DFB-Direktor Oliver Bierhoff im Interview: "Die WM 2006 war fast schon ein Himmelfahrtskommando"

Oliver Bierhoff besucht die Pressekonferenz in Vatutinki nahe Moskau im Juni 2018 vor dem deutschen WM-Auftaktspiel gegen Mexiko.
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Sie standen nach dem WM-Aus massiv in der Kritik, doch schon vorher gab es viel Gegenwind. Fans und Medien haben Ihnen immer wieder Arroganz und Besserwisserei vorgeworfen, der Spiegel schrieb von der "Bierhoffisierung der Nationalmannschaft". Wie sind Sie damit umgegangen und wie gehen Sie heute damit um?

Bierhoff: Ich habe mich immer damit beruhigt, dass Uli Hoeneß rund 30 Jahre lang als Bayern-Manager angefeindet wurde. Und er hatte immer Erfolg. Dass ich polarisiere und immer wieder Themen anstoße, die dann zu Diskussionen führen, gehört zu meinem Job. Ich habe oft auch bewusst provoziert, um etwas in Bewegung zu setzen. Was den Vorwurf der Kommerzialisierung der Nationalmannschaft angeht: Bei Profiklubs fließt ein erheblicher Prozentsatz der Einnahmen an Spieler und Berater, geht also aus dem System heraus. Bei uns gehen 85 Prozent an die Basis. Insofern weiß ich, dass die Aussage nicht populär ist, aber da folge ich meinen Überzeugungen: Die Vermarktung der Nationalmannschaft ist notwendig, weil der DFB dieses Geld für die Fußballentwicklung an der Basis benötigt und damit er seiner sozialen Verantwortung gerecht werden kann.

Trotzdem hatte man öfter den Eindruck, dass beim DFB das Rad etwas überdreht wurde...

Bierhoff: Die gleichen Medien, die eine Eventisierung der Nationalmannschaft beklagen, berichten am Tag danach begeistert über den Super Bowl oder darüber, dass die NFL jetzt nach Deutschland kommt. Dabei gibt es kein kommerzielleres Produkt als die NFL. Daher muss man sich von dieser Kritik freimachen. Ich bin nicht frei von Fehlern und wir haben an der ein oder anderen Stelle sicherlich überzogen. Das bekommen wir dann auch zu spüren und werden dafür zu Recht in die Verantwortung genommen. Aber am Ende muss ich machen, was ich für richtig halte. Und wenn man auf die vergangenen 18 Jahre schaut, ist es dem DFB damit nicht schlecht gegangen.

Oliver Bierhoff besucht die Pressekonferenz in Vatutinki nahe Moskau im Juni 2018 vor dem deutschen WM-Auftaktspiel gegen Mexiko.
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Oliver Bierhoff besucht die Pressekonferenz in Vatutinki nahe Moskau im Juni 2018 vor dem deutschen WM-Auftaktspiel gegen Mexiko.

Waren Sie trotzdem mal an dem Punkt, an dem Sie angesichts der Kritik gedacht haben: Macht euren Kram doch alleine?

Bierhoff: Jeder stellt sich doch schon mal die Frage, wie er sich weiterentwickeln kann und ob dafür vielleicht auch mal ein Ortswechsel nötig ist. Ich habe auch regelmäßig sehr reizvolle und lukrative Angebote erhalten. Aber es macht mir trotz der Herausforderungen und Widrigkeiten, die teilweise zu überwinden sind, unheimlich viel Freude, für die Nationalmannschaft und den DFB zu arbeiten. Das ist für mich nach wie vor ein Traumjob. Außerdem habe ich den Bau des neuen Campus mit der Akademie sowie weitere Innovationen angestoßen. Daher fühle ich mich immer auch in der Verantwortung gegenüber meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und unseren Projekten.

Hätten Sie Jogi Löw nicht vielleicht schon auf dem Höhepunkt 2014, spätestens aber nach dem WM-Debakel 2018 eine Tür aufmachen können oder müssen für einen geordneten Rückzug?

