Bodo Illgner wurde mit Deutschland 1990 Weltmeister und gewann 1998 sowie 2000 mit Real Madrid die Champions League. Der ehemalige Torhüter erklärt die Entwicklung der Seleccion, warum Iker Casillas weiter der richtige Torwart und Vicente del Bosque der optimale Trainer für den Umbruch ist. Außerdem adelt er Manuel Neuer als weltbesten Torhüter und sieht Marc-Andre ter Stegen langfristig auf einem guten Weg beim FC Barcelona.
SPOX: Herr Illgner, Deutschland hat Spanien im letzten Jahrzehnt immer als Vorbild auf Verbandsebene betrachtet. Treffen am Dienstag in Vigo die beiden besten Fußballnationen der Welt aufeinander?
Bodo Illgner: Beide Nationen gehören sicher zu den Top 4 im Weltfußball. Ich würde Argentinien und Brasilien noch dazu zählen, auch wenn die Brasilianer keine überragende WM gespielt haben.
SPOX: Deutschland wurde Weltmeister, Spanien schied dagegen in der Vorrunde aus. War die WM eine Wachablösung, oder nur eine Momentaufnahme?
Illgner: Bei Spanien ist einiges unglücklich zusammengekommen. Die erste Halbzeit im Auftaktspiel gegen die Niederlande war alles andere als schlecht, die war sogar richtig gut. Die Spanier haben so angefangen, wie man sie erwartet hatte. Wenn sie die Führung ausgebaut hätten, wäre das Spiel gegessen gewesen. Durch den Ausgleich ist das Spiel gekippt und nach dem Endergebnis von 1:5 war für die Spanier die WM eigentlich gelaufen. Dieses Resultat hat sie komplett aus der Bahn geworfen.
SPOX: Also waren die Spanier Opfer der unglücklichen Umstände und der schweren Gruppe?
Illgner: Viele Spieler sind nachher kritisiert worden, ihnen wurde nachgesagt, sie seien zu alt. Aber es wäre auch mit dieser Mannschaft und diesen Spielern mehr drin gewesen. Trotzdem ist Deutschland im Moment einen Tick voraus. Die Deutschen haben konsequent auf diesen Moment hingearbeitet und waren bei der WM auf ihrem Höhepunkt. Sie haben die richtige Mischung gefunden aus Talenten und Arbeitern. Deutschland ist völlig verdient Weltmeister geworden.
SPOX: Die Probleme der Spanier setzen sich auch in der EM-Qualifikation und in den Testspielen fort. Sie haben gegen die Slowakei und Frankreich verloren, auch die Siege gegen Mazedonien und Luxemburg waren eher zähe Angelegenheiten. Muss Spanien seine Spielweise modifizieren?
Illgner: Wie bei Deutschland ist nach der WM ein größerer Umbruch eingetreten. Spieler wie Xavi und Xabi Alonso haben ihren Rücktritt erklärt und das Mittelfeld war das Herzstück der Spanier. Diese Änderungen muss man erstmal verkraften. Man muss aber nicht schwarzsehen für den spanischen Fußball. Die U-Mannschaften zeigen, dass genügend Talente vorhanden sind. Koke und Isco sorgen beispielsweise bei Atletico beziehungsweise Real Madrid für Furore. Es dauert eine gewisse Zeit, bis sich ein Spielsystem findet, eine Philosophie entwickelt. Aber klar ist auch: Spaniens Philosophie braucht kleine Veränderungen, weil die Spieler einfach andere sind.
SPOX: Haben die Spanier den Zeitpunkt zum Umbruch verpasst?
Illgner: Das lässt sich hinterher leicht sagen. Gewisse Umstände wie Verletzungen ließen den Umbruch und Generationswechsel nicht früher zu. Thiago hat sich vor der Weltmeisterschaft verletzt, der Xavi hätte entlasten können. Auch Jese Rodriguez von Real Madrid stand auf dem Zettel, er war bis zu seinem Kreuzbandriss gegen Schalke in der Champions League in hervorragender Form.
