"Wir beherrschen Spiele wie früher der FC Bayern unter Pep": Leverkusen-Ikone Rüdiger Vollborn im Interview vor dem Bundesliga-Spitzenspiel

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Niemand kennt Bayer Leverkusen besser als Rüdiger Vollborn! Vor dem Bundesliga-Spitzenspiel gegen den FC Bayern München erzählt die 60 Jahre alte Klub-Ikone von der aktuellen Euphorie und vergangenen Zeiten - außerdem spricht Vollborn eine Warnung an Florian Wirtz aus.

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Vollborn wechselte 1981 als Nachwuchs-Keeper aus Berlin nach Leverkusen und verließ den Klub seitdem nicht mehr. Jahrelang hütete er das Bayer-Tor in der Bundesliga, als einziger Spieler war er bei Leverkusens bisherigen beiden Titelgewinnen im UEFA Cup 1988 und im DFB-Pokal 1993 dabei. Nach seinem Karriereende 2000 fungierte Vollborn zunächst als Torwarttrainer. Mittlerweile ist er Fanbeauftragter und Klubhistoriker.

Womöglich darf Vollborn bald den ersten Meistertitel der Klubgeschichte in den Annalen vermerken: Unter Trainer Xabi Alonso spielt Leverkusen eine famose Saison, sein Herzensklub führt die Tabelle mit zwei Punkten Vorsprung auf den FC Bayern an. Vor dem Gipfeltreffen am Samstag um 18.30 Uhr nahm sich Vollborn Zeit für ein Interview.

Tabellenführung, Pokal-Halbfinale und grandioser Fußball: Wie erleben Sie die Stimmung in Leverkusen aktuell?

Rüdiger Vollborn: Leverkusen ist nicht wiederzuerkennen. Wir hatten noch nie so ein Selbstvertrauen, so eine Euphorie wie aktuell. Wir fahren mit 5000 Leuten nach Wolfsburg und mit 3000 Leuten nach Augsburg, normalerweise haben wir da 500 Fans dabei. Plötzlich haben wir auch eine Warteliste für Jahreskarten, das gab es in Leverkusen noch nie. Es ist faszinierend.

Hat sich diese Entwicklung schon vor der Saison angedeutet?

Vollborn: Ja, die Fans waren von Anfang an wie bekloppt. Das hat man gespürt. Gleich zum Saisonstart waren unsere Heimspiele gegen Darmstadt und Heidenheim damals überraschend ausverkauft. Logischerweise ist die Entwicklung sehr abhängig vom sportlichen Erfolg und den Leistungen. Aktuell macht es einfach immer Spaß, dieser Mannschaft zuzuschauen - auch wenn sie nur ein 0:0 gegen Gladbach holt. Wir beherrschen Spiele wie früher die Bayern unter Pep Guardiola.

Welche Rolle spielt Trainer Xabi Alonso?

Vollborn: Die größte meiner Ansicht nach.

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Was zeichnet ihn aus?

Vollborn: Er kann den Jungs sehr gut erklären, was er von ihnen verlangt. Teilweise sind die Spieler vermutlich sogar noch besser vorbereitet, als sie es letztlich auf den Platz bringen. Ich habe in ganz Leverkusen noch keine negative Stimme über Alonso gehört.

Gibt es einen ehemaligen Leverkusen-Trainer, an den er Sie erinnert?

Vollborn: Jupp Heynckes in Kombination mit Peter Hermann waren Alonso in gewisser Hinsicht sehr ähnlich. In der heutigen Zeit ist Menschenführung für Trainer fast wichtiger als Taktik. Logisch, in Sachen Taktik muss man sich auch auskennen. Aber entscheidend ist, wie man mit den Spielern kommuniziert. Der letzte, der das bei uns so gut gemacht hat, war Heynckes.

Heynckes trainierte Leverkusen von 2009 bis 2011, Sie waren damals Torwarttrainer. Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit ihm in Erinnerung?

Vollborn: Überragend, vor allem menschlich. Ich bin kein Bayern-Fan, im Gegenteil sogar. Aber das Triple 2013 habe ich ihm und Peter Hermann wirklich gegönnt.

Nach seinen zwei Jahren in Leverkusen kehrte Heynckes 2011 zum FC Bayern zurück. Hatten Sie die Option, ihn als Torwarttrainer zu begleiten?

Vollborn: Er hat mich nie gefragt. Aber wenn ich den Finger gehoben hätte, wäre ein Wechsel zu Bayern sicher möglich gewesen. Das war für mich aber keine Option, weil ich mich in Leverkusen damals um Rene Adler gekümmert habe. Die Bayern haben lange nach einem Torwarttrainer gesucht. Am Ende wurde es Toni Tapalovic. Das war auch eine gute Wahl.

In Leverkusen waren Sie noch bis 2012 Torwarttrainer, seitdem sind Sie als Fanbeauftragter tätig. Wie kann man sich Ihre Arbeit vorstellen?

Vollborn: Fanbeauftragter lautet meine offizielle Stelle, mittlerweile bin ich aber eher Vereinshistoriker. Seit 2014 sammle ich Wissen über Bayer 04 Leverkusen an. Ich organisiere Vorträge, Legendentreffen und Filmabende. Außerdem kümmere mich auf unserer Website um eine Rubrik, in der ich immer wieder kleine Anekdoten auspacke. Das ist mein Ding.

Dann blicken wir doch gleich mal in Leverkusens Historie: Sie meinten, dass um den Klub noch nie so eine Euphorie geherrscht habe wie derzeit. Wann war es denn am nächsten dran?

