Hakim Ziyech vom FC Chelsea: Der emotionale Weg des Pseudo-Rebellen

Von Frederick Müller
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Niederländische Schule ist für Ziyech das Schlaraffenland

"Mein Vater ist auch vor meinem Durchbruch als Profi gestorben. Ich sagte Hakim: 'Unsere Väter gucken uns aus dem Himmel zu und wir müssen sie stolz machen. Reiß dich zusammen, mach dir keine Sorgen, leg los'", erzählte Doufikar mal im Guardian. De Jong beschreibt Ziyechs Charakter: "Er war zurückgezogen, unnahbar, introvertiert, aber immer von seiner Meinung überzeugt."

Zu seinem eigenen Glück ist er nicht beratungsresistent. Auf dem Weg zur Volljährigkeit findet Ziyech zurück in die Spur. "In der Zeit hat er endlich verstanden, was nötig ist, um auszubrechen. Und von da an wurde er besser und besser", sagt de Jong. Ziyech sieht Dinge auf dem Feld, die kein anderer sieht, und kann mit seiner atemberaubenden Technik jeden Raum bespielen, den er will. Mit seinen Trainern arbeitet er an seiner körperlichen Stabilität, wird explosiver, ausdauernder, stärker, ohne groß Muskelmasse aufzubauen, was für seinen Spielstil bis heute gar nicht nötig ist.

Künstler müssen keine Gewichte stemmen. Sie müssen frei sein. "Wenn du einen guten Fußballspieler hast, musst du ihn spielen lassen und nicht zu viel sagen", beschreibt de Jonge. Die typisch niederländische Schule ist für einen Trickser und Freigeist wie Ziyech das Schlaraffenland. Ohne Ball hält er sich an die wenigen Zwänge, die ihm auf der Zehnerposition auferlegt sind. Mit Ball folgt er seinem Instinkt. Und macht den Unterschied.

Hakim Ziyech: Leistungsexplosion, Kapitän und Wechsel

Sein Profidebüt gibt er mit 19 für Heerenveen, der Durchbruch gelingt ihm aber erst ein Jahr später. Er spielt noch eine Spielzeit in der U21 (unter Trainer de Jonge) und macht Heerenveen zur besten Nachwuchsmannschaft des Landes. Spätestens jetzt kommt Proficoach Marco van Basten nicht mehr an ihm vorbei. Ziyech macht fast jedes Spiel und liefert bahnbrechende 21 Scorerpunkte in seiner ersten vollständigen Profisaison.

Für Ziyech ein Jahr zu spät. Er ist nachtragend aufgrund der Herabsetzung in den Nachwuchskader in der Vorsaison. "Er hätte viel früher kommen können", denkt Ziyech rückblickend über seinen Durchbruch, "van Basten wechselte mich in der Halbzeit aus (beim Eredivisie-Debüt, 2012/2013, Anm.) und steckte mich danach in die U21, ohne Erklärung. Er sprach nicht mehr mit mir. Van Basten ist ein großer Name, aber kein Top-Trainer."

Das sagt er, als er sich innerhalb eines Jahres in seinem neuen Verein zum Kapitän gespielt hat. Nach seinem endgültigen Aufstieg zum Profi stehen die Klubs Schlange. Sein Wechsel zu Twente Enschede und nicht in die große weite Welt zeugt von Umsichtigkeit. Geht aber rückblickend nach hinten los.

Hakim Ziyech als Dickschädel - und Genie

Jahrelange Misswirtschaft beschert Twente zwar die Meisterschaft 2010 und regelmäßige Teilnahmen am Europapokal, fällt dem Verein aber ausgerechnet nach Ziyechs Ankunft auf die Füße. Die besten Spieler werden verscherbelt und durch mittelmäßige ersetzt. Und Ziyech steht plötzlich als Künstler ohne Leinwand da. Twente schneidet schlechter ab als Heerenveen. Ziyech ist frustriert.

Gegenüber de Volkstrant spricht er sich den Frust von der Seele, rechnet nicht nur mit der niederländischen Ikone van Basten ab, sondern auch mit seinem aktuellen Verein, blökt über den Rauswurf des Trainers Alfred Schreuder, zu dem er ein gutes Verhältnis hatte, lästert über Mitspieler und spricht drakonisch über seine Wechselabsichten.

Das erste Mal erkennt auch die Öffentlichkeit in aller Deutlichkeit, dass da "kein einfacher Kerl", wie er selbst wiederholt betont, die Eredivisie aufmischt. Das Kapitänsamt von Enschede ist er los, sportlich führt trotzdem kein Weg an ihm vorbei. Ziyech verhindert mit genialen Assists und Toren den vollständigen Absturz, hält den Verein in seinem zweiten Jahr in der Liga, liefert beeindruckende Zahlen und sorgt mit seinem unglaublichen linken Fuß für geöffnete Kinnladen.

Wenig später bekommt er in Amsterdam endlich das konkurrenzfähige Team an die Seite gestellt, das er verdient. Unter Peter Bosz und danach Erik ten Hag steigt Ajax zum Glanz verloren geglaubter Zeiten empor. Ajax gewinnt 2019 Meisterschaft und Pokal und begeistert mit einem Sturmlauf bis ins Halbfinale der Champions League ganz Europa. Ziyech ist der wahrscheinlich beste Spieler der Eredivisie. Und bleibt sich jederzeit treu.

Van Basten über Ziyech: "Wie kann man so blöd sein?"

In Amsterdam gibt es vor allem zu Beginn Zerwürfnisse mit den eigenen Fans, weil er keinen Hehl daraus macht, dass er keine große Liebe dem Klub gegenüber empfindet. Viele Niederländer nehmen ihm auch die Entscheidung für die marokkanische Nationalmannschaft, mit der er 2018 an der Weltmeisterschaft teilnimmt, gegenüber der Elftal übel.

Van Basten wird daraufhin sogar ausfällig: "Wie kann man so blöd sein und Marokko der niederländischen Nationalmannschaft vorziehen?" Ziyech spricht von einer Entscheidung des Herzens und betont die Wertschätzung, die ihm in Marokko entgegengebracht wird: "Je besser ich spiele, desto weniger interessieren sich die Leute hier für mich. In den Niederlanden suchen die Leute immer das Negative."

All diese Geschichten sind prädestiniert dafür, Ziyech in die Ecke des Bad Boys zu stellen. Der Unruhe stiftende Bösewicht. Der Straßenjunge. Damit macht man es sich aber zu leicht. "Gute Spieler sind nie einfach", sagt de Jonge, "du brauchst deine eigene Meinung." Ziyech vertritt sie, wann immer er es für richtig hält, wird aber nie unfair. Wie ihm zugespielt wird, so kommt es zurück.

"Du musst ihn von deinem Weg überzeugen", sagt U17-Trainer de Jong, "wenn er denkt, was er tun soll, ist nicht hilfreich, bekommst du ein Problem mit ihm." Gelingt Chelsea-Coach Tuchel die Überzeugungsarbeit, hat er einen außergewöhnlichen Offensivspieler in seinen Reihen, der auch in Chelseas erstem Champions-League-Viertelfinale seit 2014 gegen Porto den Unterschied ausmachen kann. Der liefert, auch wenn es in ihm mal brodelt. Und den man selbst dann einfach mal machen lassen sollte.

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