SPOX: Leidet Spanien vor allem unter dem Leistungsabschwung beim FC Barcelona seit dem Abschied von Pep Guardiola?
Illgner: Diese Parallele kommt sicher nicht überraschend. Die Nationalmannschaft hat gespielt wie Barca. Xabi Alonso ist auch ein Spielertyp, der mit seinem Kombinationsverhalten ohne Probleme dort hätte mitspielen können. Aber wenn du so weit oben stehst wie Barcelona und Spanien, geht es zwangsläufig nur noch nach unten. Spanien hat zweimal die Europameisterschaft gewonnen, 2010 die Weltmeisterschaft. Gleichzeitig hat Barca im Vereinsfußball alles abgeräumt. Sobald die Spieler dann nicht ihre absolute Top-Form finden und Verletzungen auftreten, kann es zu Schwierigkeiten und schlechten Resultaten kommen, die auch in diesem Moment nicht zufriedenstellend sind.
Spanien und Deutschland in der EM-Qualifikation im Vergleich
SPOX: Spanien hat nach der WM an Trainer Vicente del Bosque festgehalten. Ist er der richtige Mann für den Umbruch?
Illgner: Absolut, daran glaube ich zu hundert Prozent. Er verfolgt weiter ganz ruhig seinen Weg, bastelt an einer neuen Mannschaft und weiß, was er verändern muss. Del Bosque ist natürlich kein radikaler Typ, er macht das sehr unaufgeregt. Aber ich glaube, das ist für Spanien genau der richtige Weg. Es wäre total absurd, alles über den Haufen zu schmeißen, was über acht bis zehn Jahre erfolgreich war. Die Entwicklung muss weitergeführt werden, Spanien braucht keine Revolution.
SPOX: Barcelonas Abschwung hat der Nationalmannschaft geschadet, der gleichzeitige Aufschwung von Real Madrid hat das aber nicht ausgleichen können. Haben die Königlichen zu wenige spanische Schlüsselspieler im Team?
Illgner: Der Stil der Nationalmannschaft war durch den hohen Anteil an Ballbesitz von Barcelona geprägt. Real Madrid war in den vergangenen Jahren hauptsächlich eine Kontermannschaft. Das Spiel war sehr auf Cristiano Ronaldo zugeschnitten. Real hat von seiner Schnelligkeit und Gefährlichkeit im Konter profitiert. Das scheint sich in dieser Saison gerade zu ändern.
SPOX: Zu den spanischen Schlüsselspielern bei den Königlichen gehört sicher noch Iker Casillas, der aber nicht mehr so souverän wirkt wie in der Vergangenheit. Hat er seinen Zenit überschritten?
Illgner: Nein, ich traue Casillas noch einige Jahre auf Top-Niveau und in der Nationalmannschaft zu. Er hatte eine schlechte Phase, die auch eine Frage des Selbstbewusstseins war. Auf einmal war er sogar bei den eigenen Fans und im Verein umstritten. Aber Casillas ist noch in einem hervorragenden Torwartalter und es hat den Anschein, als könnte er in dieser Saison an seine Form von früher anknüpfen. Dieses Jahr scheint er das Vertrauen des Trainers wieder zu haben. Del Bosque hat angekündigt, dass er de Gea langsam heranführen will. Aber auch auf der Torhüterposition braucht es keine Revolution.
Seite 1: Illgner über Spaniens Entwicklung, Del Bosque und Casillas
Seite 2: Illgner über Neuer als Weltfußballer, ter Stegen und Real Madrid
SPOX: In Deutschland ist die Torhüterfrage dank Manuel Neuer eindeutig geklärt. Wie hoch war sein Anteil am Gewinn der Weltmeisterschaft?
