Der Sündenbock aus Oberhausen

Uwe Morawe
27. Mai 201422:54
Die deutsche Nationalmannschaft mit Sepp Herberger (3. v. l.) und Erich Juskowiak (2. v. l.)imago
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Am 12. Juni beginnt die WM 2014 in Brasilien. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 6, die WM 1958 in Schweden: Eine irrsinnige Schiedsrichter-Ansetzung, der Zufallsweltmeister und das Karriereende des Erich Juskowiak.

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Hühnersuppe mit Eierstich. Erich Juskowiak stocherte lustlos in seinem Süppchen herum. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals bei einem Bankett der Nationalmannschaft einen anderen ersten Gang bekommen zu haben als Hühnersuppe mit Eierstich. Nach jedem Länderspiel. 25 Mal dieselbe klare Brühe mit Einlage. Seine Silberjubiläumssuppe. 25 war ab heute die Unglückszahl des Erich Juskowiak.

Doktor Peco Bauwens, der eitle Präsident des DFB sprach immer noch erregt auf der kleinen Bühne. Bauwens beharrte auf seinem Doktortitel, obwohl sich längst herumgesprochen hatte, dass er niemals dissertiert hatte. Der Mann hörte sich gern zackig reden. Nimmermehr in Zukunft des Verbandes werde Deutschland ein Länderspiel mit den Schweden arrangieren. Die Vorgänge von heute ungeheuerlich! Skandalös! Unverzeihlich!

Diese herausgepressten Worte drangen nur wie durch Watte ans Ohr von Erich Juskowiak, er hörte kaum zu. In aufgeheizter Atmosphäre hatte nachmittags Deutschland das Halbfinale gegen WM-Gastgeber Schweden mit 1:3 verloren. Unglücklich, unverdient und mit einem Sündenbock. Ihm, Rechtsverteidiger Juskowiak, der sich zu einem Revanchefoul hatte hinreißen lassen und die Mannschaft durch seinen Platzverweis entscheidend schwächte.

Der Zufallsweltmeister

Nach dem Schlusspfiff ließ Bundestrainer Sepp Herberger vor dem Kabinentunnel des Göteborger Stadions die abgekämpften Spieler wortlos an sich vorbeiziehen. Derart ausgebrannt hatte man Herberger noch nie gesehen. Erst dieser leere Blick verriet, wie sehr der Chef an die Möglichkeit einer Titelverteidigung geglaubt hatte. In der Öffentlichkeit hatte Herberger zuvor stets betont, dass Deutschland ein noch größerer Außenseiter sei als beim Triumph 1954.

Das Auseinanderfallen der Berner Elf, die Formschwäche und die Fälle von Gelbsucht bei den Leistungsträgern. Dazu der Rücktritt von Kapitän Fritz Walter. Als Zufallsweltmeister war Deutschland tituliert worden. In den Jahren 1955 und 1956 setzte es mehr Niederlagen als Siege. Hinzu kamen die Eskapaden von Helmut Rahn. Donnerte der doch vollalkoholisiert sein Auto in eine Baugrube und fing eine Schlägerei mit Polizisten an. Vier Wochen Gefängnis und die Verbannung aus der Nationalmannschaft waren die Folge.

Herberger hatte erkannt, ohne seine beiden Lieblinge wäre nichts zu holen. Er überredete den Fritz zum Comeback und rehabilitierte Helmut Rahn. Mit Linksaußen Hans Schäfer, dem neuen Kapitän, waren die drei Korsettstangen gefunden. Darum herum aufstrebende junge Spieler wie Horst Szymaniak und Uwe Seeler. Diese Mannschaft hatte vielleicht nicht ganz die Klasse wie 1954, doch sie hatte Seele und Moral. In allen drei Gruppenspielen wurde nach Rückstand noch gepunktet. Das Viertelfinale gegen Jugoslawien durch Disziplin und Willenskraft mit 1:0 für sich entschieden.

Juskowiak mit Kugel im Kopf

Mit diesen Tugenden kannte sich Erich Juskowiak aus. Mit 18 Jahren war er ohne soldatische Ausbildung in den letzten Tagen des 2. Weltkriegs noch verheizt worden. Steckschuss im Kopf, das Überleben ein Wunder. SPOX

Die Kugel blieb ein Leben lang in seinem Hirn, inoperabel. Kämpfen, kämpfen und die Kameraden nie enttäuschen. Lebensmotto und Spielweise als Fußballer. Bis zum heutigen Tag, bis zum verhängnisvollen Tritt in die Beine des Schweden Kurt Hamrin.

Warum ein Schiedsichter aus Ungarn?

Nicht Schiedsrichter Zsolt würde man die Schuld an der Niederlage zuweisen, der nahezu jede Situation für die Schweden entschieden hatte. Klares Foul an Helmut Rahn, kein Elfmeter. Handspiel vorm 1:1, Weiterspielen. Hamrins Ellbogenschlag in die Rippen, der zu seiner verhängnisvollen Kurzschlussreaktion führte - ohne Folgen.

Wie hatte man überhaupt einen Schiedsrichter aus Ungarn ansetzen können, nachdem die Deutschen den Stolz dieser Nation im Finale von Bern vor vier Jahren zerstört hatten?

Torwart Herkenrath würde davonkommen, obwohl er bei zwei Gegentoren patzte. Dass die schwedischen Verteidiger Axbom und Parling Fritz Walter aus dem Spiel traten und die Mannschaft praktisch zu Neunt war, als die entscheidenden Treffer fielen - eine Randnotiz.

