Am 12. Juni beginnt die WM 2014 in Brasilien. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 3, die WM 1938 in Frankreich: Ein Glückszeh, drei Vereinswechsel in einer Nacht und die Mahlsteine der Weltpolitik.
Es war ein Abend ganz nach seinem Geschmack. Ernst Willimowski fühlte sich pudelwohl in diesem Nachtclub. Willimowski spürte, wie sich der Alkohol in seinem Blut in Wohlbehagen verwandelte. Diese Fermentierung funktionierte bei ihm nach körperlicher Anstrengung noch besser als gewöhnlich.
120 Minuten war Willimowski gerannt und gesprintet. Nach großem Kampf hatte die polnische Nationalmannschaft gegen Brasilien mit 5:6 nach Verlängerung verloren. Trotz dieser heroischen Leistung schalteten die polnischen Funktionäre sofort in den Verwaltungsmodus. Abmarsch ins Mannschaftshotel, Nachtruhe 22 Uhr, morgen früh gesammelte Abfahrt in die Heimat. Da kannten Sie ihren Ernst Willimowski aber schlecht. Ausgebüchst war er.
Denn als Verlierer fühlte er sich nun wahrlich nicht. Vor dem ersten Tor den Elfmeter rausgeholt, die weiteren vier Treffer selbst erzielt. Ernst Willimowski hatte am 5. Juni 1938 Fußballgeschichte geschrieben. Vier Tore gegen Brasilien! Seit heute kannte ihn die ganze Welt. Das musste gefeiert werden. Ernst Willimowski sah sich schon immer als Glückskind unter der Sonne - und der heutige Tag war der endgültige Beweis dafür.
Die ersten Sambaklänge
Es war nicht allzu schwer gewesen, sich in der kleinen Innenstadt von Straßburg an die Fersen der Brasilianer zu heften. Die südamerikanischen Anhänger in der Stadt hatten ihn sofort erkannt, ihm anerkennend auf die Schultern geklopft und ins Lokal der brasilianischen Mannschaft geführt. Da saß er nun lachend im fremden Stimmengewirr, 21 Jahre jung, sommersprossig mit roten Haaren, nun ja, leichte Segelohren, und hörte zum erstenmal in seinem Leben Sambaklänge.
Dass er doppelt und dreifach trank inmitten seiner Gegner vom Nachmittag, das erschien ihm logisch. Brasilien war ja im Turnier verblieben, die mussten sich zurückhalten. Er dagegen konnte einen draufmachen. Und gleich würde er seine ganz spezielle Nummer abziehen, die würden staunen, die Brasilianer! Der Beweis, dass er war, was er war: etwas besonderes, ein Glückskind!
Geboren als Otto Prandella
Wer zum Beispiel hatte denn schon drei Namen in seinem Stammbuch stehen? Geboren 1916 als Ernst Otto Prandella in Kattowitz. Den deutschen Vater lernte er nie kennen, gefallen im Ersten Weltkrieg. Die Mutter heiratete ein zweites mal, diesmal einen Polen, er übernahm den Nachnamen des Stiefvaters. In Polen hieß er nun Ernest Wilimowski, im Deutschen Ernst Willimowski.
Deutsch oder polnisch war Willimowski völlig schnurzpiepe, er wollte Spaß. Im Sport war Ernst von kleinauf überall der Beste. Handball, Eishockey, vor allem Fußball. Als 18-Jähriger gleich in der ersten Saison Torschützenkönig, Nationalspieler und polnischer Meister. Insgesamt schoss Willimowski für Ruch Chorzow in 86 Erstligaspielen sagenhafte 112 Tore. Fast nie mit dem Kopf, sondern kraftvoll dynamisch mit rechts, gefühlvoll geschnippelt mit links. Das hatte seinen Grund.
