Die Meistermannschaft von Borussia Mönchengladbach der Saison 1970/1971 hat sich beim SPOX-Voting zum besten Team aus 50 Jahren Bundesliga im Viertelfinale gegen die Fohlen-Elf 1974/1975 durchgesetzt. Horst Köppel, der 1989 als Trainer von Borussia Dortmund den DFB-Pokal gewann, absolvierte damals alle 34 Saisonspiele und schoss neun Tore. Im Interview spricht der heute 64-Jährige über das dramatische Saisonfinale, den Pfostenbruch am Bökelberg, den Bundesligaskandal sowie feuchtfröhliche Partys in Günter Netzers Diskothek Lovers Lane.
SPOX: Herr Köppel, es ist der 33. Spieltag der Saison 1970/1971. Bayern München und Borussia Mönchengladbach stehen mit jeweils 48:18 Zählern an der Tabellenspitze. Bayerns Tordifferenz: 74:34. Gladbachs Tordifferenz: 73:34. Und Sie fahren mit der Borussia gegen Schlusslicht Rot-Weiss Essen nach einer 4:1-Führung nur noch ein 4:3 ein. Die Bayern siegen mit 4:1 gegen Eintracht Braunschweig...
Horst Köppel: Jaja, ich weiß. Wir haben da noch zwei blöde Tore kassiert. Es gab kein Handy oder eine Ergebnisanzeige im Stadion. Uns war also nicht klar, dass die Bayern plötzlich so im Vorteil liegen würden. Der Glaube an die Titelverteidigung war trotzdem noch da. Wir waren selbstbewusst genug und uns sicher, dass wir am letzten Spieltag in Frankfurt gewinnen würden. Andererseits waren wir uns genauso sicher, dass die Bayern das Ding beim MSV Duisburg schon schaukeln werden.
SPOX: Am 5. Juni 1971 kam es dann zum Fernduell.
Köppel: Die Ausgangslage für die Bayern war deutlich besser: Duisburg war längst gerettet, für die ging es nur noch ums Prestige. Frankfurt dagegen kämpfte noch gegen den Abstieg, hat es am Ende dann aber doch geschafft.
SPOX: Und zwar trotz der 1:4-Pleite gegen Ihre Gladbacher, die Sie mit dem Treffer zum 2:1 in der 70. Minute auf die Siegerstraße brachten. Die Bayern verloren überraschend 0:2 in Meiderich. Ihre Erinnerungen bitte!
Köppel: Ich weiß leider nicht mehr detailliert, wie das genau ablief. Wir wurden aber von der Bank aus informiert, dass die Bayern zurück liegen. Da wird wohl jemand draußen gestanden haben, der eine Telefonleitung nach Duisburg gelegt hatte. Fast zeitgleich mit meinem Tor zum 2:1 ist im Wedaustadion der zweite Treffer für Duisburg gefallen. Ab dann wussten wir, dass uns der Titel nicht mehr zu nehmen sein wird.
SPOX: Beide Buden für den MSV markierte Rainer Budde. Was gab's für ihn als Dankeschön?
Köppel: Ich habe ihn erst einmal angerufen und mich bedankt. Ich glaube, ich habe ihm auch bei der nächsten Gelegenheit einen Sekt spendiert. Champagner konnten wir uns damals noch nicht leisten (lacht). Das Lustige war, dass wir 1963 zusammen in der deutschen Schülerauswahl gespielt haben und uns kennen, seit wir 15 Jahre alt sind. Wir waren richtig gute Kumpels.
SPOX: Es war die erste erfolgreiche Titelverteidigung in der Geschichte der Bundesliga. Wie wurde die Sau rausgelassen?
Köppel: Nachdem wir die Schale überreicht bekamen, haben wir es im Mannschaftshotel in Frankfurt krachen lassen. Unsere Frauen waren auch da. Wir haben erst gemeinsam gegessen und dann Gas gegeben. Wir haben eine weitere Nacht am Main verbracht und sind am nächsten Morgen mit dem Bus - wir waren übrigens der erste Verein, der einen eigenen Mannschaftsbus besaß - nach Mönchengladbach gefahren. Dort war natürlich der Teufel los, 150.000 Leute waren auf der Straße.
