DFB-Direktor Oliver Bierhoff im Interview: "Die WM 2006 war fast schon ein Himmelfahrtskommando"

Oliver Bierhoff besucht die Pressekonferenz in Vatutinki nahe Moskau im Juni 2018 vor dem deutschen WM-Auftaktspiel gegen Mexiko.
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Löws erstes großes Turnier war die EM 2008, wo unter anderem die Szenen nach dem verlorenen Finale gegen Spanien in Erinnerung geblieben sind, als Michael Ballack Sie noch auf dem Spielfeld wüst beschimpfte und fast handgreiflich wurde. Dies sei Ausdruck der Kritik an Ihnen gewesen, da Sie "unter den Spielern als effekthaschender Eventmanager betitelt wurden", war damals im kicker zu lesen. Wie bewerten Sie die damaligen Spannungen im Rückblick?

Bierhoff: Nach so einem Spiel kochen verständlicherweise die Emotionen hoch. Da wird manchmal einfach ein Ventil gesucht. Ich wollte damals, dass die Mannschaft sich mit einem Transparent bei den Fans bedankt, Michael war im Moment der grenzenlosen Enttäuschung anderer Meinung. Dennoch ist da nie was hängen geblieben, wir sind Fußballer, da darf schon mal ein klares Wort fallen. Michael und ich haben ja auch erfolgreich zusammengespielt.

Ballack blieb danach Kapitän und unumstrittener Anführer der DFB-Auswahl, erlitt im FA-Cup-Finale 2010 unmittelbar vor der WM aber nach einem Tritt von Kevin-Prince Boateng eine so schwere Verletzung, dass er für das Turnier absagen musste. Im Nachhinein war das nach Meinung vieler Beobachter eher positiv, weil sich dadurch eine neue Generation um Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira, Mesut Özil und Thomas Müller in den Vordergrund spielen konnte. Wie sehen Sie das?

Bierhoff: Michael war damals eine Ausnahmeerscheinung und der herausragende Spieler der Mannschaft, insofern war seine Verletzung ein Schock für uns und für ganz Fußball-Deutschland. Aber auf der anderen Seite gab sein Ausfall natürlich anderen Spielern Raum und Platz. Sie mussten plötzlich Verantwortung übernehmen, was mit Michael in der Mannschaft zu diesem Zeitpunkt so nicht der Fall gewesen wäre. Gleichzeitig wurde die Erwartungshaltung an uns durch diesen Ausfall deutlich gesenkt und auch das hat dem relativ jungen Team gutgetan. Diese Konstellation hat zu dieser unglaublichen Mannschaftsleistung in Südafrika geführt.

War das der Beginn einer Entwicklung, die bei der WM 2014 ihren Höhepunkt fand?

Bierhoff: Auf jeden Fall. Für mich hat man 2010 das erste Mal den Erfolg des im Jahr 2000 gestarteten Talentförderprogramms gesehen. Die jungen Spieler, von denen mehrere im Jahr zuvor U21-Europameister geworden waren, waren die ersten Profis, die von diesen Änderungen in der Nachwuchsausbildung profitiert hatten. Es stand mit einem Mal ein anderes Deutschland auf dem Platz, sowohl von der Spielweise her als auch vom hohen Anteil an Spielern mit Migrationshintergrund. Für mich war das der Start einer traumhaften Phase, die trotz zwei, drei Rückschlägen bis 2016 angehalten hat. Wir haben damals über mehrere Jahre nicht nur erfolgreichen, sondern auch sehr attraktiven Fußball gespielt.

Trotzdem reichte es trotz guter Leistungen und einem extrem breit besetzten Kader bei der EM 2012 wieder nicht zum Titel, wofür vor allem Jogi Löw nach dem Halbfinal-Aus gegen Italien massiv in der Kritik stand. Er hat sich nach dem Turnier erstmal Monate lang aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Wie nah war er dran, als Bundestrainer hinzuschmeißen?

Bierhoff: Tatsächlich haben die EM-Turniere 2012 und 2016 für mich einen bitteren Beigeschmack, weil wir beide Male den Titel hätten holen können, wenn nicht sogar müssen. Die Qualität hatten wir. Der K.o. 2012 gegen Italien war für uns alle, aber auch für Jogi schon ein herber Schlag, weil in den Jahren zuvor bis zu diesem Spiel alles rund gelaufen war, alle Maßnahmen und Entscheidungen gepasst hatten. Ich habe mich eigentlich nach jedem Turnier gefragt: Macht der Bundestrainer weiter? Auch 2014, 2016 und 2018. Für diese Entscheidung musste man Jogi immer etwas Zeit lassen. Aber gerade 2012 konnte ich trotz der großen Enttäuschung relativ schnell erkennen, dass er unglaublich viel Spaß an der Arbeit mit der Mannschaft und eine sehr enge Bindung zu den Spielern hatte. Das hat der WM-Titel zwei Jahre später bestätigt.

Es gab bei Löw immer wieder den Vorwurf, Spiele vercoacht zu haben. Wie groß war denn Ihr Einfluss, ihn vielleicht auch mal von Fehlentscheidungen abzuhalten?

Bierhoff: Wir haben ständig im Team diskutiert, und meine Meinung wurde im Trainerkreis immer gehört, das ist jetzt bei Hansi Flick genauso. Aber es war auch eine Stärke der sportlichen Leitung, dass jeder genau wusste, welche Position er hat. Was auf dem Platz passiert, entscheiden die Trainer und die letzte Entscheidung trifft der Bundestrainer. Und sehr häufig war es auch so, dass ich anderer Meinung als Jogi war, aber seine Maßnahmen voll aufgegangen sind. Da habe ich dann immer gemerkt, welche Qualitäten er als Trainer hat. Deshalb hatte ich nie den Anspruch, sportliche Entscheidungen zu beeinflussen.

