Am übernächsten Wochenende startet die Formel 1 in die neue Saison. Die Testfahrten haben ein ungefähres Bild vom Kräfteverhältnis gezeichnet, das SPOX gemeinsam mit F-1-Experte Marc Surer analysiert. Mit dabei: Die Favoriten Red Bull und McLaren, Verfolger Mercedes und Sorgenkind Ferrari.
Bevor in gut einer Woche die Motoren in Melbourne aufheulen, weiß kein Formel-1-Team genau, wo es steht. Die Testfahrten haben zwar ein ungefähres Bild vom Kräfteverhältnis gezeichnet, aber es bleibt dennoch Raum für Überraschungen.
"Man weiß nie, wer wie sehr geblufft hat, und muss mit Prognosen entsprechend vorsichtig sein", sagt Formel-1- und Sky-Experte Marc Surer im Gespräch mit SPOX. Dennoch hat er bei den Wintertests vor Ort genug gesehen, um sich ein ungefähres Bild machen zu können.
Sein Fazit: "Das Feld rückt in jedem Fall enger zusammen." Die komplette Analyse:
Die Favoriten
Red Bull: Die Bullen brauchten keine Revolution, um vermeintlich wieder das beste Auto im Feld zu haben. Der RB8 ist eine konsequente Weiterentwicklung der überlegenen Vorgänger RB6 und RB7. Auch ohne viele Bestzeiten bei den Tests überzeugte der Red Bull durch Konstanz auf den Long-Runs und seine ruhige Straßenlage. Das Auto von Sebastian Vettel funktioniert, auch wenn es den einen oder anderen Defekt des Getriebes gab.
"Die Hackordnung würde ich so sehen: Wir sind leicht vorne, dann McLaren mit Mercedes - das kann man noch nicht genau beurteilen - aber nicht weit weg", sagte Red-Bull-Motorsportchef Helmut Marko.
Marc Surer: "Die Getriebeprobleme bei Red Bull machen ein wenig Sorgen. Aber grundsätzlich würde es mich wundern, wenn Vettel in Melbourne zu schlagen wäre."
McLaren: Nach den schwachen Wintertests 2011 scheinen die Briten diesmal deutlich besser vorbereitet zu sein. Es gibt kaum technische Probleme und das im Vergleich zur Konkurrenz ungewöhnliche Konzept des tiefen Schwerpunkts mit der tiefen Nase scheint sich auszuzahlen. "Wir haben das Gefühl, dass wir ein konkurrenzfähiges Auto haben, mit dem wir ums Podium kämpfen können", sagte Lewis Hamilton nach dem Ende der Tests.
Surer: "McLaren ist gut gerüstet, viel besser als im letzten Jahr. Sie sind nicht weit weg von Red Bull, wenn überhaupt. Für mich sah es zwischen den beiden ziemlich ausgeglichen aus. McLaren hat seinen eigenen Weg konsequent weiterverfolgt und schwimmt mit der tiefen Nase erfolgreich gegen den Trend. Man muss nicht immer kopieren. Dass es auch anders geht, spricht für McLaren."
Die Verfolger
Mercedes: Die Silberpfeile haben vor allem in puncto Konstanz einen erheblichen Schritt nach vorne gemacht. Die Rundenzeiten auf den Long-Runs sind zwar nicht so stark wie die von Red Bull oder McLaren, aber allzu viel fehlt nicht mehr. Laut Mercedes eine halbe bis dreiviertel Sekunde. Laut Red Bull sogar weniger. Wie es mit dem Speed auf eine schnelle Runde aussieht, kann man noch nicht sagen, denn wie die beiden Topfavoriten ist auch Mercedes nie mit leeren Tanks gefahren.
"Platz eins halte ich für unwahrscheinlich. Ich sehe Red Bull vorne. Dahinter wird es unheimlich eng", resümierte Michael Schumacher seine Testeindrücke.
Surer: "Mercedes hat sich gesteigert, das ist sicher. Sie haben gar nicht versucht, schnelle Zeiten zu fahren, was dafür spricht, dass sie um ihre Stärke wissen. Wenn wir uns an 2011 erinnern: Da fuhr Schumacher beim letzten Test mit wenig Benzin Bestzeit und in Melbourne kam dann der Schock. Ich glaube nicht, dass sie einen Red Bull oder einen McLaren schlagen können, aber sie sind diesmal näher dran. Und Ferrari haben sie auf jeden Fall hinter sich."
