Es ist der größte Transfer, den die Serie A je gesehen hat: Cristiano Ronaldo wird in der kommenden Saison im Trikot von Rekordmeister Juventus Turin auflaufen. Was bedeutet der Transfer für den italienischen Fußball? Muss sich CR7 an Juve anpassen - oder umgekehrt? Gewinnt die Alte Dame jetzt die Champions League? SPOX liefert im Panel die Antworten.
Was bedeutet der Wechsel für Ronaldo im Gesamtkontext seiner Karriere?
Oliver Birkner (Italien-Korrespondent für den kicker): Im Gegensatz zur weitläufigen Meinung halte ich die Serie A für eine auch in der Breite dornigsten und kompliziertesten Ligen überhaupt. Deshalb könnte Ronaldo nach Premier League und LaLiga seinen Status als epochaler Ausnahme-Fußballer mit neuen Argumenten füttern. Er bewies mit dem Wechsel, dass sein Ehrgeiz weitere Herausforderungen verlangt und die verblüffende Fitness ohnehin das eigentliche Alter im Ausweis belächelt. Überragende Leistungen für Juventus würden ihn auch faktisch über Leo Messi platzieren - auch wenn ich Ronaldo bereits im Vorfeld als den kompletteren und weltbesten Fußballer erachte. Der beste aller Zeiten? Eine müßige Frage, da sich verschiedene Fußball-Epochen schwerlich vergleichen lassen.
Romeo Agresti (Juventus-Korrespondent Goal.com): Ich glaube nicht, dass es um das Gehalt oder um die Rivalität zwischen Messi und Ronaldo geht. Natürlich sind die 30 Millionen Euro pro Jahr, die Ronaldo bei Juventus verdient, eine unglaubliche Summe. Trotzdem hatte seine Entscheidung mehr damit zu tun, dass er neue Motivation und eine neue Herausforderung gesucht hat, nachdem er bei Real alles erreicht hat, was man erreichen kann.
Pascal De Marco (SPOX-Redakteur): Ich kann mir gut vorstellen, dass seine Trefferanzahl bei Juventus abnehmen wird, da die Mannschaft auch trotz ihrer offensiven Qualität in der Vergangenheit schlichtweg erfolgreicher war, wenn die Priorität ihres Spiels die defensive Balance war. Seine Tore wird CR7 nichtsdestotrotz erzielen und in dieser Kategorie auch weiter beeindrucken. Stärken wird er seine "legacy" vermutlich aber nur können, wenn er Juve endlich auch international zum ersehnten Erfolg führen kann. Hier kommt es dann darauf an, in den entscheidenden Momenten da zu sein und die Mannschaft auch in schwierigen Situationen durch seine Präsenz zu stärken. Schafft er es, auch mit Juve die CL zu gewinnen, würde das nicht nur aufgrund des Titelgewinns mit dem dritten Team seinen Legendenstatus zementieren. Er würde dies mit einem Team schaffen, das aufgrund der Final-Blockade auf internationalem Terrain seit über 20 Jahren nahezu verzweifelt scheint. Ein Triumph, der für diesen Verein von unbeschreiblicher Bedeutung wäre und Ronaldos Aktien in der Diskussion des "Besten aller Zeiten" weiter stärken würde.
Was bedeutet der Transfer für die Serie A und den italienischen Fußball?
Oliver Birkner (Italien-Korrespondent für den kicker): Die Liga wird aufstöhnen, dass man erst kürzlich die TV-Rechte für die kommenden drei Jahre ohne den Ronaldo-Trumpf verkauft hat. Dafür besitzt sie nun ausgezeichnete Karten bei der kommenden Sponsorenfindung und Quoten. Ronaldos globaler Appeal wird sich im Calcio deutlich bemerkbar machen. Blickte die Serie A in den Jahren ihrer angekratzten Reputation neidisch auf andere Länder, führt sie jetzt die werbewirksamste und populärste Attraktion des Fußballs. Der Wechsel allein rückte die Serie A erneut in den globalen Fokus und wird der gesamten Liga zugutekommen. In Zeiten des wirtschaftlichen Marketingfußballs kam am Transfer seiner exemplarischen Ikone sinnbildlich kein Medium in den Hauptschlagzeilen vorbei.
Romeo Agresti (Juventus-Korrespondent Goal.com): Natürlich ist der Deal eine sehr gute Nachricht für die Serie A, vor allem aber für Juventus. Sie haben den besten Spieler der Welt gekauft und werden sich dadurch auf allen Ebenen weiterentwickeln und verbessern. Mit diesem Neuzugang ist Juve noch besser, das dürfte der Konkurrenz nicht gefallen. Für die Serie A ist der Transfer positiv, da die Liga durch einen Spieler wie Ronaldo interessanter wird. Ein solcher Akteur hat einen großen Einfluss auf die Attraktivität der Liga, die TV-Einnahmen werden steigen und die Stadien werden wieder voller sein. Dessen bin ich mir sicher.
