Hakim Ziyech vom FC Chelsea: Der emotionale Weg des Pseudo-Rebellen

Von Frederick Müller
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© getty

Eine Geschichte über Familie, Verlust und Glaube in sich selbst: Wie es Chelseas Hakim Ziyech als Straßenfußballer auf die europäische Fußballbühne geschafft hat.

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Diese Geschichte erschien zuerst auf DAZN.

Kleine Gesten haben oft eine große Bedeutung. Als sich Hakim Ziyech nach seinem entscheidenden 2:0 gegen Sheffield United im FA Cup mit der rechten Hand ruckartig über dem Mund fährt, um mit einem imaginären Reißverschluss seine Lippen zu versiegeln, ist das ein Zeichen an jeden da draußen: Lasst mich in Ruhe. Haltet alle die Klappe. Und verdammt nochmal, lasst mich mal machen.

Die Aktion ist typisch für den 28-Jährigen. Nicht weil er nicht kritikfähig wäre. Vielmehr weil er schon immer geradeaus sagt und tut, was er für richtig hält. Ohne Filter, Abwägungen oder Skrupel. Und jetzt gerade, nach seinem späten Jokertor gegen Sheffield, ist er eben sickig. Motzig. Unzufrieden mit seinen Einsatzzeiten, wie mit ihm umgegangen wird, verärgert über seine Bewertungen und mangelnde Wertschätzung.

Seit zehn Monaten trägt Ziyech nun das blaue Shirt des FC Chelsea. Und hat noch nicht den Einfluss auf sein neues Team, wie manch einer sich das von einem 40 Millionen Euro teuren Offensivspieler wünscht. Dass Ziyech vor seinem ersten Spiel für Chelsea sieben Monate lang kein Pflichtspiel bestritten hat? Dass die Vorbereitung von einer blöden Knieverletzung geprägt war? Dass Frank Lampard, immerhin Ziyechs Hauptgrund, nach London zu gehen, nicht mehr sein Trainer ist? Geschenkt. Du bringst es nicht, dann bist du es nicht.

Auch der neue Trainer setzte in den ersten Wochen nicht auf ihn. Thomas Tuchel fuhr zwar bis zum 2:5 gegen West Bromwich am vergangenen Wochenende gute Ergebnisse ein, Ziyech hatte damit aber wenig zu tun. Erst in den letzten zwei Spielen vor der Länderspielpause konnte er endlich auf sich aufmerksam machen, erzielte das wichtige 1:0 im Champions-League-Rückspiel gegen Atletico Madrid und eben die späte Entscheidung beim 2:0 gegen Sheffield. Andeutungen dafür, wie wichtig er sein kann. Und Zeichen an den Coach: Hier bin ich. Sprich mit mir. Arbeite mit mir, beziehe mich mit ein. Und ich zahle es dir zurück.

Ziyech war noch nie ein Mitläufer, der unter dem Radar fliegt. "Ich sage, was ich denke. Deswegen bin ich für manche Trainer schwierig", behauptet er einmal in der niederländischen Zeitung de Volkskrant über sich selbst. "Die schwierigen Typen setzen sich meistens durch. Die Ja-Sager schaffen es häufig nicht." Ziyech eckt an, bei Trainern, im Klub, den Fans. So hat er es aus der armen Großfamilie in die große Glamourwelt des Fußballs geschafft.

"Mit zehn realisierst du nicht, was der Tod bedeutet"

Geboren und aufgewachsen als kleiner dünner Junge und jüngstes von neun Kindern einer marokkanischen Einwandererfamilie in der niederländischen Kleinstadt Dronten, lernte Ziyech auf der Straße, dass sich nur der durchsetzt, der meinungsstark und selbstbewusst ist. Im Straßenfußball zwischen den Häusern muss er ständig den Tritten und Attacken der robusten, älteren Gegenspieler ausweichen. Wenn du fällst, tut es auf dem erbarmungslosen Asphalt besonders weh. Ziyech entwickelt eine Mentalität, die ihn durchhalten lässt, und eine Technik und Übersicht, von der er bis heute zehrt.