Illgner: Sehr hoch. Neuer hat eine tolle WM gespielt und eine komplette Torwartleistung abgeliefert. Er war stark auf der Linie, in der Strafraumbeherrschung und praktisch auch als Libero. Er hat im entscheidenden Spiel gegen Algerien gezeigt, wie wichtig es ist, dass man einen Torwart hat, der mitspielt, der wach und gut drauf ist. Nach dieser WM ist Neuer für mich auch definitiv die Nummer eins der Welt.
SPOX: Er ist auch bei der Vorauswahl des Weltfußballers unter den letzten 23. Hat er eine Chance?
Illgner: Ich freue mich immer, wenn ein Torwart in dieser Wahl auftaucht. In Brasilien hat man gesehen, wie wichtig ein guter Rückhalt für einen WM-Titel ist. Da die Torhüter immer kompletter werden und immer besser mit dem Fuß mitspielen, haben sie jetzt vielleicht größere Chancen, weil sie den Feldspielern etwas ähnlicher werden.
SPOX: Als großer Favorit gilt Cristiano Ronaldo. Wie erleben Sie ihn bei Real Madrid?
Illgner: Ronaldo hat eine tolle Saison gespielt und auch in dieser Phase, wo die Wahl ansteht, trifft er wieder in außergewöhnlicher Weise. Er hat eine tolle Entwicklung genommen in den letzten zwei Jahren - auch außerhalb des Platzes. Vorher war er das Enfant terrible, so dass Lionel Messi einen Vorteil hatte. Aber auch in diesem Bereich hat er den Abstand verkürzt und seine Chancen verbessert.
SPOX: Nicht so gut läuft es gerade für Marc-Andre ter Stegen. Sie haben im letzten SPOX-Interview gesagt, dass ein Wechsel zu Barca ein großes Wagnis sei und hätten Thibaut Courtois bevorzugt. Sehen Sie sich in gewisser Weise bestätigt, weil ter Stegen mit Claudio Bravo noch einen Konkurrenten zur Seite gestellt bekommen hat?
Illgner: Ich habe damals Courtois favorisiert, weil der die spanische Liga kennt und schon einige Jahre bei Atletico Madrid hervorragende Leistungen gebracht hatte. Ich gehe davon aus, dass er bei Barcelona auch direkt die Nummer eins geworden wäre. Für ter Stegen ist es schwieriger. Er ist in Spanien noch ein unbeschriebenes Blatt. Das ändert sich jetzt erst nach und nach. Er hat das Pech, dass der Trainer in der Liga auf Claudio Bravo gesetzt hat und die Mannschaft mit acht Spielen ohne Gegentor in die Saison gestartet ist. Das war ein Gala-Start für einen Torwart, leider aber nicht für ter Stegen.
SPOX: Die Verpflichtung von Bravo war kein Vertrauensbeweis für ter Stegen. Wie interpretieren Sie die Entscheidung Barcas?
Illgner: Ter Stegen wurde eigentlich als Nummer eins verpflichtet. Aber am Ende war man sich dann wohl doch nicht hundertprozentig sicher und hat sich mit Claudio Bravo noch einen gestandenen Mann dazu geholt, um sich abzusichern. Bravo ist in einem sehr guten Torwartalter und in der chilenischen Nationalmannschaft eine feste Größe. Barca hat im Prinzip eine Nummer eins neben einer Nummer eins, dementsprechend ist der Konkurrenzkampf sehr groß.
SPOX: Wie sehen Sie die Zukunft ter Stegens in Barcelona?
Illgner: Er wird sich auf lange Sicht durchsetzen, weil seine Spielweise gut in Barcelona ankommt und er damit auch gut zu Barca passt. Er muss nach und nach an seinem Ruf arbeiten. Wenn man vor seinem Wechsel in Spanien Szenen von ihm gesehen hatte, dann waren das so haarsträubende Fehler wie im Länderspiel gegen die USA oder der vergleichbare Fehler in der Bundesliga gegen Braunschweig. Seine konstant guten Leistungen bei der Borussia sind untergegangen, weil er nicht die Möglichkeit hatte, im internationalen Wettbewerb auf sich aufmerksam zu machen. Jetzt spielt er zwar international, aber nicht in der Liga. Das ist natürlich ein Problem, um seine Qualität weiterhin zu zeigen. Aber er gewinnt langsam an Kredit. Die Spanier sehen, dass er ein gut ausgebildeter, talentierter Torwart ist, der vor allem sehr gut mit den Füßen mitspielt, was bei Barcelona ein wichtiger Punkt ist.