Vollborn: In der Saison 2001/02. Diese Mannschaft ist zu Unrecht nur Vizemeister geworden und hätte auch den Champions-League-Titel verdient gehabt.

Das verlorene Finale gegen Real Madrid komplettierte das Vize-Triple. Waren Sie in Glasgow mit dabei?

Vollborn: Nein. Ich war vier Tage vorher beim DFB-Pokal-Finale in Berlin. Wir haben gegen Schalke verloren und weil ich reichlich abergläubisch bin, habe ich zu Calli (Manager Reiner Calmund, Anm. d. Red.) gesagt: "Ich bin kein gutes Omen, ich fahr' nicht mit." Es lag aber offenbar doch nicht an mir.

Noch knapper als 2002 schlitterte Leverkusen 2000 am ersten Meistertitel vorbei. Das war Ihr letztes Profijahr, bei der 0:2-Pleite am letzten Spieltag gegen die SpVgg Unterhaching standen Sie aber nicht im Kader.

Vollborn: Ich hatte meine Karriere eigentlich 1999 beendet. Im Januar 2000 wurde ich nochmal reaktiviert, weil sich Frank Juric und Adam Matysek verletzt hatten. Daraufhin bin ich bei neun Spielen auf der Bank gesessen, zum vorletzten Spieltag war Juric aber wieder fit. Ich war trotzdem in Unterhaching dabei. Davor war ich angespannt, aber zuversichtlich. Danach herrschte nur Trauer.

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Leverkusen wurde mittlerweile fünfmal Vizemeister. Klappt es in dieser Saison mit dem ersten Titel?

Vollborn: Unsere Mannschaft wird bis zum Schluss durchziehen, darauf können sich die Bayern verlassen. Ich glaube, es bleibt bis zum letzten Spieltag spannend. Darüber freuen sich die Bayern auch. Nach dem Showdown mit Dortmund letztes Jahr war der Jubel größer, als wenn man fünf Spieltage vor Schluss zehn Punkte vorne liegt und den Titel nur noch einfahren muss.

Bayern oder Leverkusen: Auf wen würden Sie im diesjährigen Titelkampf Ihr Geld setzen?

Vollborn: Auf Leverkusen, da würde ich am Ende nämlich viel mehr verdienen. Wenn man bei Wettanbietern auf Bayern setzt, muss man ja - glaube ich - sogar im Falle des Meistertitels draufzahlen. (schmunzelt)

Josip Stanisic spielt in dieser Saison per Leihe vom FC Bayern in Leverkusen. Wie schlägt er sich?

Vollborn: Wir haben ihn als einen starken Kaderspieler geholt, auch für die Zeit während des Afrika-Cups. Diese Aufgabe hat er sehr zuverlässig erfüllt, die Abwesenheit unserer Top-Verteidiger Odilon Kossounou und Edmond Tapsoba ist nicht ins Gewicht gefallen. Wir haben auch ohne sie und mit Josip top gepunktet. Auch er ist einer der Spieler, die unserem Kader die Tiefe geben, die er braucht, um bis zum Ende oben mitzuspielen. Er gibt unseren drei Stammspielern in der Dreierkette den nötigen Konkurrenzdruck, denn natürlich will sich keiner verdrängen lassen.

Wer sind aktuell die großen Sympathieträger der Mannschaft?

Vollborn: An erster Stelle steht Florian Wirtz. Bei ihm verhält es sich wie früher bei Ulf Kirsten. Außerhalb Leverkusens wurde Kirsten nur mit seinen Toren verbunden. Viele haben nicht gesehen, welch wichtige Rolle er darüber hinaus in unserem Spiel hatte. Genauso ist es nun bei Wirtz. Natürlich ist er ein super Kicker, ein Straßenfußballer vor dem Herrn. Mir fällt sogar überhaupt kein Leverkusener ein, der dieses Gefühl jemals so verkörpert hat wie er. Aber es ist auch verrückt, wie viele Meter Wirtz abreißt, wenn er nicht am Ball ist. Das fasziniert die Leute.

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Schon seit längerem wird Wirtz mit einem Wechsel zum FC Bayern in Verbindung gebracht.

Vollborn: Das würde ich ihm sehr verübeln. Er kann überall hingehen, aber bitte nicht zu Bayern München. (schmunzelt)

Im Laufe der Nullerjahre wechselten mehrere Spieler von Leverkusen nach München: Michael Ballack, Robert Kovac, Lucio, Ze Roberto. Wie wurde das in Leverkusen aufgenommen?

Vollborn: Man kann ja verstehen, dass unsere richtig Guten irgendwann für einen ganz großen Verein spielen wollen. Aber warum denn immer Bayern München? Man kann ja auch ins Ausland gehen. Am schmerzhaftesten war Lucios Abgang. Ballack hat man es verziehen. Er kündigte seinen Wechsel im Januar 2002 an und hat danach noch ein halbes Jahr lang Vollgas gegeben.

Ehe es am Samstag zum nächsten direkten Duell kommt: Was war Ihr Lieblingsspiel gegen den FC Bayern?

Vollborn: Mein erster Sieg in München am 1. November 1986. Wir sind damals als Tabellenzweiter zum Spitzenreiter gefahren und haben mit 3:0 gewonnen. Bis heute spricht man in Bezug auf dieses Duell vom sogenannten "Christian-Hausmann-Spiel". Ich weiß nicht, wie oft er in diesem Spiel an Norbert Nachtweih und Klaus Augenthaler vorbeigerannt ist. Das war Wahnsinn. Danach hat Uli Hoeneß gesagt: "Was soll ich mit Diego Maradona, wenn es Christian Hausmann gibt."