Pascal De Marco (SPOX-Redakteur): Ronaldo war das Gesicht des Teams, das zuletzt dreimal in Serie die CL gewann und er wurde zweimal in Folge zu Europas Fußballer des Jahres und zum Weltfußballer gewählt. Dementsprechend ist die Behauptung, dass der beste Fußballer der Welt künftig in der Serie A spielt, berechtigt. Die Auswirkungen sind auch neben dem Platz grandios. Die Aufmerksamkeit, die Ronaldo mit sich bringt, wird der Serie A eine enorme Menge an neuen Zuschauern schenken und der Liga neue und größere Sponsorengelder generieren. Spiele mit Juves Beteiligung hatten zwar ohnehin schon hohe Zuschauerbeteiligungen, nun werden sie restlos ausverkauft sein. Auch vom Markenwert Ronaldos profitiert der italienische Fußball, genauso wie von der breiteren Berichterstattung auf internationaler Ebene. Jeder will wissen, wie Ronaldo im letzten Spiel performt hat.
Ronaldo bei Juventus - wer muss sich an wen anpassen?
Oliver Birkner (Italien-Korrespondent für den kicker): Primär wird Ronaldo zunächst sicher die vorbildliche und ausgefuchste Taktikschulung der Serie A kennenlernen müssen. Seine exorbitante Klasse sollte es dem Musterschüler allerdings vereinfachen. Generell denke ich kaum, dass sich bei der Fusion der seriösen Firmen niemand wird anpassen müssen. Die Tifosi schwanken in ungläubiger Ekstase, außerdem wird das Unternehmen Juventus unter traditionell hierarchischer Hausordnung geführt und im Teamkreis weiß jeder, welche Marke zum Kader stößt, ohne dass unnötige Fegefeuer der Eitelkeiten zu befürchten sind. Im Zusammenschluss der beiden noblen Imperien existiert Klarheit über gemeinsame Ansprüche und Ziele.
Romeo Agresti (Juventus-Korrespondent Goal.com): Er ist ein absoluter Champion. Er wird keine Probleme damit haben, sich bei Juventus einzuleben. Seine Mannschaftskollegen sind sehr glücklich, dass er sich für einen Wechsel nach Turin entschieden hat. Da sollte es keine Berührungsängste geben. Mit ihm gehört Juventus auf jeden Fall zu den besten Teams in Europa.
Pascal De Marco (SPOX-Redakteur): Juves Spielphilosophie lautete, aus einer defensiven Balance heraus Gegner anzulaufen und verzweifeln zu lassen, weil man ihnen keine klaren Abschlussgelegenheiten gewährte. Dafür musste jeder seinen Beitrag leisten und hatte klare Aufgaben in der Rückwärtsbewegung. Offensiv wurden die Spiele durch die individuelle Klasse von Higuain, Dybala oder Costa entschieden. Es reichte meist ein Treffer, um "das Resultat einzufahren". Eine Konstellation, in der sich Ronaldo bislang noch nicht zurechtfinden musste. Für mich hat Ronaldo seine Einstellung und das Verständnis für das Spiel in den letzten Jahren angepasst und fungiert nicht mehr nur als Freigeist, der von defensiver Verantwortung nichts gehört haben will. Er wird die defensive Spielidee akzeptieren, sich adaptieren und sich künftig bei gegnerischem Ballbesitz auch 15 bis 25 Meter hinter die Mittellinie fallen lassen, um die Abstände gering zu halten. Offensiv wird es sich kein tief stehender Gegner leisten können, CR7 zu seinem Hauptaugenmerk zu machen und Löcher an einer anderen Stelle aufzureißen. CR7 und Juve, das wird keine One-Man-Show.
Ist der Scudetto nun auf Jahre entschieden?
Oliver Birkner (Italien-Korrespondent für den kicker): Tabellarisch mag die Konkurrenz aufgeschlossen haben, de facto trennen Juventus und andere Teams in puncto Kaderqualität, Infrastruktur, Umsatz oder wirtschaftlicher Führung dennoch Welten. Während die Turiner als modernes Unternehmen arbeiten, peinigt sich das Umfeld der Konkurrenz allzu oft in kleinkariertem Provinz-Palaver und schadet damit seinem Fortschritt. Der Ronaldo-Faktor hat den Graben freilich vergrößert. Ohne nötige Investitionen und geordnet, klugem Eintritt in die Moderne dürfte den anderen Klubs nötige Aufholarbeit schwerfallen.
