Der (beste) schlechteste Langläufer aller Zeiten

Solano greift in den Schnee, im Hintergrund feuern ihn die Zuschauer an
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Adrian Solano - der andere Björn Daehlie

Es gibt zwei Sorten von Ausnahmeathleten: Es gibt die Besten ihrer Zunft, die Körper und Geist über Jahre hinweg gestählt, die Grenzen der menschenmöglichen Leistung Stück für Stück verschoben haben. Und es gibt die Exoten, die "Unfähigen". Die trotzdem an den Start gehen, das Feixen der Zuschauer vor dem Fernseher in Kauf nehmend und Schadenfreude Stück für Stück in Hochachtung verwandelnd.

Für jeden Michael Phelps gibt es einen Eric Moussambani, der vor seiner Teilnahme an den 100 Meter Freistil in Sydney in einem 15-Meter-Becken trainiert. Für jeden Matti Nykänen gibt es einen Eddie the Eagle, der vor seinem Abgang über den Bakken noch schnell die dicken Brillengläser sauber wischt. Für jeden Andre Lange einen gewissen Viererbob aus Jamaika.

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Und spätestens seit Lahti hat auch der Langlauf sein Pendant zu Björn Daehlie: Adrian Solano.

Langläufer ist der 22-Jährige aus Venezuela, na gut, eigentlich Koch, aber Langläufer aus Passion. Wie diese Passion entstanden ist? Er sei eben jemand, der gern schwierige Dinge ausprobiert, erklärt Solano. Den Langlauf-Floh ins Ohr gesetzt hat ihm vor einem Jahr Landsmann Cesar Baena, 30 Jahre alt und selbst Langläufer und Biathlet.

Der Unterschied: Während Buena als Austauschstudent in Deutschland und Österreich mit dem Wintersport in Berührung kommt und danach bei internationalen Wettbewerben startet - ohne jeglichen Erfolg übrigens - fristet Solano sein Dasein in Maracay im Norden Venezuelas. Wo es von Januar bis Dezember Temperaturen über 30 Grad hat und man Schnee nur aus Büchern oder dem Internet kennt.

Mehr als nur YouTube-Schenkelklopfer

Wurscht! Solano trainiert also in der Vorbereitung auf seine große Stunde auf Roller-Ski, ähnlich wie es die Langläufer und Biathleten hier im Sommer tun. Und dann? Er kommt nach Finnland, gibt sein Bestes und findet seine Bestimmung als Inspiration und/oder YouTube-Schenkelklopfer?

Der Venezolaner wäre weder der erste noch der letzte Wintersportler aus wärmeren Gefilden, der sich fachfremd ausprobiert. Im besten Falle ist es Philip Boit, im schlechtesten Falle führen die vielen Stürz in der Abfahrt zu Diskussionen über Sicherheit und Vorausscheidungen.

Nun zunächst einmal dürfte sich Solano sich seinen Titel als schlechtester Langläufer aller Zeiten redlich verdient haben: So ungelenk ist schon lange niemand mehr über die Piste gerumpelt. Als hätte man Laura Dahlmeier die Latten eines Skispringers angeschnallt und sie damit die Streif heruntergeschickt.

Was ihn von allen Vorgängern jedoch letzten Endes abhebt, ist seine unglaubliche #RoadToLahti - bei Adrian Solano war der Weg nämlich noch erstaunlicher als das Ziel.

Festnahme am Pariser Flughafen

Fast wäre sein Traum vom WM-Debüt in einer französischen Gefängniszelle geendet. Um seine Kenntnisse über Schnee von der theoretischen auf die praktische Ebene zu erweitern, war er nämlich schon am 19. Januar in Paris angelangt. Ziel: Ein Monat Trainingslager in Schweden. Wie er das ohne Ski und mit exakt 28 Euro in der Tasche bewerkstelligen wollte, ist sein Geheimnis. Fakt ist allerdings, dass ihm die Gendarmen seine Geschichte vom Profi-Langläufer nicht abkaufen. Viel wahrscheinlicher in ihren Augen: Der Kerl aus dem von einer schweren Wirtschaftskrise geschüttelten Venezuela ist entweder Flüchtling, Drogenschmuggler oder gar Terrorist.

"Ich erzählte ihnen, dass ich auf Rädern trainiert hatte. Mit meinen 28 Euro wurde ich von der Polizei beschuldigt, illegal einwandern zu wollen, weil es meinem Land so schlecht geht", sagt er später der französischen Nachrichtenagentur AFP. Ins Gesicht gelacht habe man seinem Schützling, erzählt Baena. Nach fünf Tagen Verhör geht es für Solano zurück in die Heimat: "Meine Pläne von einer guten Platzierung wurden zerstört."

In der Zwischenzeit hat seine Geschichte in Skandinavien Wellen geschlagen, darunter auch beim finnischen Journalist Aleksi Valavouri. "Das war so unfair, da musste etwas passieren", erklärt gegenüber der New York Times. "Jemand aus sehr schlimmen Verhältnissen hatte einen Traum und der wurde ihm weggenommen." Valavouri nimmt mit Baena Kontakt auf, das Internet besorgt über eine flugs eingerichtete GoFundMe-Seite die benötigten 4.000 Euro - und so kommt Solano schließlich doch noch in Finnland an. Nicht einmal zwölf Stunden vor seinem Start in der Qualifikation über die zehn Kilometer: "Aleksi war mein Schutzengel."

"Bin über 30 Mal aufgestanden"

Kein Wunder also, dass sich Solano am Mittwoch um 15.30 Ortszeit noch nicht ganz wohl auf dem neuartigen Untergrund fühlt. Was auch seinen Schutzengel überrascht. "Ich wusste überhaupt nichts über den Skisport in Venezuela. Zuerst dachte ich: 'Heilige Scheiße, der kann ja gar nicht Skilaufen.' Aber je länger es dauerte, umso mehr wurde er ein Held."

Der Held ist mittlerweile in die Heimat zurückgekehrt, wo seine Geschichte durchaus polarisiert. Nicht alle sind begeistert von seiner schwachen Leistung, und angesichts einiger Instagram-Fotos wird ihm sogar vorgeworfen, mit der sozialistischen Regierung unter einer Decke zu stecken. "Die Leute wissen nicht, dass auch ich schon am Morgengrauen in der Schlange stehe, um Brot zu kaufen", wehrt er sich. "Ich habe ein Jahr lang drei Jobs gehabt, um meinen ersten Flug zu bezahlen." Und die Regierung? Die beschwert sich per Twitter erst einmal über die "schlechte französische Behandlung eines venezolanischen Athleten."

Solano will nach seiner "verkehrten Karriere" mit der WM ganz am Anfang natürlich weitermachen - trotz aller Häme sei er stolz auf seine Leistung. Nächstes großes Ziel: Die Olympischen Spiele 2022.

Ans Ziel ist er in Lahti übrigens doch noch gekommen: In der Sprint-Qualifikation über 1,6 Kilometer als 156. und Letzter. Noch im Zielraum feiert er mit der Landesflagge: "Nicht jeder steht wieder auf. Aber ich bin über 30 Mal wieder aufgestanden."

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