Juni 2014: Multikulti mit Lukas Podolski im deutschen WM-Quartier Campo Bahia während der WM in Brasilien.
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Juni 2014: Multikulti mit Lukas Podolski im deutschen WM-Quartier Campo Bahia während der WM in Brasilien.

Der Höhepunkt der gemeinsamen Arbeit mit Löw war sicherlich der WM-Triumph 2014 in Brasilien. Lag ihr größter Anteil an der erfolgreichen Mission in der Entscheidung zum Bau des Mannschaftsquartiers "Campo Bahia"? Und wie knapp war es mit der rechtzeitigen Fertigstellung?

Bierhoff: Im Nachhinein bin ich schon stolz auf die Umsetzung unserer Idee. Ich muss aber zugeben, dass ich das Projekt etwas unterschätzt habe. Fünf Tage vor unserer Abreise nach Brasilien hat mich der Bauleiter angerufen und gesagt: Hier steht noch keine Küche. In dem Moment ist mir bewusst geworden, welche Verantwortung ich für die Mannschaft habe. Manche Spieler bereiten sich ewig auf so einen Karriere-Höhepunkt vor und dann gelingt es mir womöglich nicht, die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Turnier zu schaffen. Und ich wusste, dass es wahrscheinlich mein berufliches Ende beim DFB gewesen wäre, hätte es mit dem Campo Bahia nicht geklappt. Aber auch dieses Beispiel bestätigt: Ohne Risiko kann der große Wurf nicht gelingen.

Welche besonderen Momente sind Ihnen vom Turnier geblieben?

Bierhoff: Hängen geblieben ist sicherlich vor allem der 7:1-Sieg im Halbfinale über Brasilien und diese erschreckende Stille im Stadion von Belo Horizonte, wo wir wirklich mit den Menschen gelitten und uns draußen auf der Bank gedacht haben: Jungs, bleibt einfach stehen und hört auf, weiter Tore zu schießen. Ich bin sehr stolz darauf, dass die Mannschaft die Partie mit Demut und fairem Sportsgeist zu Ende gespielt hat.

Welchen Erinnerungen haben Sie an die letzten Minuten des Endspiels gegen Argentinien?

Bierhoff: Ich saß relativ nahe am WM-Pokal und hatte immer das Gefühl, dass der ein Stückchen mehr auf unserer Seite steht. (lacht) Natürlich haben wir alle eine unglaubliche Anspannung gespürt, aber irgendwie hatten wir das Gefühl: Die Zeit ist reif, das ist diesmal unser Ding.

Sie haben selbst den bitteren Beigeschmack beim unnötigen Halbfinal-Aus 2016 erwähnt, 2018 bei der WM und 2021 bei der EM scheiterte die Mannschaft dann noch deutlich früher. Sehen Sie im Nachhinein einen Grund, warum es nach der Nacht von Rio abwärts ging?

Bierhoff: Ich möchte schon darauf hinweisen, dass es nicht die gesamte Zeit bis 2021 nur noch sportliche Rückschläge gab, auch wenn das manchmal so dargestellt wird. 2016 hatten wir eine hohe Qualität im Team, haben Frankreich im Halbfinale phasenweise schwindelig gespielt und sind dann durch einen ärgerlichen Handelfmeter auf die Verliererstraße geraten. 2017 haben wir souverän den Confed Cup und obendrein jedes Länderspiel in diesem Jahr gewonnen. Und als wir im Frühjahr 2018 vor der WM 1:1 gegen Spanien gespielt haben, war in den meisten Medien die Rede davon, dass sich in diesem Spiel die beiden aktuell stärksten Mannschaften der Welt gegenüber gestanden hätten. Deshalb tut es mir ein bisschen weh, wenn man aus einem schlechten Turnier gleich fünf, sechs schlechte Jahre macht.

Weil am Ende die Leistungen bei Turnieren maßgeblich für die Bewertung sind.

Bierhoff: Es ist nach einem großen Titelgewinn einfach schwer, dieses hohe Niveau zu halten. Das war bei fast allen anderen Nationen auch so, nicht ohne Grund sind mit einer Ausnahme seit 2002 alle Weltmeister im darauffolgenden Turnier schon in der Gruppenphase ausgeschieden. Ob Frankreich, Spanien oder Italien: wahrscheinlich wird unterbewusst der entscheidende Knopf nicht gedrückt, um nochmal die letzten Prozente rauszuholen. Man geht nicht mehr an die Grenze, obwohl man es will. Das war bei uns vor allem 2018 der Fall.

Der Schock danach in der Öffentlichkeit war vielleicht auch deshalb so groß, weil sich die deutsche Mannschaft über Jahrzehnte bei Turnieren auch dann durchgemogelt hat, wenn sie nicht so schönen Fußball gespielt hat und nie in einer WM- Vorrunde ausgeschieden sind.

Bierhoff: Aber bei der EM 1968 war Deutschland gar nicht dabei und ist bei den Turnieren 2000 und 2004 auch in der Vorrunde ausgeschieden. Unabhängig davon ist es aber richtig: Wir hatten von den Namen her 2018 weiterhin eine sehr hohe Qualität im Kader, aus der man schon den Anspruch an uns ableiten konnte, jedes Spiel gewinnen zu müssen. Aber die Konstellation innerhalb der Mannschaft hat irgendwie nicht gepasst.

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