SPOX: Konnte man denn beim offiziellen Empfang überhaupt fit sein?
Köppel: Der Tag war anstrengender als der gesamte Samstag. Geschlafen wurde kaum. Und dann saßen wir ja alle in unserem Doppeldeckerbus. Da war es schwierig, pinkeln zu gehen. Eine harte Nummer.
SPOX: Sie selbst sind dann wieder zurück in Ihre Geburtsstadt Stuttgart gegangen. Wieso haben Sie sich damals für den VfB und gegen Gladbach entschieden?
Köppel: Meine damalige Freundin und heutige Frau kam aus Stuttgart zu mir nach Mönchengladbach und sie hat sich dort einfach nie so richtig wohl gefühlt. Da recht frühzeitig feststand, dass ich Gladbach verlassen werde, verhandelte ich mit Ajax Amsterdam, Feyenoord Rotterdam und Inter Mailand. Ich wäre gerne nach Mailand gewechselt, da kam aber eine Ausländersperre für die nächste Saison dazwischen. Am allerliebsten wäre ich jedoch zu Ajax gegangen, doch da hat meine Freundin nicht mitgespielt (lacht). Die holten daraufhin dreimal in Folge den Europapokal der Landesmeister...
Wer ist die beste Mannschaft aus 50 Jahren Bundesliga? Die Ergebnisse der 1. Runde
SPOX: Und dann also Stuttgart?!
Köppel: Der VfB kam an und da meine Freundin Heimweh hatte, war die Sache schnell erledigt. In Stuttgart tat sich schon auch einiges: Es kam mit Hans Weitpert ein neuer Präsident, Branko Zebec war Trainer und neben mir wurden Buffy Ettmayer sowie Egon Coordes geholt.
SPOX: Bleiben wir im Jahr 1971. Am 27. Spieltag brach beim Spiel zwischen der Borussia und Werder Bremen in der 88. Minute der Torpfosten. Das Spiel wurde abgebrochen und wenige Wochen später mit 2:0 für Bremen gewertet.
Köppel: Es stand 1:1. Wir waren damit natürlich überhaupt nicht zufrieden, die Bremer dagegen glücklich wie noch was. Da wir felsenfest davon ausgegangen sind, dass das Spiel wiederholt wird, haben wir auch keinen großen Aufstand gemacht, als das Tor nicht repariert oder durch ein neues ersetzt werden konnte. Nach dem Urteil standen wir dann natürlich da wie die Deppen. So ein einzelner Punkt war damals ja noch wertvoller als heute.
SPOX: Wussten Sie bereits auf dem Feld, dass das eine legendäre Nummer werden würde?
Köppel: Nein, das war nicht absehbar. Ich hielt es auch nicht für ausgeschlossen, dass das später irgendwann noch einmal passieren würde. Da waren plötzlich so viele Menschen auf dem Platz, dass eine Hektik entstand, in der für uns nur wichtig war: Was passiert jetzt heute noch? Für uns gab es nur zwei Varianten: Entweder wir schenken uns die zwei Minuten und es bleibt beim 1:1 oder das Spiel wird eben wiederholt.
SPOX: Stimmt es, dass Schiedsrichter Gerd Meuser, der damals erst sein viertes Bundesligaspiel pfiff, vorgeschlagen hatte, dass einfach irgendjemand die restlichen zwei Minuten den aufgerichteten Pfosten stützen solle?
Köppel: Ja. Es war aber irgendwie auch nicht vorstellbar. Da kann sich doch keiner hinstellen und den Pfosten halten. Stellen Sie sich vor, in den verbliebenen zwei Minuten hätte dann tatsächlich einer an den Pfosten geschossen. Im Prinzip wäre Meusers Vorschlag aber wohl das Beste gewesen.
