Felix Magaths erster Auftritt als neuer Hertha-Trainer ließ schon erahnen, wie der 68-Jährige die Berliner doch noch in der Bundesliga halten will: Magath setzt bei der Bewältigung gleich mehrerer Krisenherde auf Altbewährtes.
Hertha ist nach der 0:2-Niederlage am Samstag bei Borussia Mönchengladbach auf den 17. Tabellenplatz abgerutscht. Dem bisherigen Tiefpunkt der monatelangen (nicht nur) sportlichen Talfahrt folgte am Sonntag die Entlassung von Cheftrainer Tayfun Korkut, der wie sein glückloser Vorgänger Pal Dardai 13 Spiele geleitet hatte.
Und dann die Installation von Felix Magath - der nun nur acht Spiele Zeit hat, den Totalschaden für den Klub doch noch abzuwenden. Auf den 68-Jährigen kommt eine gigantische Aufgabe zu in einem Klub, der an zahllosen Baustellen gleichzeitig kämpft und der jetzt vor den Scherben etlicher Fehlentscheidungen steht. Wie konnte es überhaupt so weit kommen und warum hat Hertha BSC weit mehr als "nur" ein Trainerproblem? Eine Bestandsaufnahme.
Das verschenkte halbe Jahr
Seine Mannschaft werde in Gladbach nicht den Bus parken, hatte Tayfun Korkut auf der Pressekonferenz vor dem Spiel gesagt. Am Spieltag selbst beorderte der Trainer dann acht defensiv denkende Spieler in die Startelf, im tiefen 5-3-2 sollte Hertha reüssieren. Es war eine der letzten Volten von Korkuts Schlingerkurs.
Nach den ersten paar Spielen schien sich zumindest so etwas wie eine defensive Stabilität einzustellen, von dieser Basis ausgehend sollte dann auch die Entwicklung eines offensiven Plans erfolgen. Mit beiden Vorhaben ist Korkut spektakulär gescheitert. Den schon fragwürdigen Punkteschnitt seines Vorgängers Pal Dardai, der wie Korkut auch 13 Spiele leiten durfte in dieser Saison, hat Korkut nochmal deutlich unterschritten. Nach nur zwei Siegen lag der Schnitt letztlich bei 0,7 Punkten pro Spiel, Dardai hatte wenigstens noch 1,1, Punkte geschafft.
Mit Korkut konnte die Mannschaft weder die vielen akuten Probleme lösen, noch eine Entwicklung anstoßen, die über diese Saison hinaus Hoffnung hätte machen können. Nun hilft offenbar nur noch der Typ Feuerwehrmann, der zum Ende der Saison und bei nur noch acht Spieltagen keine großen spieltaktischen Elemente mehr einbringt, sondern andere Hebel bedient. In Magaths Fall kann man sich gut vorstellen, welche Hebel das sein werden.
Hertha BSC hat ein halbes Jahr ins Land gehen lassen, um in der Endphase der Saison nun noch einmal deutlich schlechter dazustehen als zuvor. Es gab genug Mahner und Warnungen, dass genau das passieren könnte. Das wenige Potenzial des Kaders war zuletzt vollends verschüttgegangen und es könnte eine ganze Weile dauern, die Lebensgeister wieder zu wecken. Nur hat die Hertha diese Zeit jetzt nicht mehr. Umso gespannter darf man darauf sein, wie Magath die Mannschaft ab sofort anpacken wird.
Der Trainer jedenfalls hat da schon eine konkrete Idee. "Disziplin gehört halt nun mal zum Sport, das habe ich doch nicht erfunden", richtete er sich an seine Spieler und fügte hinzu: "Wer diszipliniert mithilft, Hertha BSC in der Bundesliga zu halten, hat bei mir alle Trümpfe in der Hand", sagte Magath auf seiner ersten Pressekonferenz am Montag.
"Ich denke Hertha wollte einen Trainer für die letzten paar Spiele holen, der eine gewisse Autorität mitbringt. Die hat Felix Magath auf jeden Fall", sagt Magaths ehemaliger Spieler Heiko Westermann im Gespräch mit SPOX und Goal. Dass Magath, in der Bundesliga angesichts seiner harten Trainingsmethoden als "Quälix" und "Schleifer" bekannt, jetzt im Training die Zügel extrem anzieht, glaubt Westermann aber nicht. "Er wird jetzt nicht viel laufen lassen, die Zeit dafür ist ja gar nicht da". Vielmehr gehe es jetzt um Disziplin. Westermann: "Autorität wird ein wichtiger Faktor werden in den nächsten Spielen. Und er wird allein durch seine Anwesenheit ein wenig den Druck von den Spielern nehmen können."