SPOX: Luis Enrique hat sich für eine gesplittete Torhüter-Beschäftigung entschieden, Bravo in der Liga, ter Stegen in der Champions League. Real hat mit dieser Taktik letzte Saison die Königsklasse gewonnen. Was halten Sie davon?
Illgner: Trotz der vielen Spiele und der Tatsache, dass der zweite Torhüter Spielpraxis braucht, ist das nicht sinnvoll. Wenn der Torhüter in der Champions League patzt, sorgt das für Diskussionen und Unruhe. Bei Real Madrid hat das letzte Saison zwar sehr gut geklappt, aber das schreibe ich zu einem großen Teil Ancelotti zu, der einfach ein glückliches Händchen hat.
SPOX: Ancelotti war wohl die beste Entscheidung von Präsident Florentino Perez in seiner Amtszeit.
Illgner: Was Ancelotti anfasst, wird zu Gold. Er war ein Glücksgriff nach Jose Mourinho. Ancelotti strahlt die Ruhe und Souveränität aus, die man vorher vermisst hat. Er passt auch wesentlich besser zum Image des Vereins als der umtriebige, aggressive Mourinho, der die Fans gespalten hat. Es gab zwei Lager pro Mourinho und contra Mourinho und letztlich auch pro Casillas und contra Casillas. Mourinho hat dem Verein zum Schluss hin sehr geschadet.
SPOX: Schafft es Real Madrid als erste Mannschaft, endlich mal den Champions-League-Titel zu verteidigen?
Illgner: Ich traue es Real Madrid zu, sie sind in einer tollen Form. Dennoch sind wir noch früh in der Saison, das kann sich im Laufe der Zeit noch verändern. Es kommen immer wieder Verletzungen und Ausfälle dazu, die man nicht einkalkulieren kann. Aber der Kader ist so gut bestückt, dass die Titelverteidigung drin ist.
SPOX: Toni Kroos wird aktuell in Spanien mit Lob überschüttet. Auf der anderen Seite geht es Xabi Alonso beim FC Bayern in Deutschland genauso. Welcher Verein hat das bessere Geschäft gemacht?
Illgner: Diese Frage hatte ich vor der Saison auch schon mal bei Twitter aufgeworfen. Dass Xabi bei Bayern so schnell und so gut eingestiegen ist, hatte ich nicht erwartet. Ich dachte, er braucht ein bisschen mehr Zeit. Kroos bildet mit Modric ein perfektes Tandem im Mittelfeld. Durch die Unterstützung der Mitspieler sieht das alles sehr stabil aus. Insgesamt glaube ich, hat Real das leicht bessere Geschäft gemacht, weil sie einen jüngeren Spieler von ähnlicher Klasse bekommen haben.
Jupp Heynckes: "Kroos hat seine Bestimmung gefunden"
SPOX: Sie analysieren aktuell das Fußballgeschehen als TV-Experte, haben aber in Spanien auch die Ausbildung zum Sportdirektor absolviert. Wann sehen wir Sie als handelnde Person im Fußballgeschäft?
Illgner: Ich fühle mich sehr wohl als TV-Experte, es macht mir sehr viel Spaß, die Dinge zu analysieren und zu diskutieren. Alles andere liegt in weiter Ferne, da will ich nicht spekulieren. Manchmal geht das ganz schnell und manchmal wird es nie etwas. Ich lasse das ganz entspannt auf mich zukommen.
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