Bierhoff: Ich hatte keine Anzeichen, dass Jogi nicht mehr der richtige Mann auf seinem Posten war. Ganz unabhängig davon, dass es nicht meine alleinige Entscheidung war und ist, den Bundestrainer zu entlassen. Natürlich habe ich mir immer die Frage gestellt: Ist das möglich, über ein Jahrzehnt und länger erfolgreich zu arbeiten? Dann habe ich an Erfolgsgeschichten von Trainern gedacht, die mindestens genauso lange mit einer Mannschaft gearbeitet haben, ob Otto Rehhagel bei Werder Bremen oder Arsene Wenger bei Arsenal. Und auch Uli Hoeneß oder Karl-Heinz Rummenigge hat man nicht nach zehn Jahren aufgefordert, zu gehen. Daher habe ich immer auf die Entwicklung der Mannschaft geschaut und darauf, wie Jogi mit den Spielern arbeitet. Und da hatte ich nie Zweifel an ihm.

Trotzdem mussten Sie nach der EM 2021 einen neuen Bundestrainer finden und bis wenige Wochen vor Saisonende war nicht klar, dass Hansi Flick zur Verfügung stehen würde. War die Situation ein Glücksfall für Sie und den DFB?

Bierhoff: Ich bin überglücklich, weil Hansi die Top-Besetzung für den Posten ist. Er kennt den DFB lange und aus verschiedenen Perspektiven, er ist ein Sympathieträger und ein herausragender Trainer. Ich glaube, gerade nach der abgelaufenen Saison erkennt man, was für eine Leistung er bei Bayern München mit sechs gewonnenen Titeln in einem Jahr vollbracht hat. Ich hätte ihn am liebsten schon zum DFB zurückgeholt, als er in Hoffenheim 2018 als Vorstand aufgehört hat. Aber er war damals erst ein gutes Jahr vorher freiwillig vom DFB weggegangen. Jetzt war er mein absoluter Traumkandidat und ich habe bei Hansi sehr früh gespürt, dass Bundestrainer sein Wunschjob ist - trotz anderer Angebote. Wie er seine Aufgabe jetzt angeht und was er einfordert, aber auch einbringt, ist einfach top.

Das erklärte Ziel ist und bleibt der Titel bei der Heim-EM 2024?

Bierhoff: Es wäre mal an der Zeit, 28 Jahre nach meinem Siegtreffer 1996 wieder Europameister zu werden. Der Druck wird zu Hause natürlich wieder enorm sein. Wir wollen in jedem Fall bis 2024 zurück an der Weltspitze sein. Diesem Anspruch stellen wir uns und dazu brauchen wir eine Entwicklung in der Mannschaft. Und bei diesem Prozess kann auch die WM in Katar helfen, wobei wir dort schon das Maximale erreichen, also um den WM-Titel mitspielen wollen. Aber ich glaube, dass wir zwei Jahre später bei der EM mit Spielern wie Jamal Musiala, Florian Wirtz, Nico Schlotterbeck oder David Raum nochmal stärker sein können. Dieses Heimturnier ist für den deutschen Fußball von ganz großer Bedeutung.

Trotz der genannten jungen Spieler hat der DFB seit einigen Jahren ein gravierendes Nachwuchsproblem. Wie wichtig ist vor diesem Hintergrund die Fertigstellung der Akademie, die Sie selbst als Quantensprung für den deutschen Fußball bezeichnet haben?

Bierhoff: Dieser Ort, an dem man zusammenkommt und Fußball erlebt und entwickelt und wo wir ständig unsere wichtigsten Akteure präsent haben, ob Trainer*innen, Spieler*innen oder Expert*innen, kommt dem ganzen Fußballsystem zugute, also nicht nur dem Verband, sondern auch den Vereinen. Hier können wir die gesamte Kraft des deutschen Fußballs nutzen und ihn stärken.

Wäre ein EM-Sieg 2024 vor eigenem Publikum ein perfekter Abschluss, wenn Ihr Vertrag beim DFB ausläuft? Oder kann es wie bei Uli Hoeneß auch noch zehn Jahre weitergehen?

Bierhoff: Ich habe mir früher immer sehr viele langfristige Pläne gemacht, jetzt lasse ich die Dinge etwas mehr auf mich zukommen. Deshalb kann ich zu der Zeit nach 2024 im Moment noch nichts sagen. Bis dahin stehe ich auch bei Hansi im Wort, weil wir im Team zurück an die Weltspitze wollen. Außerdem sind es noch mehr als zwei Jahre Zeit, mir konkrete Gedanken zu machen. Das ist im schnelllebigen Fußballgeschäft ja fast schon eine Ewigkeit.