Nach 2019 und 2020 verpasst der Hamburger SV auch in dieser Saison die Rückkehr in die Bundesliga. Durch die 2:3-Niederlage beim VfL Osnabrück ist selbst der Relegationsplatz nicht mehr zu erreichen.
Wie konnte es beim einstigen Bundesliga-Dino so weit kommen? Benötigt der HSV eine andere sportliche Ausrichtung? Welcher Trainer geht die Mission Wiederaufstieg im Sommer an?
SPOX und Goal widmen sich Fragen und Antworten rund um die Situation bei den Rothosen und werden dabei vom HSV-Experten Marcus Scholz unterstützt.
Aufstieg zum 3. Mal in Folge verpasst: Wer trägt die Schuld?
Am 17. Spieltag sah noch alles vielversprechend aus: Der HSV stand nach der ersten Halbserie an der Spitze der Zweitligatabelle und hatte fünf Zähler Vorsprung auf Rang vier. In der Rückserie holten die Hamburger dann aber lediglich 19 Punkte aus bislang 16 Partien.
"Die Mannschaft hat ein Mentalitätsproblem", betont HSV-Experte Marcus Scholz vom Blog MoinVolkspark im Gespräch SPOX und Goal: "Man hat die Balance zwischen spielerischen Lösungen und dem nötigen Kampf und Einsatz, der in der zweiten Liga in jedem Spiel gefordert ist, verloren."
Während sich der HSV in der ersten Saisonhälfte "in einen Rausch gespielt, Aufbruchstimmung verbreitet hat und glaubte, dass man allen spielerisch überlegen ist", gab es in der Rückrunde Spiele, die als "deutliche Alarmsignale dienten, intern jedoch nicht stark genug bewertet wurden".
"Der HSV muss sich eingestehen, dass er nicht die beste Mannschaft ist", ergänzt Scholz.
Sicherlich ist das Team auf dem Platz letztlich für die Ergebnisse verantwortlich, doch das sportliche Umfeld trug ebenfalls seinen Teil dazu bei, dass die Rothosen ein weiteres Jahr in Liga zwei verbringen werden. Der Rücktritt von Präsident Marcell Jansen samt Vertreter im Februar, die Treuebekenntnisse von Sportvorstand Jonas Boldt für Ex-Trainer Daniel Thioune, kurz bevor dieser für die restlichen drei Saisonspiele schließlich doch von Vereinslegende Horst Hrubesch ersetzt wurde oder der offiziell verkündete Wechsel von Top-Torjäger Simon Terodde zu Schalke 04 mitten in der entscheidenden Phase der Saison: Faktoren, die für Scholz ihre Spuren auch auf dem Spielfeld hinterlassen haben.
"Der Aufsichtsrat muss aufgestockt und das Präsidium nachbesetzt werden. Es kommen viele heikle Themen auf den Verein zu, die in diesem Umfeld in der Vergangenheit schnell zum Problem für die Mannschaft wurden", erklärt er.
Boldt und der "eingeschlagene Weg": Quo vadis, HSV?
Trotz des erneuten Scheiterns sieht Boldt den HSV auf dem richtigen Weg. "Viele Menschen erkennen auch, welchen Weg wir eingeschlagen haben, dass wir eine Identität formen wollen. Außer vom Verpassen des Aufstiegs ist der HSV in vielen Dingen keine Lachnummer. Da gibt es vielleicht andere Vereine", erklärte der 39-Jährige nach dem Osnabrück-Spiel am Sky-Mikrofon.
Es gehe darum, "während der Saison auch bei sich zu bleiben und nicht abzuheben und vom Aufstieg zu träumen. Wir können nicht immer nur von Druck reden", führte Boldt zunächst aus, um schließlich dennoch diese Marschroute vorzugeben: "Wir werden definitiv Luft holen und einen neuen Anlauf nehmen."