Seite 2: Köppel über den Bundesligaskandal und Freigetränke in Netzers Lovers Lane
SPOX: Hennes Weisweiler war zu jener Zeit Coach der Borussia. Wie hat er taktisch gearbeitet?
Köppel: Wir hatten eine feste Formation. Klaus-Dieter Sieloff war unser Libero. Wir waren damals aber die Ersten, die so etwas wie eine Viererkette gespielt haben. Sieloff war oft auf einer Linie mit Vorstopper Ludwig Müller und damit nicht deutlich der letzte Mann. Müller hat den gegnerischen Mittelstürmer abgedeckt. Somit konnten wir oft auf Abseits spielen. Peter Dietrich und Herbert Wimmer waren so etwas wie unsere Sechser, Netzer war der Zehner und davor gab es drei Spitzen: Jupp Heynckes als Linksaußen, Herbert Laumen als Rechtsaußen und ich als Mittelstürmer.
SPOX: Inwiefern hat man sich denn an den Stärken des Gegners orientiert?
Köppel: Weisweilers Videoanalyse sah quasi so aus, dass er den jeweiligen Gegner auf dem Trainingsplatz simuliert hat. Ein Beispiel: Bevor wir gegen Nürnberg gespielt haben, hat er uns die Stärken von Linksaußen Georg Volkert verdeutlicht und seinem Gegenspieler Berti Vogts gezeigt, wie er am besten auf Volkerts Bewegungen reagieren soll.
SPOX: Gab es taktische Reaktionen auf die Vorgehensweise des Gegners?
Köppel: Nur gegen die Bayern. Da hat Weisweiler genau gesagt, auf wen der einzelne Spieler aufpassen soll. Mein Mann war Franz Beckenbauer, weil der ja permanent nach vorne lief. Als dann einmal Katsche Schwarzenbeck ein Tor gegen uns schoss, kam Weisweiler an und hat mich zur Sau gemacht, weil ich auch auf ihn hätte aufpassen sollen. Dabei kam das alle 20 Jahre mal vor, dass der ein Tor schoss (lacht).
SPOX: Wie sahen die Ansprachen von Weisweiler aus?
Köppel: Er hat oft nach dem Spiel mit einem gesprochen - vor allem, wenn man nicht so gut gespielt hatte. Da hat er uns plötzlich gesiezt. Wir wussten dann schon immer, dass irgendetwas im Busch ist. Man musste sich ihm dann erklären, ist aber kaum zu Wort gekommen. "Hören Sie auf, das weiß ich alles selbst, beim nächsten Mal muss das anders werden", sagte er dann immer. Vor dem Spiel hat er uns mit Sprüchen angespornt wie "Die kriegen keine Schnitte hier". Er war sehr erfolgshungrig. Wenn wir 2:0 geführt haben, wussten wir ganz genau, dass wir nicht nachlassen durften - sonst war der Alte sauer.
SPOX: Die nächste Angelegenheit, die ebenfalls in die Geschichte einging, war die Enthüllung des Bundesligaskandals durch Horst-Gregorio Canellas, den Präsidenten von Kickers Offenbach. Der deckte einen Tag nach dem letzten Spieltag und auch noch an seinem 50. Geburtstag mittels Tonbandaufnahmen auf, dass es zu Spielmanipulationen und Schmiergeldzahlungen gekommen ist. Am Ende war es Rot-Weiß Oberhausen und Arminia Bielefeld gelungen, in der Liga zu bleiben.
Köppel: Wir haben das an dem Tag gar nicht registriert. Wir waren ja im Feier-Wahn. Das kam morgens im Radio, irgendwann ist es dann zu uns durchgesickert. Es war aber auch danach kein großes Thema, weil wir ja nichts damit zu tun hatten. Es wurde grundsätzlich schon darüber diskutiert, das artete ja auch in einen handfesten Skandal aus. Ich kannte ein paar Jungs aus der Nationalmannschaft wie beispielsweise Klaus Fichtel, der ja dann auch gesperrt wurde. Das hat einen dann schon beschäftigt, als die Urteile gesprochen wurden. Als ich im Jahr darauf nach Stuttgart wechselte - da waren mit Hans Arnold, Hartmut Weiß und Hans Eisele drei Spieler betroffen - musste ich eine eidesstattliche Erklärung abgeben, dass ich nichts mit Manipulationen zu tun hatte.