Die leblose Mannschaft
Am Samstag in Gladbach, bei einem ebenfalls harsch durchgeschüttelten Gegner, konnte der große Teil der Berliner Spieler nicht die Haltung an den Tag legen, die in einem derart wichtigen Spiel von Nöten gewesen wäre. Mittlerweile hat es fast den Anschein, als hätten einige Spieler schon mit dem Kapitel Hertha BSC abgeschlossen - während diejenigen, die sich standhaft zeigen und sich wehren, ohne Unterstützung hoffnungslos verloren sind.
Dazu gehört auch, dass der Kader weder für den Abstiegskampf konzipiert und zusammengestellt wurde, noch die Spieler bisher den Schalter umlegen konnten. Nur einige wenige kennen sich mit dem Abstiegskampf in der Bundesliga aus, das Gros aber wurde unter ganz anderen Voraussetzungen und Zielsetzungen nach Berlin gelockt. Und ohne die gestandenen Spieler, die vorangehen können und auch wollen, sind die Jungen natürlich auch überfordert.
Es zeichnete sich zuletzt keinerlei Aufbäumen innerhalb der Mannschaft ab. Vielleicht war das auch dem Zustand der um sich greifenden Lähmung geschuldet und dass die Spieler längst auch das Vertrauen in ihren ehemaligen Trainer verloren hatten. Aber ein gewisses Maß an grundlegenden Tugenden und Resilienz ist von jedem einzelnen Spieler zu erwarten. 28 Gegentore in den zehn Pflichtspielen im Kalenderjahr 2022 sprechen allerdings eine andere Sprache.
Nimmt man nur das gruppen- und individualtaktische Verhalten bei den Gegentreffern in Gladbach, ist die Hoffnung auf eine baldige Verbesserung auch unter Magath ziemlich gering. Bei Matthias Ginters Tor nach einer Ecke schauten Davie Selke und Lucas Tousart nicht nur ausschließlich auf den Ball, sie bewegten sich fünf Meter vor dem eigenen Tor aus der Situation heraus. Ginter aber ging einfach nur in den Ball und war dann völlig frei.
Zwei von drei zentralen defensiven Mittelfeldspielern waren beim ersten Gegentor nach einem handelsüblichen Ballverlust am Flügel gefühlt meilenweit aus ihrer Position gezogen, von der gewünschten Absicherung war nichts zu sehen. Beim Fallen der Abwehrkette hielten sich dann drei Spieler an den Plan, ein vierter versuchte Anschluss zu erreichen - und der fünfte machte die entscheidenden Fehler.
Marc-Oliver Kempf positionierte sich zwei, drei Meter tiefer als seine Kollegen, die die Abseitslinie hielten. Statt auf den Ball zu rücken und damit Gegenspieler Marcus Thuram ins Abseits zu stellen, wich Kempf zurück und gab den Passweg in die Tiefe frei; als wäre das nicht schon ungeschickt genug gewesen, verschuldete er dann mit seinem Tackling auch noch einen Elfmeter.
Kempf wurde als potenzieller Führungsspieler eingekauft, nach mehreren Patzern vor Gegentreffern und einer Roten Karte stellt sich dieser Versuch bisher als unbrauchbar heraus. Stattdessen bleibt das grundsätzliche Problem: Der Mannschaft gehen Spieler ab, die sich jetzt wehren, die Verantwortung übernehmen und auch mal laut werden auf dem Platz.
Korkut hat Kapitän Dedryck Boyata quasi entmachtet, Stammkeeper Alexander Schwolow schaffte es zuletzt nicht mal in den Kader. Suat Serdar oder Marco Richter, zumindest ansatzweise zwei der wenigen Lichtblicke, waren zuletzt keine Stammspieler mehr.
Magaths erste und wahrscheinlich auch wichtigste Aufgabe wird sein, die (vermeintlichen) Führungsspieler schnell als solche zu erkennen und um sie herum endlich wieder so etwas wie Stabilität aufzubauen. Denn in den letzten Wochen hat sich kein einziger Berliner mehr Spieler als Führungspersönlichkeit zeigen können. Die Moral ist schwach, eine Hierarchie nicht mehr vorhanden. "Ich muss erstmal ein Gefühl für die Menschen entwickeln, muss sie sprechen, fühlen, riechen, um die größten Baustellen erkennen zu können. Bisher hatte ich den Eindruck, dass es keine so geschlossene Mannschaftsleistung gab. Es wird sicherlich einige Tage dauern, bis ich weiß, welche Hebel ich ansetzen muss", so Magath.
Das schwierige Drumherum
Die geplatzte Dokumentation schlug in den letzten Tagen hohe Wellen und sie bleibt ein schwelendes Problem, das so schnell nicht aus der Welt zu räumen ist. Fast schon symptomatisch bringt die Episode das zerrüttete Verhältnis zwischen der Investorengruppe auf der einen und der Klubführung auf der anderen Seite ans Tageslicht. Der Umgang miteinander ist fatal, es wird ganz offenbar nur noch öffentlich übereinander, statt hinter verschlossenen Türen miteinander geredet. Und auch der Ton der Auseinandersetzung ist ziemlich vergiftet.