Sechs Zehen am linken Fuß
Die Brasilianer wunderten sich, als Willimowski anfing, Schuhe und Socken auszuziehen. Zunächst den rechten Fuß auf den Tisch gehievt zur dramatischen Steigerung des Effekts. Denn jetzt kam der linke - die Südamerikaner machten runde Augen. An diesem Fuß hatte Willimowski nämlich nicht fünf, sondern sechs Zehen. Kommt einmal vor unter 2 Millionen Menschen. Seinen Glückszeh nannte er ihn. Ernst Willimowski gackerte, zeigte mit einem "Polska" auf seinen rechten und mit einem prustenden "Brazil" auf seinen linken. Das Ergebnis des heutigen großen Spiels lag in Form zweier nackter Füsse auf dem Tisch, 6 zu 5. Es wurde ein langer Abend.
Am nächsten Morgen wurde Willimowski vom polnischen Trainer Jozef Kaluza geweckt. Sein väterlicher Freund war erbost. Natürlich wieder der Willimowski. Bereits 1936 war sein Topstürmer wegen Alkoholexzessen für 12 Monate aus der Nationalmannschaft verbannt worden. Jetzt wurde Kaluza von einigen Herren in der Hotellobby die Hölle heiß gemacht.
Scheinbar hatte Willimowski noch in der Nacht drei Verträge unterschrieben. Zwei bei brasilianischen Vereinen, den anderen bei einem französischen. Es wurde auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert. Kein Problem für den verkaterten Willimowski. Er war sich sicher, da würden bessere Angebote kommen. Er war doch nun ein Weltstar und hatte die ganze Karriere vor sich. Mailand, Wien, London, irgendeiner würde sich schon melden.
Seite 1: Der Glückszeh und drei Vertragsunterschriften in einer Nacht
Seite 2: Willimowski zwischen den Mahlsteinen der Weltpolitik
Ein Jahr später, genau vier Tage vor Beginn des Zweiten Weltkriegs schoss Willimowski mit einem Hattrick noch kurz Vizeweltmeister Ungarn aus dem Stadion. Und dann war's leider aus mit dem Glückskind. Der Wunderstürmer geriet mit dem Einmarsch Nazideutschlands zwischen die Mahlsteine der Weltpolitik. Bisher war er weder richtiger Deutscher noch richtiger Pole gewesen, und zugleich sowohl Deutscher als auch Pole. Zwei unterschiedliche Bestandteile in ein und demselben Körper, genau wie seine Füsse.
Willimowski war vor allem Fußballer. Und da das in Polen für ihn nicht mehr möglich war, trug er sich in die deutsche Volksliste ein. Er, der 1934 für Polen gegen Deutschland ein Tor geschossen, trat jetzt für Deutschland gegen den Ball. Sein Verständnis mit dem jungen Fritz Walter war phänomenal. Walter sagte später über Willimowski: "Der einzige Stürmer, den ich je gesehen habe, der mehr Tore machte als er Chancen hatte."
Ganze acht Länderspiele blieben Willimowski noch, bevor der internationale Spielbetrieb eingestellt wurde. In diesen acht Spielen erzielte er 13 Tore. Den TSV 1860 München führte er 1942 zum Pokalsieg und erzielte dabei 14 Treffer - bis heute Rekord für eine einzige Pokalsaison. In seinen Mannschaften war Willimowski überaus beliebt, doch darüberhinaus gab es nur noch Probleme. In seiner alten Heimat galt er als Kollaborateur und Vaterlandsverräter. Sein Name, seine Tore wurden aus den Statistiken in Polen bis 1990 gelöscht.
WM 1954 bleibt verwehrt
Auch in Deutschland stieß er auf Argwohn und kalte Schultern. In den ersten fünf Jahren nach Kriegsschluss fand sich kein Verein, der den Oberschlesier fest verpflichten wollte. Dann heuerte ihn der VfR Kaiserslautern an. Wo hätte Willimowski einst überall spielen können - und nun kickte er im Waldstadion am Erbsenberg.
Doch Ernst Willimowski, dem der Krieg die besten Jahre seines Fußballerlebens genommen hatte, wollte es noch einmal wissen. Die WM-Teilnahme 1954 war sein Ziel. Warum nicht mit 37 Jahren? In der Saison 1952/53 schoss der Goalgetter 31 Saisontore in der Oberliga Südwest, nur sein alter Kumpel Fritz Walter war erfolgreicher. 31 von insgesamt 55 Ligatoren der Durchschnittsmannschaft VfR Kaiserslautern! Wie viele hätten es sein können, wenn er vernünftige Mitspieler gehabt hätte?