Romeo Agresti (Juventus-Korrespondent Goal.com): Napoli hat vor allem in der letzten Saison Außergewöhnliches geleistet, um näher an Juventus heranzurücken. Aber die Bianconeri haben eine solide und starke Basis, die jetzt noch zusätzlich verstärkt wird. Eigentlich können sie nur durch eigene Fehler verlieren. Wenn sie nach dem Ronaldo-Deal nicht den Scudetto gewinnen, wäre es ein riesiges Versagen.
Pascal De Marco (SPOX-Redakteur): Juve konnte sich in den letzten sieben Jahren in nahezu jeder Saison auf seine hohe individuelle Klasse verlassen. Die Stärke des Vereins ist jedoch vielmehr die Arbeitsmoral in nahezu jeder Faser der Struktur. Vom Vorstand über die sportliche Leitung bis hin zum Trainerstab und den langjährig vertretenen Mannschaftsmitgliedern wird Neuzugängen von Anfang an ein Ethos vorgelebt, bei dem der Erfolg der Mannschaft immer oberste Priorität hat. Sich nicht von jüngsten Erfolgserlebnissen blenden zu lassen und sich sofort wieder auf das nächste Spiel zu fokussieren waren Hauptgründe, weshalb Juventus in den letzten Jahren immer wieder einen kleinen oder größeren Vorsprung gegenüber der Konkurrenz aufbauen konnte - ganz egal, ob dies das Milan mit Ibrahimovic, das Napoli mit Cavani oder die spielstarken Teams von Napoli und der Roma der jüngeren Vergangenheit waren. Juves Identität passt sehr gut zu jener von Ronaldo. Dass sich Juve unter diesen Voraussetzungen einen Scudetto abluchsen lässt, scheint unwahrscheinlich.
Gewinnt Juventus jetzt die Champions League - oder muss es sogar?
Oliver Birkner (Italien-Korrespondent für den kicker): Der Ronaldo-Transfer wurde angestrengt, um die Obsession Champions League zu erfüllen. Daraus macht bei Juventus niemand einen Hehl. Zuletzt gewannen die Bianconeri 1996 die Königsklasse, verloren insgesamt sieben Finals, davon zwei in den letzten vier Jahren. Eines unter anderem gegen das absolute Sieger-Gen des Portugiesen, das einigen im Juve-Kader in manchen Situationen auf internationaler Ebene offensichtlich noch fehlt. Juve holte sich eine enorme Portion Siegermentalität ins Team. Sie bringt den Rekordmeister zweifelsohne nach vorne und bedeutet erhöhten Anspruch, jedoch keine Garantie auf den Henkelpott.
Romeo Agresti (Juventus-Korrespondent Goal.com): Das ist natürlich das größte aller Ziele. Juventus hat die Champions League 1996 zum letzten Mal gewonnen und sehnt sich seitdem nach dem nächsten Titel. Mit Ronaldo im Team können sie sich tatsächlich berechtigte Hoffnungen machen, wieder auf den Thron in Europa zu steigen. Ich glaube, Juventus hat Ronaldo vor allem dafür gekauft, um dieses große Ziel zu erreichen.
Pascal De Marco (SPOX-Redakteur): Der CL-Titel ist der Hauptgrund, weshalb die Exor-Gruppe (die Holding der Agnelli-Familie) und Juve dieses Jahrhundert-Investment eingegangen sind. Aus sportlicher Sicht spricht vieles für ein Juve-Team, das in der nächsten Saison um die CL spielt. Eine balancierte Mannschaft, die in allen Mannschaftsteilen gut aufgestellt ist und von der Bank eine weitere Elf spielen lassen könnte, die auf nationaler Ebene vielen Teams überlegen wäre. Ein Trainer, der in seine fünfte Saison geht, bereits jedes denkbare System spielen ließ und auf jede Eventualität vorbereitet scheint. Auch die Situation der Konkurrenz macht Hoffnung: Real Madrid leitet den Umbruch ein und auch Barca verabschiedet in Iniesta eine weitere Ebene seiner einst dominanten Phalanx. Die Finanz-Giganten ManCity und PSG verkrampfen seit Jahren in der entscheidenden Phase. Auch der FC Bayern kommt seit Jahren nicht mehr über das Halbfinale hinaus. Es kristallisiert sich eine CL-Saison ohne eindeutigen Favoriten heraus. Juve gehört mit Sicherheit zu den großen Namen, doch sind sie nicht in der Pflicht, den Titel endlich zu holen. Der lässt sich nämlich nicht garantieren. Auch durch einen Spieler wie Ronaldo nicht.
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