"Jedes Jahr heißt es, dass man die Erwartungen nicht zu hoch schrauben sollte, weil man ein Zweitligist ist. Dass man ein Zweitligist ist, weiß man jetzt. Dennoch spricht man beim HSV immer vom Top-Favoriten", kritisiert Scholz den Hamburger Ansatz. In der kommenden Spielzeit werde es viele Mannschaften geben, "die man eher vor dem HSV wähnen würde". Mit Schalke steht bereits ein erster ernstzunehmender Konkurrent um den Aufstieg fest, mit dem 1. FC Köln oder Werder Bremen könnten weitere folgen. Als absoluter Favorit gehen die Hamburger also nicht die Saison 2021/22.
Laut Scholz benötige der Klub daher eine andere Zielsetzung: "Der bisherige Weg hat den Verein viel sportliches und wirtschaftliches Prestige gekostet. Der HSV darf die Ansprüche nicht nur verbal herunterschrauben, sondern muss das auch umsetzen. Man kann den Aufstieg zwar in Aussicht stellen, muss sich aber im Klaren sein, dass es ein harter Weg wird." Der ständige Versuch eines Neuaufbaus sei das größte Problem der vergangenen Jahre gewesen, vor allem mit Blick auf die Besetzung des Cheftrainer-Postens. "Die Entlassung von Thioune wäre zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nötig gewesen, da der Aufstieg nahezu nicht mehr zu schaffen war", sagt Scholz: "Wenn Boldt wirklich von Thioune überzeugt war, hätte er sich eingestehen müssen, dass auch der Trainer Fehler machen kann."
Dabei ist fehlende Konstanz das große Stichwort: Sieben Trainer installierte der HSV in den vergangen fünf Jahren. Mit Hannes Wolf, Dieter Hecking und Thioune verpassten die letzten drei den Wiederaufstieg. "Wenn man von einer Idee und Arbeit überzeugt ist, dann muss man dem Ganzen einen Spielraum geben und auch ein Tief akzeptieren. Der HSV täte gut daran, konstanter zu arbeiten. Das bedeutet auch, Ideen durchzusetzen, wenn sie nicht direkt funktionieren", betont Scholz. Dies gilt auch für Boldt selbst, der natürlich in der Kritik steht, im Umfeld der Hamburger jedoch als Typ gilt, der etwas auf die Beine stellen kann.
Andernfalls bestehe die Gefahr, "dass man sich in der zweiten Liga festsetzt und zusehen muss, dass es keine allzu großen wirtschaftlichen Folgen mit sich bringt".
Hrubesch bemängelt Einstellung: Welche Spielertypen braucht der HSV?
Mit welchem Kader der HSV in die neue Saison startet, ist derzeit noch offen. Mit Terodde muss der Klub seinen besten Torschützen (23 Ligatore) ersetzen. Aufgrund der finanziellen Folgen der Corona-Pandemie sind die Verantwortlichen auch auf Transfererlöse angewiesen, um Transfers tätigen zu können.
Hrubesch sandte mit Blick auf die Kaderzusammenstellung nach der Niederlage gegen Osnabrück bereits ein indirektes Signal in Richtung der Vereinsbosse. "Wir hatten den Aufstieg nicht verdient", sagte der 70-Jährige in aller Deutlichkeit bei Sky: "Du musst es dir verdienen und du musst es in einem Spiel wie in Osnabrück auch wollen. Ich habe das mein Leben lang gemacht, hatte aber nicht das Gefühl, dass das bei allen so war."
Fehlender Wille also? Scholz gibt Hrubesch in diesem Fall Recht. "Die Zusammenstellung des Kaders ist nicht ausreichend, um sich gegen schwierige Situationen zu wehren", resümiert er: "Der HSV muss in der kommenden Saison eine andere Stimmung und Mentalität in die Mannschaft bekommen. Dabei geht es nicht um ein oder zwei Spieler, sondern um das gesamte Konstrukt, das begreift, dass man in der zweiten Liga vorrangig arbeiten muss, um erfolgreich zu sein. Danach kann die Schönspielerei kommen."