Sportlich hatte Willimowski es immer noch drauf, aber Herberger, stets ein Bewunderer seines Spiels, sagte nein. Offiziell, wegen des Alters und weil er in Helmut Rahn schon einen ähnlich draufgängerischen Stürmer hatte. Doch der wahre Grund war offensichtlich: Ernst Willimowski war, ohne irgendetwas dafür zu können, zu einem Politikum geworden. Ein Länderspiel mit Willimowski gegen ein Land aus dem Ostblock, geschweige denn gegen Polen, hätte zu hohe Wellen geschlagen. Aus war's.
Bis zu seinem Tod im Jahr 1997 in Karlsruhe wurde Ernst Willimowski jeden Tag an sein größtes Spiel erinnert. Morgens in der Dusche, wenn er auf seine Füße schaute. Brazil 6, Polska 5. Was der Beginn einer großen Weltkarriere hätte werden können, blieb eine völlig zu unrecht vergessene Episode der WM-Geschichte. Und vor allem eine Studie über die Machtlosigkeit des Einzelnen gegen die Zeitläufe der Geschichte.
Was sonst noch wichtig war
- Auch die Deutschen hatten ihr 6:5-Problem. Nach der Annektierung Österreichs im März stand Bundestrainer Herberger vor einer schier unlösbaren Herausforderung. Deutschland hatte eine gute Mannschaft, Österreich ebenfalls. Die Spielstile und Spielerpersönlichkeiten unterschieden sich jedoch fundamental. Um den "Anschluss" Wiens auch in der Bevölkerung zu verankern, verordnete das Fachamt Fußball, Deutsche und Österreicher im Verhältnis 6:5 oder 5:6 aufzustellen.
Eine nicht verhandelbare Vorgabe. Während sich ein Großteil der österreichischen Bevölkerung mit den neuen Verhältnissen durchaus anfreunden konnte, sah das bei den Wiener Fußballern komplett anders aus. Die besten Spieler, Abwehrmann Karl Sesta und Regisseur Matthias Sindelar machten aus Ihrer Verachtung gegenüber dem deutschen Kraftfußball keinen Hehl und sagten ab. Der Trainer schaffte es nicht, eine halbwegs homogene Mannschaft zu formen. Nicht einmal eine gemischte Sitzordnung war durchzusetzen,die Deutschen und Ösis aßen an getrennten Tischen und schnitten sich gegenseitig auf dem Spielfeld. Kein Wunder, dass die zusammengewürfelte Elf an der Schweiz scheiterte. Bis heute das einzige WM-Erstrundenaus einer deutschen Mannschaft.
- Im Viertelfinale gegen Frankreich trat Titelverteidiger Italien ganz in Schwarz an. Für die nicht mehr allzu zahlreich verbliebenen Demokratien in Europa ein echter Affront. Schwarz war die Farbe der Faschisten Mussolinis, die Trikotwahl eine nie da gewesene politische Provokation. Ansonsten errang die Squadra Azzura im Gegensatz zur WM 1934 den Titel auf sauberem Wege und ohne Manipulation der Schiedsrichter. Bemerkenswert die Leistung von Trainerlegende Vittorio Pozzo. Vom gesamten Kader von vor vier Jahren waren nur noch zwei Spieler, Giovanni Ferrari und Giuseppe Meazza, übrig. Zwischendurch hatte Pozzo 1936 mit einer Amateurauswahl auch noch Gold bei Olympia geholt. Drei große Titel mit drei völlig verschiedenen Teams, Hut ab!
- Wir wissen nicht, ob Pozzo für Giuseppe Meazza die selbe Ausnahmeregelung wie bei dessen Verein gelten ließ. Bei Inter Mailand war Meazzas Wunsch und Begehr vertraglich fixiert worden, die Nächte vor den Heimspielen in einem Bordell verbringen zu dürfen.
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