SPOX: In Gladbach war Günter Netzer einer Ihrer Mitspieler. Der eröffnete im April 1971 quasi im Saisonendspurt in einem früheren Friseurladen die Diskothek "Lovers Lane". War das Team davon überrascht?
Köppel: Nein, wir wussten schon Bescheid. Das war aber kein besonders großes Thema. Als dort eröffnet wurde, waren wir nach Heimspielen oder auch nahe gelegenen Auswärtsspielen jeden Samstag mit mindestens sechs oder sieben Spielern da. Das war mehr oder weniger der Mannschaftstreff. Oft sind wir zuvor Essen gegangen und dann auf einen Absacker ins Lovers Lane. Der Barkeeper war ein Italiener und wurde vom Günter immer angewiesen: "Die dürfen trinken, was sie wollen."
SPOX: Was war Netzer für ein Typ?
Köppel: Es war ein eigenwilliger Charakter. Nicht besonders trainingsfleißig, aber im Spiel halt einfach oft bärenstark. Das wurde dann natürlich so akzeptiert (lacht). Als ich als junger Kerl nach Gladbach kam und vor der Aufgabe stand, meine neue Wohnung einzurichten, hat der Günter zu mir gesagt: "Pass auf, wenn du dorthin gehst, bekommst du 20 Prozent Rabatt, wenn du hier hin gehst, sind es 30 Prozent". Der kannte damals schon Gott und die Welt in Gladbach. Er kam dann auch mit und hat die Preise ausgehandelt, da ich ja niemanden kannte. Er war schon immer ein cleverer Geschäftsmann.
SPOX: Stichwort Lovers Lane: Wie professionell wurde damals für den Fußball gelebt?
Köppel: Während der Woche war ich sehr diszipliniert. Am Wochenende - wir haben ja meistens gewonnen - wurde dann gefeiert. Da wurde auch das eine oder andere Gläschen weggeputzt. Wenn es mal drauf an kam, dann haben wir es schon zünftig krachen lassen. Damit hatten wir keine Probleme. Das war auch kein Thema in der Öffentlichkeit. Wir haben ja nicht gefeiert, nachdem wir scheiße gespielt hatten.
SPOX: Heute würden Sie bei solchen Aktivitäten in jeder Zeitung auftauchen. Wie sah das Verhältnis zu den Medien aus?
Köppel: Manche Reporter sind auch ins Lovers Lane gegangen. Es gab damals ja nur drei Fernsehsender und in unserem Einzugsgebiet vier Tageszeitungen. Daher kannte man die Journalisten gut, die Borussia hatte sie auch einigermaßen "im Griff", so dass da nicht plötzlich und unvorbereitet ein Riesenfass aufgemacht wurde. Wenn wir im Ausland gespielt haben, saßen die Journalisten teilweise bei uns mit im Bus.
SPOX: Wie kam man denn beispielsweise an ein Interview mit Ihnen? Eine offizielle Anfrage wie heute musste man sicherlich nicht stellen, oder?
Köppel: Nein. Da kam nach dem Training der Journalist auf einen zu und hat mitgeteilt, wann er dich am nächsten Tag anrufen wird. Man hat sich aber auch vor oder nach dem Training verabredet. Das war sehr simpel geregelt bei uns. Man mag es ja kaum glauben, aber wir waren schon so ein kleiner Provinzklub. Wir sind 1965 aufgestiegen und um uns herum gab es mit dem 1. FC Köln, Fortuna Düsseldorf, Alemannia Aachen und etwas weiter weg Duisburg, Bochum, Dortmund sowie Schalke genügend Vereine, die interessierten. Wir sind erst nach den beiden Meisterschaften interessant geworden.
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