Vor Beginn der Saison verstärkten sich die Hamburger mit erfahrenen Spielern wie Terodde, Toni Leistner und Klaus Gjasula, die in einer jungen Mannschaft als Säulen agieren sollten. Bis auf Terodde wusste jedoch keiner zu überzeugen. "Gjasula hat meiner Ansicht nach nicht mehr die Qualität, um solch ein Säulenspieler für eine gute Zweitligamannschaft zu sein. Leistner hatte viel mit Verletzungen zu kämpfen, Terodde ist spätestens seit seinem verkündeten Wechsel zu Schalke abgefallen", sagt Scholz.
Insgesamt habe es zu viele Spieler gegeben, "die mit dem Druck nicht mehr klarkamen und versuchten, alles spielerisch zu lösen, wo es eigentlich darum ging, zu arbeiten. Gideon Jung gilt beispielsweise seit zwei Jahren als aussortiert. Sein Stand im Kader motiviert nicht zu Höchstleistungen."
HSV (erneut) auf Trainersuche: Wer wird es diesmal?
Da Hrubesch nur für die verbleibenden drei Ligaspiele als Interimslösung eingesprungen war, steht der HSV zunächst vor der großen Aufgabe, einen neuen Cheftrainer zu finden.
Laut Hamburger Morgenpost zählt Tim Walter, ehemals bei Holstein Kiel und dem VfB Stuttgart an der Seitenlinie, zum Kandidatenkreis. Mit ihm sollen in den kommenden Tagen bereits Gespräche geführt werden. Walter, der von 2017 bis 2018 die Amateure des FC Bayern München coachte, überzeugte in der Saison 2018/19 an der Seitenlinie von Kiel (Tabellensechster). Anschließend ging es in die Bundesliga zum VfB, wo er im Dezember 2019 entlassen wurde und seitdem ohne Verein ist.
Die Bild brachte zudem Tobias Schweinsteiger, aktuell Co-Trainer von Robert Klauß beim 1. FC Nürnberg, ins Gespräch. Letzterer arbeitete bereits als Assistent von Hecking in der Saison 2019/20 beim HSV und erwarb erst kürzlich die Fußballlehrer-Lizenz.
Ein Comeback eines bereits "HSV-erfahrenen" Coaches a la Bruno Labbadia oder Thorsten Fink, die derzeit beide vereinslos sind, soll es laut Morgenpost allerdings nicht geben.
Was droht dem Klub bei einem vierten verpassten Wiederaufstieg?
Ob direkt kommuniziert oder nicht: Der HSV ist aus wirtschaftlicher und infrastruktureller Sicht auf eine Rückkehr ins Oberhaus angewiesen. Was geschieht also, sollte es der Klub auch im kommenden Jahr nicht schaffen?
"Das, was dem Verein dann drohen würde, droht ihm bereits jetzt", betont Scholz: "Finanziell ist man natürlich stark gebeutelt."
Auf die Fans haben sich die letzten Monate ebenfalls belastend ausgewirkt. "Der Zuspruch der Fans wird nicht der gleiche sein wie vor der Pandemie", vermutet Scholz: "Das liegt nicht nur daran, dass sie sich mehr vom Fußball distanziert haben, sondern weil der HSV seinen sportlichen Beitrag dazu geleistet hat. Die Leidenschaft, die nicht auf dem Platz vorgelebt wird, kann man nicht von seinen Anhängern erwarten."
Hamburger SV: Die Saisonbilanzen in der 2. Liga
Saison | Spiele | Siege | Unentschieden | Niederlagen | Punkte | Tore | Platzierung |
2018/19 | 34 | 16 | 8 | 10 | 56 | 45:42 | 4. |
2019/20 | 34 | 14 | 12 | 8 | 54 | 62:46 | 4. |
2020/21 | 33 | 15 | 10 | 8 | 55 | 67:44 | 5. |
Meistgelesene Artikel
Das könnte Dich auch interessieren