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Nein, der Hauptschuldige am deutschen Ausscheiden war einzig und allein Erich Juskowiak. Jeder würde das so sehen. Konnte er keinem verübeln. Tat Juskowiak ja auch selber, wie er hier saß und in der Hühnersuppe rührte.

Der hagere Bauwens salbaderte immer noch. Man werde Zeichen setzen und als erster Halbfinalist der WM-Geschichte das Schlussbankett der FIFA boykottieren, soviel stehe fest. Juskowiak kannte die Gepflogenheiten des DFB. Gleich würde die Rede des Präsidenten enden und damit seinen Gang aufs Schafott einläuten. Es war so weit...

Doktor Peco Bauwens änderte die Tonlage: "Abschließend möchte ich noch den Sportskameraden Juskowiak auf die Bühne bitten. Diese Ehrennadel des Deutschen Fußball Bundes möge Sie auf ewig an Ihr silbernes Jubiläum anlässlich Ihres 25. Länderspiels für Deutschland erinnern."

Erich Juskowiak schob seinen Stuhl nach hinten, richtete sich auf und setzte unter eisigem Schweigen den ersten Schritt in Richtung Podium.

Frieden nicht gefunden

Herberger redete drei Tage lang kein Wort mit Juskowiak. Erst ein Telefonat mit seiner Frau Eva stimmte ihn um, ein Gespräch zu suchen, das folgendermaßen abgelaufen sein soll: "Erich, ich verzeihe Ihnen unter einer Bedingung: wir ziehen einen Strich unter die Sache und sprechen nie mehr darüber bis an unser Lebensende."

Das ist Wiederaufnahme und Verstoßung zugleich. Zwar absolvierte Juskowiak anschließend noch sechs weitere Länderspiele, doch den inneren Frieden fand er nie wieder. Kurz nach seinem Karriereende wurde er wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses - scheinbar Exhibitionismus - zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt.

Darüber schämte sich Juskowiak derart, dass er jeglichen Kontakt zur Fußballszene abbrach. Anfang der 80er Jahre ließ sich Juskowiak von der "Bild" überreden, bei einer inszenierten Versöhnung mit Kurt Hamrin mitzumachen. SPOX

Was sonst noch wichtig war:

  • Im sechsten Anlauf hatte die FIFA endlich ein taugliches WM-Format gefunden. Vier Vierergruppen, jeder gegen jeden, und danach K.o.-System. Bis auf die WMs 1974 und 1978 mit ihren unsinnigen zweiten Gruppenphase spielt man dieses Format mit zwischenzeitlichen Modifikationen bis heute.
  • Zum einzigen Mal konnten sich alle vier britischen Verbände England, Wales, Schottland und Nordirland qualifizieren. Pech für Wales, dass man beim knappen 0:1 im Viertelfinale gegen Brasilien auf seinen besten Mann, den "Gentle Giant" John Charles verzichten musste. John Charles ging nach der WM zu Juventus Turin und gilt bis heute als der einzige Spieler, der auf den drei Positionen Innenverteidiger, defensives Mittelfeld und Mittelstürmer absolute Weltklasse verkörperte.
  • Die Weltmeisterschaft wurde immer mehr zum Schaufenster für den sich beschleunigenden Transfermarkt. Wenn auch nicht immer mit Erfolg. Real Madrid verpflichteten die beiden Franzosen Raymond Kopa und Lucien Muller sowie den brasilianischen Regisseur Didi. Alle drei können sich bei den Königlichen nicht durchsetzen, weil Di Stefano keine anderen Könige neben sich duldet.
  • Frankreichs Superstürmer Just Fontaine stellte mit 13 Turniertoren einen ewigen Rekord auf. Für die Nationalmannschaft erzielte er insgesamt 30 Tore in nur 21 Länderspielen. Zwei Jahre nach der WM erlitt er einen fürchterlichen Schienbeinbruch, der seine Karriere mit nur 27 Jahren beendete.
  • Brasiliens Superstars Garrincha und Pele waren zu Turnierbeginn nicht einmal gesetzt. Sie kamen erst nach dem enttäuschenden 0:0 gegen England zum Einsatz, um im letzten Gruppenspiel gegen die UdSSR das Vorrunden-Aus abzuwenden. Pele profitierte dabei von einer Verletzung des 18-jährigen Mazzola. Der hatte im ersten Spiel gegen Österreich einen Doppelpack geschnürt und wäre wohl weiterhin gesetzt gewesen. Mazzola ging anschließend zum AC Mailand, und spielte dort unter seinem eigentlichen Namen Jose Altafini. Sein Künstlername Mazzola wäre in Italien als pietätlos empfunden worden, da er sich nach dem verunglückten AC-Turin-Kapitän Valentino Mazzola benannt hatte.
  • Garrincha hatte sich vor Turnierbeginn den Zorn von Trainer Feola zugezogen. Bei einem Vorbereitungsspiel in Italien hatte Garrincha vier Abwehrspieler plus Torwart umdribbelt und - statt den Ball ins leere Tor zu schieben - draufgetreten, um auf weitere Italiener zu warten, die er auch noch ausspielen könne.
  • Brasiliens Kapitän Bellini war der erste Spieler, der auf die heute profan anmutende Geste kam, den Pokal mit beiden Händen in die Höhe zu halten. Hatte man unglaublicher Weise zuvor nie gesehen.

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