EM

EM 2021 - Tops und Flops: Mutiger Fußball, tolle Gesten - aber auch Versagen auf ganzer Linie

Die erste Europameisterschaft in einer Pandemie geht zu Ende - und es bleiben zwiespältige Erinnerungen. Ein subjektiver Rückblick auf die fünf Tops und die fünf Flops der EM.
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Die erste Europameisterschaft in einer Pandemie geht zu Ende - und es bleiben zwiespältige Erinnerungen. Ein subjektiver Rückblick auf die fünf Tops und die fünf Flops der EM.

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EM 2021: Die Tops der Europameisterschaft

  • Toller Fußball statt zähem Gekicke

Spätestens wenn es bei großen Turnieren in der jüngeren Vergangenheit in die K.o.-Runde ging, brach das Niveau teilweise dramatisch ein. Vielen Nationalteams fehlten aufgrund geringer gemeinsamer Trainingszeiten meist die Automatismen, trotz Überlegenheit schwächere, sehr defensiv stehende Gegner zu bezwingen.

Auch, weil sich im Laufe der Endrunde der Kräfteverschleiß einer langen Saison deutlich bemerkbar machte und zu Leistungseinbrüchen führte. Nur deshalb konnten etwa Portugal 2016 oder Griechenland 2004 Europameister werden.

Entsprechend gering waren die Erwartungen vor dieser EM, da alle Spieler das vermutlich strapaziöseste Jahr ihrer Laufbahn ohne längere Pausen und mit nur wenig Vorbereitung hinter sich hatten. Umso überraschender ist das beinahe durchgehend spielerisch hohe Niveau, das häufiger als bei den letzten Turnieren zu hochklassigen Begegnungen führte, wie in beiden Halbfinals oder zuvor in den K.o.-Spielen zwischen Italien und Belgien oder Frankreich und der Schweiz.

  • Mut wird belohnt

Eine Lehre der EM, die leider bei Jogi Löw nicht mehr rechtzeitig angekommen ist: Die Mannschaften, die sich nur hinten reinstellten oder wie die DFB-Auswahl zu passiv agierten, wurden bestraft. Belohnt wurde hingegen, wer mutig war und ins Risiko ging.

Paradebeispiel dafür waren die Schweizer, die im Achtelfinale gegen Weltmeister Frankreich teilweise mit dem Mut der Verzweiflung anrannten und am Ende damit Erfolg hatten, als sie erst aus einem 1:3 nach 81 Minuten noch ein 3:3 machten und dann im Elfmeterschießen sensationell gewannen.

Aber auch die Tschechen in ihrem Achtelfinale gegen die hoch favorisierten Niederländer oder die Dänen mit dem Rücken zur Wand in ihrem letzten Gruppenspiel gegen Russland nahmen ihr Herz in die Hand und marschierten dank ihrer offensiven Herangehensweise verdient in die nächste Runde.

Und selbst für Verlierer wie Österreich in ihrem Achtelfinale gegen Italien oder Ungarn in der Hammergruppe mit Frankreich, Portugal und Deutschland hieß es angesichts ihrer couragierten Auftritte zumindest: Raus mit Applaus.

  • System schlägt Klasse

Die EM war ein Fest für Taktikfreaks. Weil sich häufig zeigte, dass man mit einer ausgeklügelten Strategie und einer klaren Handschrift des Trainers gute bis sehr gute Chancen hatte, nominell bessere Gegner zu besiegen.

Das galt vor allem für die Underdogs aus Dänemark und der Schweiz, aber es gilt auch für EM-Finalist Italien. Hier hat Roberto Mancini aus den Trümmern der verpassten Qualifikation zur WM 2018 eine echte Mannschaft gebaut, die defensive Spitzenklasse mit offensiver Stärke ebenso verbindet wie individuelle und teamspezifische Qualität als auch Leidenschaft und Entschlossenheit. Und das, obwohl die Squadra Azzurra kaum über Topstars verfügt, sondern eben über das Kollektiv zum Erfolg gekommen ist.

"Paradoxerweise haben auch wir ihn anfangs für verrückt gehalten, als er uns gesagt hat, dass wir uns in den Kopf setzen sollen, die EM zu gewinnen", sagt Kapitän Giorgio Chiellini über Mancini als geistigen Urheber der Serie von 33 Länderspielen ohne Niederlage: "Jetzt steht das bevor, wovon wir seit drei Jahren träumen. Das, was der Trainer uns nach und nach eingebläut hat, bis es Realität wurde."

Wenn fast 60.000 Menschen im Wembley-Stadion freudetrunken "Sweet Caroline" schmettern, dann weiß man erst, was einem gefehlt hat.
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Wenn fast 60.000 Menschen im Wembley-Stadion freudetrunken "Sweet Caroline" schmettern, dann weiß man erst, was einem gefehlt hat.
  • Endlich wieder Stimmung

Die trostlosen Bilder aus den Stadien waren zur traurigen Realität in Endlosschleife geworden: Leere Ränge, keine Stimmung, die Anfeuerungen der Spieler wie in der Kreisliga als einzige Geräuschkulisse.

Und plötzlich ist EM und endlich gibt es wieder all das, was Fußball so emotional macht: Geschrei, Gesänge, Applaus, bunt verkleidete Fans, Flitzer. Wenn fast 60.000 Menschen im Wembley-Stadion freudetrunken "Sweet Caroline" schmettern, dann weiß man erst, was einem gefehlt hat.

  • Es gibt wichtigeres als Fußball

Mit etwas Pech wäre diese EM allerdings zum Desaster geworden. Wäre Christian Eriksen im zweiten Spiel des Turniers nach seinem Herzinfarkt im Spiel gegen Finnland tatsächlich verstorben, hätte sich das Turnier nicht mehr von diesem Schock erholt. Zum Glück kam es anders.

Dieser bittere Moment hat gezeigt, dass es wichtigeres gibt als Fußball - und die Reaktionen haben viel menschliche Größe hervorgebracht. Etwa beim dänischen Schutzschild um den am Boden liegenden Eriksen, bei der großen Geste seines Inter-Teamkollegen Romelu Lukaku nach seinem Treffer am selben Abend für Belgien gegen Russland oder beim kollektiven Innehalten in der 10. Minute für den Mann mit der Trikotnummer 10 im nächsten dänischen Spiel gegen die Belgier.

Genannt werden muss auch der gemeinsame Kniefall der (meisten) Mannschaften als Zeichen gegen den Rassismus, initiiert vom englischen Team, und der Einsatz für die Rechte gleichgeschlechtlicher Menschen durch Kapitänsbinden in Regenbogenfarben, entsprechende Fahnen auf den Tribünen und klare Statements der Spieler. Allen voran die Herz-Geste von Leon Goretzka nach seinem Tor in Richtung des ungarischen Hooligan-Mobs.

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