Die Tennor Group um Lars Windhorst lässt immer dann keine Möglichkeit aus, um gegen den Klub zu schießen, wenn die sportliche Lage ganz besonders prekär ist. Das ist einerseits verständlich bei einem Investment von rund 370 Millionen Euro und der Aussicht auf baldigen Zweitliga-Fußball. Aber es baut andererseits einen unheimlichen Druck auf in einer Phase, in der die Verantwortlichen noch mehr Unruhe und zusätzliche Baustellen überhaupt nicht gebrauchen können.
Auf der bald anstehenden Mitgliederversammlung hatte ein Tennor-Sprecher recht eindeutig nötige Veränderungen angekündigt. Und selbst wenn die verkrusteten Strukturen in der Führung einschneidende Veränderungen benötigen: Kurzfristig wird das alles nicht helfen. Was derzeit in Berlin passiert, passiert ja nicht zum ersten Mal. Das hat System und die Frage muss erlaubt sein, mit welchen Vorstellungen beide Parteien überhaupt in die gemeinsame Zusammenarbeit gestartet sind?
Wollte Tennor nur Geld verdienen? Galt und gilt es, Werbung zu machen für das Unternehmen oder sind sportliche Erfolge mit einem Klub geplant, der seit zwei Jahrzehnten vom internationalen Radar verschwunden ist und zeitweise in der 2. Liga spielen musste? Soll Tennor einfach nur enorme Summen bereitstellen und sich aus allen sportlichen Entscheidungen raushalten? Und wenn dem so war oder ist: Wussten alle Beteiligten davon und halten sich seitdem daran? Keine dieser Fragen ist aktuell eindeutig zu klären, stattdessen regiert das Chaos. Aktionen wie jene von Windhorst, der sich am Sonntag plötzlich in eine Debatte beim Kurznachrichtendienst Twitter einschaltete und dabei Interna rund um die damalige Installation Jürgen Klinsmanns als Trainer ausplauderte, führen ganz sicher nicht zu einer Befriedung der angespannten Lage.
Magath dagegen betonte mit Nachdruck, dass nun wirklich jeder gefordert sei: alle Spieler, Betreuer, Verantwortlichen, Angestellten und sogar die Stadt Berlin. "Ich muss alle in und um den Klub dafür sensibilisieren muss, dass bei der Arbeit gegen den Abstieg jeder einzelne mitmachen muss. Jeder sollte sich darauf fokussieren, in den letzten acht Spielen darauf konzentrieren, dass der Hauptstadt-Klub auch in der Haupt-Bundesliga bleibt."
Die Versäumnisse der sportlichen Leitung
Rund zehn Monate nach der Rückkehr nach Berlin steuert Bobic seinen neuen, alten Klub womöglich schnurstracks in die 2. Liga. Den Kader hat der starke Mann der Hertha zu großen Teilen nicht zu verantworten. Aber in den kleinen und großen Justierungen lag Bobic bisher eben auch teilweise krass daneben.
Nach der schrittweisen und von Bobic auch forcierten Entfremdung von Dardai war Korkut "sein" Trainer, den Bobic trotz großer Vorbehalte nicht nur durchdrückte, sondern dem er auch zu lange den Turnaround zutraute. Die Demission des zweiten Trainers innerhalb der Saison ist auch eine krachende Niederlage für Bobic, Magath nun auch für Bobic eine letzte Chance, noch einigermaßen sauber aus der Angelegenheit zu kommen.
Bobic hat auch auf anderen Feldern nicht die Entscheidungen getroffen, die zu einer Besserung führen konnten. Den krumm zusammengebauten Kader hat er kaum aufgeräumt, geschweige denn besser gemacht. Zukäufe von etwa russischen oder ukrainischen Spielern für die Endphase der Saison sind laut Bobic nicht geplant. Die Selbstzufriedenheit der Mannschaft konnte auch er den Spielern nicht austreiben, das Zerwürfnis mit Arne Friedrich, das vor ein paar Tagen in dessen Rücktritt mündete, wird zu großen Teilen Bobic angelastet.
"Aus verschiedenen Gründen" sei bei Friedrich "das Gefühl entstanden, dass mein Einfluss bei wichtigen sportlichen Entscheidungen nicht mehr ausreichend gegeben ist, um meinen Aufgaben als Sportdirektor gerecht zu werden", wurde Friedrich in einer Pressemitteilung zitiert.
Die Zeit der internen Querelen und Störfeuer soll jetzt vorbei sein, denn: "Es geht nicht um Felix Magath oder Fredi Bobic oder sonst jemanden. Es geht darum, Hertha BSC in der Liga zu halten. Jeder muss mitmachen!", fordert Magath unmissverständlich eine gemeinsame Linie im Klub.
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