WM

1938: Der Zeh des Ernst Willimowski

SID
Weltmeister 1938 wurde Italien dank eines 4:2-Erfolges über Schweden im Finale
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Ein Jahr später, genau vier Tage vor Beginn des Zweiten Weltkriegs schoss Willimowski mit einem Hattrick noch kurz Vizeweltmeister Ungarn aus dem Stadion. Und dann war's leider aus mit dem Glückskind. Der Wunderstürmer geriet mit dem Einmarsch Nazideutschlands zwischen die Mahlsteine der Weltpolitik. Bisher war er weder richtiger Deutscher noch richtiger Pole gewesen, und zugleich sowohl Deutscher als auch Pole. Zwei unterschiedliche Bestandteile in ein und demselben Körper, genau wie seine Füsse.

Willimowski war vor allem Fußballer. Und da das in Polen für ihn nicht mehr möglich war, trug er sich in die deutsche Volksliste ein. Er, der 1934 für Polen gegen Deutschland ein Tor geschossen, trat jetzt für Deutschland gegen den Ball. Sein Verständnis mit dem jungen Fritz Walter war phänomenal. Walter sagte später über Willimowski: "Der einzige Stürmer, den ich je gesehen habe, der mehr Tore machte als er Chancen hatte."

Ganze acht Länderspiele blieben Willimowski noch, bevor der internationale Spielbetrieb eingestellt wurde. In diesen acht Spielen erzielte er 13 Tore. Den TSV 1860 München führte er 1942 zum Pokalsieg und erzielte dabei 14 Treffer - bis heute Rekord für eine einzige Pokalsaison. In seinen Mannschaften war Willimowski überaus beliebt, doch darüberhinaus gab es nur noch Probleme. In seiner alten Heimat galt er als Kollaborateur und Vaterlandsverräter. Sein Name, seine Tore wurden aus den Statistiken in Polen bis 1990 gelöscht.

WM 1954 bleibt verwehrt

Auch in Deutschland stieß er auf Argwohn und kalte Schultern. In den ersten fünf Jahren nach Kriegsschluss fand sich kein Verein, der den Oberschlesier fest verpflichten wollte. Dann heuerte ihn der VfR Kaiserslautern an. Wo hätte Willimowski einst überall spielen können - und nun kickte er im Waldstadion am Erbsenberg.

Doch Ernst Willimowski, dem der Krieg die besten Jahre seines Fußballerlebens genommen hatte, wollte es noch einmal wissen. Die WM-Teilnahme 1954 war sein Ziel. Warum nicht mit 37 Jahren? In der Saison 1952/53 schoss der Goalgetter 31 Saisontore in der Oberliga Südwest, nur sein alter Kumpel Fritz Walter war erfolgreicher. 31 von insgesamt 55 Ligatoren der Durchschnittsmannschaft VfR Kaiserslautern! Wie viele hätten es sein können, wenn er vernünftige Mitspieler gehabt hätte?

Sportlich hatte Willimowski es immer noch drauf, aber Herberger, stets ein Bewunderer seines Spiels, sagte nein. Offiziell, wegen des Alters und weil er in Helmut Rahn schon einen ähnlich draufgängerischen Stürmer hatte. Doch der wahre Grund war offensichtlich: Ernst Willimowski war, ohne irgendetwas dafür zu können, zu einem Politikum geworden. Ein Länderspiel mit Willimowski gegen ein Land aus dem Ostblock, geschweige denn gegen Polen, hätte zu hohe Wellen geschlagen. Aus war's.

Bis zu seinem Tod im Jahr 1997 in Karlsruhe wurde Ernst Willimowski jeden Tag an sein größtes Spiel erinnert. Morgens in der Dusche, wenn er auf seine Füße schaute. Brazil 6, Polska 5. Was der Beginn einer großen Weltkarriere hätte werden können, blieb eine völlig zu unrecht vergessene Episode der WM-Geschichte. Und vor allem eine Studie über die Machtlosigkeit des Einzelnen gegen die Zeitläufe der Geschichte.

Was sonst noch wichtig war

  • Auch die Deutschen hatten ihr 6:5-Problem. Nach der Annektierung Österreichs im März stand Bundestrainer Herberger vor einer schier unlösbaren Herausforderung. Deutschland hatte eine gute Mannschaft, Österreich ebenfalls. Die Spielstile und Spielerpersönlichkeiten unterschieden sich jedoch fundamental. Um den "Anschluss" Wiens auch in der Bevölkerung zu verankern, verordnete das Fachamt Fußball, Deutsche und Österreicher im Verhältnis 6:5 oder 5:6 aufzustellen.Eine nicht verhandelbare Vorgabe. Während sich ein Großteil der österreichischen Bevölkerung mit den neuen Verhältnissen durchaus anfreunden konnte, sah das bei den Wiener Fußballern komplett anders aus. Die besten Spieler, Abwehrmann Karl Sesta und Regisseur Matthias Sindelar machten aus Ihrer Verachtung gegenüber dem deutschen Kraftfußball keinen Hehl und sagten ab. Der Trainer schaffte es nicht, eine halbwegs homogene Mannschaft zu formen. Nicht einmal eine gemischte Sitzordnung war durchzusetzen,die Deutschen und Ösis aßen an getrennten Tischen und schnitten sich gegenseitig auf dem Spielfeld. Kein Wunder, dass die zusammengewürfelte Elf an der Schweiz scheiterte. Bis heute das einzige WM-Erstrundenaus einer deutschen Mannschaft.
  • Im Viertelfinale gegen Frankreich trat Titelverteidiger Italien ganz in Schwarz an. Für die nicht mehr allzu zahlreich verbliebenen Demokratien in Europa ein echter Affront. Schwarz war die Farbe der Faschisten Mussolinis, die Trikotwahl eine nie da gewesene politische Provokation. Ansonsten errang die Squadra Azzura im Gegensatz zur WM 1934 den Titel auf sauberem Wege und ohne Manipulation der Schiedsrichter. Bemerkenswert die Leistung von Trainerlegende Vittorio Pozzo. Vom gesamten Kader von vor vier Jahren waren nur noch zwei Spieler, Giovanni Ferrari und Giuseppe Meazza, übrig. Zwischendurch hatte Pozzo 1936 mit einer Amateurauswahl auch noch Gold bei Olympia geholt. Drei große Titel mit drei völlig verschiedenen Teams, Hut ab!
  • Wir wissen nicht, ob Pozzo für Giuseppe Meazza die selbe Ausnahmeregelung wie bei dessen Verein gelten ließ. Bei Inter Mailand war Meazzas Wunsch und Begehr vertraglich fixiert worden, die Nächte vor den Heimspielen in einem Bordell verbringen zu dürfen.

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