach sieben oder acht Tagen erfahren, dass dort niemand hinein- und herauskommt. Wir sind dann abends im bewaldetem Bergland von Gorazde angekommen, 50 Kilometer südöstlich von Sarajevo. Dort gab es mittig einen Fluss und an beiden Seiten ging der Wald steil in die Höhe. Wir waren todmüde und wollten dort einfach nur übernachten. In der Früh ritt dann jemand auf einem riesigen Pferd durch dieses Tal und meinte, wir müssten erst einmal dortbleiben. Hier würde ein Flüchtlingslager entstehen, das wir uns selbst einrichten mussten.

Womit?

Selimbegovic: Die Armee hat uns immer wieder versorgt, so dass es später ein richtiges Lager geworden ist. Uns war nicht kalt, das Problem war der Regen. Dann hatten wir in unserem Bau keine Chance und sind nass geworden. Sobald es aufhörte, wurde Feuer gemacht und alles getrocknet. Wenn es wieder regnete, ging es von vorne los. Von dort bin ich immer wieder losgezogen und teils vier Stunden in eine Richtung marschiert, um Felder nach Essen zu durchsuchen. Wenn du eine Kartoffel von der Größe eines Apfels gefunden hast, war das wie ein Sechser im Lotto.

Sie sind zweieinhalb Monate in diesem Lager geblieben. Wie nah war dort die Bedrohung?

Selimbegovic: Das Lager war gut versteckt, von außen konnten keine Granaten hineinfliegen. Die größte Gefahr waren die Flugzeuge, denn es gab dort keine Luftabwehr. Die sind so tief darüber geflogen, dass allein das Geräusch beängstigend war. Sobald man nur ein bisschen was von ihnen hörte, sind sofort alle in den Wald gerannt. Ich habe im Krieg Schüsse, Granaten und Bomben erlebt, aber die Flugzeuge hatten eine besonders grausame Qualität.

Anschließend bezog Ihre Familie in Gorazde eine kleine Wohnung in der Nähe eines Krankenhauses, das jedoch häufig beschossen wurde. War dies das erste Mal, dass Sie wieder auf einem richtigen Bett schlafen konnten?

Selimbegovic: Ja, das war unser erstes richtiges Dach über dem Kopf. Wir kamen dorthin, weil es Herbst und das Lager aufgelöst wurde. Es ergab jedoch wenig Sinn, länger zu bleiben. Wir hatten kaum zu essen, waren eingekesselt, es gab ständige Bombardements und jeden Tag Tote. Wir hockten vor allem im Keller. Am 2. November 1992 begaben wir uns schließlich auf den nächsten Marsch. Der führte durch gegnerisches Territorium, aber das war die einzige Route.

Wie oft haben Sie gedacht, dass Sie sterben würden?

Selimbegovic: Zum ersten Mal gleich am zweiten Tag. Wir sind leider nicht weit gekommen und in der Nähe unseres Ortes mehr oder weniger im Kreis gerannt. Da haben wir Patrouillen gesehen, die nur ein paar Meter hinter uns waren und auf uns schossen. Später vor allem bei einigen Granaten, die in unmittelbarer Nähe explodiert sind. Ich habe mich speziell dann oft gewundert, wie ich das überleben konnte.

Schließlich wurden Ihre Mutter, Ihre Tante, Ihr Bruder Mirsa und Sie Teil eines Flüchtlingskonvois, auf dem Männer nicht erlaubt wurden. Das entschied Ihr Vater, den Sie aber zurücklassen mussten. Wieso hat er so entschieden?

Selimbegovic: Es war einfach alternativlos, weil man in diesem bergigen Gebiet ab Mitte November mit Schnee und Frost rechnen musste. Über den militärischen Funk und Mundpropaganda hatte es sich wie ein Lauffeuer verbreitet, dass es Gebiete gab, in denen man einigermaßen normal leben konnte und nicht jeden Tag um sein Leben fürchten musste. Er sagte daher, dass wir das unbedingt versuchen müssen. Dabei sind leider auch viele Menschen gestorben, die zwischenzeitlich Pause machten, kurz eingeschlafen und zurückgeblieben sind.

Wie erging es Ihrem Vater anschließend, hatten Sie Kontakt zu ihm?

Selimbegovic: Er musste wie alle Männer zwischen 18 und 70 Jahren dort bleiben, um die Stadt zu verteidigen. Später haben wir erfahren, dass zwei oder drei unserer Briefe an ihn durchgekommen sind.

Bei den Profis wurde Mersad Selimbegovic Co-Trainer von Achim Beierlorzer.
© imago images
Bei den Profis wurde Mersad Selimbegovic Co-Trainer von Achim Beierlorzer.

Ihr Weg führte Sie dann in Richtung Südbosnien, um dort eine Tante Ihrer Mutter zu suchen, deren genauer Aufenthaltsort nicht bekannt war. Wie haben Sie sie gefunden?

Selimbegovic: Nach 50 Kilometern sind wir Richtung Konjic weiter. Wir wussten, dass sie dort in der Nähe ist. Zehn Kilometer vor Konjic haben wir herumgefragt, ob jemand den Namen der Tante kennt. Irgendwie haben wir es so geschafft, den genauen Ort herauszukriegen. Als wir dort ankamen, liefen uns zwei Mädchen entgegen. Meine Mama fragte sie, ob sie den Namen der Tante kennen. Da sagte die eine: Das ist meine Oma! Unglaublich, da bekomme ich heute noch Gänsehaut.

Dort war die Frontlinie etwas über 15 Kilometer entfernt und der Krieg quasi nicht existent.

Selimbegovic: Es war das Paradies, weil dort sehr viel humanitäre Hilfe aus dem angrenzenden Kroatien durchkam und die Lieferungen Richtung Sarajevo irgendwann gestoppt wurden. In Gorazde kostete ein Kilogramm Mehl umgerechnet 100 Mark - dort waren es drei. Es gab dort lediglich einen Blitzkrieg, die Zerstörung war minimal.

Wo sind Sie untergekommen?

Selimbegovic: Die Tante hatte ein ganz kleines Haus, in dem wir zu zwölf wohnten. Dort gab es endlich wieder Strom - ein unbeschreibliches Gefühl.