Lotus: Das Team ist ein Phänomen. Bei den Tests waren sie immer, wenn sie auf der Strecke waren, extrem schnell. Sowohl die absolute Bestzeit in Jerez (Grosjean) als auch die in Barcelona (Räikkönen) ging auf das Konto von Lotus. Alles nur Show? Nein, denn auch die Zeiten auf den Long-Runs haben Mut gemacht. Sie waren nicht überragend, aber dennoch sehr gut.
Entsprechend selbstbewusst äußerte sich Teamchef Eric Boullier: "Wenn ich denken würde, dass Red Bull und McLaren außer Reichweite sind, könnte ich gleich aufgeben. Es ist sehr ermutigend, dass wir die Lücke vom letzten auf dieses Jahr verkleinern konnten." Zum Problem könnte noch die fehlende Testerfahrung aus der zweiten Woche werden, die das Team wegen eines defekten Chassis komplett absagen musste.
Surer: "Der Lotus ist das Dark Horse. Das Auto war immer schnell, im Qualifying muss man mit denen also rechnen. Mir waren sie im Renntrimm aber noch nicht stark genug, um ganz vorne mitmischen zu können. Da wirkt die ausgefallene zweite Testwoche noch nach. Bei den Fahrern ist Grosjean schneller als Räikkönen, das kann man jetzt schon sagen. Die Jugend gewinnt, das musste auch Michael Schumacher bei seinem Comeback schon lernen. Im Duell der Verfolger sehe ich Mercedes als Nummer drei. Der Lotus ist vielleicht auf eine Runde schneller, im Rennen sollte aber Mercedes die Nase vorne haben."
Das Mittelfeld
Sauber: Die Schweizer schicken sich an, den guten Saisonstart aus dem Vorjahr zu wiederholen. Darauf deuten zumindest die Testeindrücke hin. Beeindruckend ist generell, wie ausgeglichen die schnellsten Zeiten im Mittelfeld waren. Das spielte sich alles teilweise im Hundertstel-Bereich ab. Sauber machte jedoch von den direkten Konkurrenten den besten Eindruck auf die Distanz.
"Wir wissen zwar bis Melbourne nicht genau, wo wir in puncto Leistung stehen, aber ich bin mit der Balance des Autos glücklich. Ich denke, wir haben mit dem Set-Up das Optimum erreicht", lobte Sergio Perez.
Force India: Auch die Inder machten mit schnellen Rundenzeiten regelmäßig auf sich aufmerksam, vor allem Rückkehrer Nico Hülkenberg. Trotzdem ist die Balance des Autos noch nicht perfekt, was auf die Distanz eventuell zu Reifenproblemen führen könnte. Nicht für große, aber im engen Mittelfeld werden Kleinigkeiten über Wohl und Wehe entscheiden.
Davor warnt auch Hülkenberg: "Bis Melbourne müssen wir noch etwas Performance im Auto finden, denn ich erwarte, dass es im Feld sehr eng zugehen wird."
Toro Rosso: Auch Toro Rosso sah bei den Tests sehr solide aus und weckte Hoffnungen, die guten Leistungen vom Saisonende 2011 wiederholen zu können. Das Team lobt vor allem die Konstanz auf den Long-Runs, Reifenverschleiß wurde bisher nicht als Problem ausgemacht.
"Insgesamt muss ich sagen, dass es ein erfolgreiches Testprogramm war. Wir bewegen uns bei der Entwicklung des Autos in die richtige Richtung", sagte Chefingenieur Laurent Mekies.
Williams: Bei Williams herrscht nach der Katastrophen-Saison 2011 fast schon ein wenig Übermut. Klar, der FW34 ist extrem zuverlässig gelaufen und hat bei den Tests auch durch die eine oder andere gute Zeit überzeugt, aber die Erfahrung zeigt, dass Quantensprünge in der heutigen Formel 1 so gut wie gar nicht mehr möglich sind. Pastor Maldonado träumt trotzdem schon von Podestplätzen.
Chefingenieur Mark Gillan ist deutlich bescheidener: "Wenn wir uns in den Top Ten qualifizieren und konstant in die Punkte fahren könnten, wäre ich schon sehr zufrieden."
Caterham: Das Ziel des Ex-Lotus-Teams ist klar: irgendwie den Anschluss ans Mittelfeld schaffen. Das sah in den ersten beiden Testwochen nicht gut aus, in der letzten Woche überzeugte Caterham aber sowohl durch Konstanz als auch durch vernünftige Rundenzeiten.
"Wir haben gegenüber dem Vorjahr einen Schritt nach vorne gemacht", sagte Technikchef Mike Gascoyne. "Wir wollen es mit ein oder zwei Teams, die 2011 noch vor uns lagen, aufnehmen." Dass es für einen Schritt in der Konstrukteurs-WM nach vorne reicht, bleibt dennoch fraglich. Dazu müsste eines der anderen Mittelfeld-Teams unerwartet schwächeln.