Auf den menschlichen Verlust kann ihn jedoch nichts vorbereiten. Ziyech ist zehn, als sein Vater stirbt. Er spricht seit Jahren offen über die familiäre Tragödie. Papa Ziyech ist krank, leidet unter Multiple Sklerose, raucht viel, arbeitet hart als Metallarbeiter. Um die Weihnachtstage 2003 geht es ihm schlechter und schlechter. Sein jüngster Sohn schläft in seinen letzten Momenten noch an seiner Bettkante ein, geht dann später ins eigene Zimmer. In derselben Nacht verstirbt das Familienoberhaupt. "Und dann stehst du da als zehnjähriges Kin ...", schildert es Ziyech unter anderem im Algemeen Dagblad.

"Mit zehn realisierst du noch nicht, was der Tod bedeutet", rekapituliert er. Das wird erst ein paar Jahre später folgen. Also macht Ziyech weiter. Die Mutter ist nun allein mit neun Kindern, zwei fußballerisch ebenfalls talentierte Brüder kommen mit dem Gesetz in Konflikt und fliegen aus der Nachwuchsakademie. Hakim und seine Gabe sind die letzte Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Familie Ziyech.

Die Räder des ausgezeichneten niederländischen Scoutingsystems greifen und es dauert nicht lange, bis das Naturtalent in die Akademie des SC Heerenveen eintritt. "Wir mussten ihm nicht das Fußballspielen beibringen", erinnert sich sein Jugendcoach Jan de Jonge im Gespräch mit DAZN. Doch der Straßenfußballer in ihm machte sich nicht nur auf dem Platz bemerkbar: "Wir mussten ihm Dinge über das Leben beibringen."

Hakim Ziyech: "Ich gab einen Scheiß auf die Welt"

Spätestens als Teenager holt Ziyech der Verlust seines Vaters ein. Andere Väter stehen am Spielfeldrand, jubeln ihren Kids zu, unterstützen sie. Dem besten Spieler auf dem Feld bleiben nur die wenigen Erinnerungen daran. Er wird aufmüpfig, mürrisch, fast rebellisch. Die Gleise der schiefen Bahn sind verlegt. "Ich gab einen Scheiß auf die Welt. Ich ging nicht mehr zur Schule. Fußball interessierte mich nicht mehr. Ich war komplett verloren", erinnert er sich Jahre später.

In den Geschichten über ihn halten sich Gerüchte, Ziyech sei ins Schattendasein abgedriftet, hätte Drogen konsumiert, viel geraucht und getrunken. Wirklich stichfest sind sie nie, heute herrscht Stillschweigen darüber. "Dass Hakim der schiefen Bahn nicht folgte, war eine unglaubliche Leistung", sagt de Jonge nur. Nicht nur von Ziyech selbst, sondern auch von seinem Umfeld, wie der Jugendcoach mit Stolz erzählt: "Es war wichtig, ihm immer wieder einzutrichtern, was er erreichen kann, wenn er auf dem Rasen bleibt. Denn dort war er am besten."

"Wir haben ihm immer wieder klargemacht: Junge, du hast Gold in deinen Händen", sagt auch Hans de Jong zu DAZN, sein Trainer in der U17. Auch seine älteren Brüder waschen ihm regelmäßig den Kopf. Aziz Doufikar, erster marokkanischer Fußballprofi in den Niederlanden, heute Jugendarbeiter in Dronten und Ziyechs Ziehvater und Mentor seit dessen Kindheit, bietet ihm die gewohnt starke Schulter.

Hakim Ziyech während seiner Zeit bei Ajax Amsterdam.
© imago images / Pro Shots
Hakim Ziyech während seiner Zeit bei Ajax Amsterdam.

Hakim Ziyech: Leistungsdaten seiner Karrierestationen

ZeitraumVereinPflichtspieleToreVorlagen
2012-2014SC Heerenveen461311
2014-2016Twente Enschede763430
2016-2020Ajax Amsterdam1654981
seit 2020FC Chelsea3254
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