Surer: "Sauber sieht im Mittelfeld am besten aus. Die besten Rundenzeiten waren bei allen fast gleich schnell. Aber die Long-Runs waren bei Sauber am stärksten. Sie scheinen ihren Vorteil aus dem Vorjahr, mit weichen Reifen am längsten schnell fahren zu können, in die neue Saison gerettet zu haben. Das ist ein riesiger Vorteil. Im Rennen hat das Ferrari-Werksteam Druck vom eigenen Kundenteam."
Teil 3: Ferrari und andere Sorgenkinder
Die Sorgenkinder
Ferrari: Die Ratlosigkeit ist groß. Die Angst vor dem totalen Fehlstart ebenfalls. Keiner weiß genau, wie er mit dem F2012 umgehen soll, um ihn schnell und vor allem konstant zu machen. Das Auto liegt viel zu unruhig auf der Straße und droht dadurch große Probleme mit dem Reifenverschleiß zu bekommen. Vom geplanten Angriff auf Red Bull redet niemand mehr, der Blick geht eher nach hinten auf Teams wie Mercedes, Lotus, ja sogar Sauber und Force India. In Maranello gab es schon eine Krisensitzung.
"Es ist offensichtlich, dass wir nicht glücklich damit sein können, wie die Testfahrten verlaufen sind", sagte Teamchef Stefano Domenicali. Technikchef Pat Fry schloss Podestplätze in den ersten Rennen schon aus. Fernando Alonso sagte: "Unser neues Auto hat einige Eigenschaften, die schwer zu verstehen sind. Und vielleicht sind wir nicht da, wo wir sein wollen."
Blog: Der F2012 in der Analyse
Surer: "Es ist zu befürchten, dass von den Top-Teams nur Ferrari ernsthaft auf Zeit gefahren ist, um angesichts all ihrer Probleme die Wogen ein wenig zu glätten. Es würde mich sehr wundern, wenn Ferrari seine Probleme in der kurzen Zeit bis Melbourne noch beheben kann. Aber ich würde sie noch nicht abschreiben. Sie haben ein großes Team, die kriegen das schon hin. Die Frage ist nur wann und wie gut. Ferrari hat zwei Baustellen: Zum einen haben sie zu Beginn eine sehr extreme Auspuffvariante gewählt, die sie dann umbauen mussten. Das hat viel Zeit gekostet. Die zweite ist die Vorderradaufhängung. Dort ist die Umstellung von Druck- auf Zugstreben aufgrund der hohen Nase problematisch. Der Winkel ist einfach ungünstig und die Abstimmung dadurch extrem schwierig. Es war auf der Strecke deutlich zu sehen, dass die Fahrer Handlings-Probleme hatten. Insgesamt ist die Situation enttäuschend, denn die Formel 1 braucht ein Ferrari-Team, das an der Spitze mitfährt."
HRT: Die Spanier mussten erst die Wirren um den Umzug des Teams bewältigen und fielen dann auch noch durch den Crashtest. Das kostete jegliche Vorbereitungszeit auf die neue Saison und verspricht so gut wie nichts für den Auftakt in Melbourne.
"Wir konnten zwar keinerlei Set-Up-Arbeit machen, aber alle Systeme scheinen zumindest einwandfrei zu funktionieren", sagte Narain Karthikeyan nach dem Rollout zu Filmaufnahmen.
Marussia: Gleiches Problem wie bei HRT, nur dass es bei Marussia überraschender kam. Eigentlich konnte sich das Team voll auf die Entwicklung des neuen Autos konzentrieren und hatte dabei auch noch Unterstützung von Partner McLaren. Trotzdem wurde es nichts mit einem einzigen Testkilometer vor der Saison.
"Es war für uns alle eine lange und frustrierende Wartezeit, aber jetzt sind wir wieder in der Spur und können mit den Vorbereitungen auf Australien beginnen", sagte Teamchef John Booth.
Surer: "Es ist Wahnsinn, dass die Hinterbänkler schon vor dem ersten Rennen erneut die Hinterbänkler sind, weil sie es nicht schaffen, rechtzeitig ein Auto auf die Räder zu stellen. Bei HRT kann man es bei all den Turbulenzen um den neuen Eigentümer noch irgendwo verstehen, aber Marussia wusste schon rechtzeitig, dass man mit McLaren zusammenarbeitet. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass die so weit hinten dran sind. Auch andere sind durch Crashtests gefallen, na und? Zwei Tage später wurde der nachgeholt und die Sache war erledigt. Timo Glock kann einem nur leid tun."
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