Aus der Traum! Lisicki unterliegt Bartoli

Von Stefan Petri / Frank Oschwald / Florian Schimak
Sabine Lisicki hatte ihre Nerven nicht im Griff und verlor das Finale verdient gegen Marion Bartoli
© getty

Sabine Lisicki hat die Krönung in Wimbledon verpasst: Die Berlinerin musste sich im Finale der Französin Marion Bartoli mit 1:6, 4:6 geschlagen geben.

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"Ich war einfach überwältigt von der Situation. Ich bin mir aber sicher, dass ich noch einmal die Chance bekommen werde, diesen Titel zu holen", sagte Lisicki, die schon während des Spiel gegen die Tränen hatte ankämpfen müssen - und wurde von einem neuerlichen Heulkrampf geschüttelt.

Reaktionen zum Finale: "Wir sind trotzdem krass stolz auf Dich!"

Lisicki war der Erwartungsdruck in ihrer bislang wichtigsten Partie deutlich anzumerken, in den entscheidenden Momenten versagten ihr die Nerven.

Matchverlauf: Als Bartoli sich nach dem Münzwurf für Aufschlag entschied, und mit zwei Doppelfehlern in Folge abgab, sah es ganz kurz gut aus für die Deutsche. Aber Sicherheit gab es ihr nicht. Sie kämpfte im gesamten Match mit ihrem eigenen Service und gab das Break nach einem fast grotesk wirkenden Ballwurf über einen Doppelfehler wieder her. Danach entglitt ihr das Match: Während Bartoli sehr stark returnierte und kaum Fehler machte, fabrizierte die Deutsche allein im ersten Satz zwölf Vorhandfehler ohne Not.

Der erste Satz war sehr schnell weg: Lisicki konnte sich keinen einzigen Breakball mehr erspielen und kämpfte bei eigenem Service mit den Nerven. Leichte Punkte gab es kaum, wenn sie die Ballwechsel kurz halten wollte, machte sie meistens den Fehler. Bei 1:5 war ihr Gesicht zu einer Maske erstarrt, Bartoli dagegen pushte sich nach jedem Punkt, zeigte aber sonst keine Regung. Nach einer halben Stunde gewann sie den ersten Durchgang mit 6:1.

Im zweiten Satz fasste die Deutsche kurzzeitig neuen Mut und ging durch zwei gute Aufschläge und zwei Rückhandwinner in Führung. Aber sie konnte im nächsten Spiel gleich vier Breakchancen nicht nutzen und verlor wieder den Faden. Bei 1:3 schlug sie gleich mehrere Doppelfehler und musste anschließend darum kämpfen, nicht die Fassung zu verlieren und in Tränen auszubrechen.

Bartoli spielte sich in dieser Phase in einen Rausch und schlug ihrerseits Winner, die Lisicki ein Lächeln abnötigten. Erst bei 1:5 kam der Aufschlag bei "Boom Boom Bine" wieder. Sie wehrte drei Matchbälle ab und konnte in den folgenden Spielen plötzlich auch von der Grundlinie punkten. Als bei 4:5 das Comeback schon fast geschafft war, zeigte sich die Französin aber kompromisslos. Sie holte sich das Spiel zu Null, mit einem Ass nach außen gewann sie - völlig verdient - ihren ersten Grand-Slam-Titel.

Taktik:

  • Bei Bartoli war von Anfang an klar, dass sie gerade beim zweiten Aufschlag sehr viel riskieren würde. So machte sie zwar einige Doppelfehler, gab Lisicki aber nicht die Möglichkeit, über den Return zu attackieren und so Sicherheit in ihrem Spiel zu finden. Zum Vergleich: Ihre zweiten Aufschläge waren durchschnittlich gerade einmal 13 km/h langsamer als die ersten, bei Lisicki waren es fast 34 Stundenkilometer Unterschied. So ist es zu erklären, dass Bartolis zweiter Aufschlag im Schnitt fast 18 km/h schneller war als der von Lisicki.
  • Gerade zu Beginn schlug die Französin viel auf die schwächere Rückhand Lisickis auf und attackierte diese auch konsequent bei den Grundlinienduellen - womöglich hatte die Deutsche auch deswegen im ersten Satz so große Probleme mit der Vorhand, weil sie sich innerlich unter Druck setzte, ihre vermeintlich stärkste Waffe einzusetzen.
  • Um komplett ausrechenbar zu sein, war die schlussendliche Siegerin aber zu clever: Sie streute immer wieder Aufschläge auf den Körper oder auf die Vorhand ein und schaffte so schon bei 1:1 im ersten Satz ein Ass über den Zweiten, weil sich Lisicki zu früh in die Rückhandecke bewegte.
  • Lisicki ging wie schon in ihren früheren Matches schnell auf die direkten Punkte, was aber aufgrund ihrer Nervosität oft zu schnellen Fehlern führte. Bartoli machte es ihr mit harten, flachen Grundschlägen aber auch nicht leicht, die Deutsche musste viel riskieren. Während sie die Fehler, etwa gegen Radwanska im Halbfinale, durch Winner kompensieren konnte, war das in diesem Match nur im zweiten Satz teilweise der Fall.
  • Die Taktik von Bartoli, nahe an der Grundlinie zu stehen und die Aufschläge früh zu nehmen, funktionierte auch deswegen, weil ihre Gegnerin so große Probleme mit dem Ballwurf hatte. So ließ sie Lisicki kaum freie Punkte über den Aufschlag. Erst im zweiten Satz beruhigte die Deutsche sich etwas, ließ den Ball nach einem schlechten Ballwurf auch mal fallen, und schaffte so dann auch mehr Asse und Service-Winner.
  • Wie schon im bisherigen Turnierverlauf streute Lisicki auch den einen oder anderen Stopp ein. Wenn sie kurz genug waren und Bartoli nur noch mit einer Hand an den Ball kam, war diese Taktik auch erfolgreich - leider waren die Stopps aber oftmals zu hoch angesetzt, und auch die Stopp-Lob-Kombination funktionierte kein einziges Mal. Die Lobs waren im Gegenteil so flach, dass sie mehrfach zu leichten Schmetterbällen führten.
  • Mit ihrer Grundlinienpower dominierte Bartoli über weite Strecken das Match, gerade über die Rückhand. Erst im zweiten Satz war bei Lisicki der Versuch zu beobachten, die Französin auf ihrer Vorhand festzunageln, die beidhändig ein bisschen weniger unrund zu spielen ist als die Rückhand.

Bester Schlag des Matches: Die beidhändige Rückhand von Marion Bartoli dürfte nach diesem Turnier einer der gefürchtetsten Schläge auf der WTA-Tour sein. Mit ihrer weiten Ausholbewegung und der brachialen Härte brachte sie Lisicki immer wieder in Verlegenheit. Gerade wenn sich die Französin in diesen Schlag lehnen konnte, war der Punkt schon fast gewonnen, egal ob longline oder cross. Man fühlte sich, nicht nur aufgrund der beidhändigen Vorhand, an Monica Seles erinnert.

Ballwechsel des Matches: Als Lisicki von 1:5 auf 4:5 im zweiten Satz verkürzt hatte, schien das Momentum auf ihrer Seite. Beim kommenden Ballwechsel hatte sie Bartoli in der Defensive festgenagelt, spielte ihr den Topspin-Volley aus dem Halbfeld in den Schläger. Bartoli setzte Lisicki die Filzkugel prompt vor die Füße und spielte danach eine unfassbare Vorhand cross, die hinter dem Netz kaum noch hochkam und für Lisicki unerreichbar war. Danach machte die Deutsche keinen einzigen Punkt mehr.

Turning Point: Hätte Lisicki bei 1:0-Führung im zweiten Satz eine ihrer gleich vier Breakchancen nutzen können, hätte das Match vielleicht eine andere Wendung genommen. Aber Bartoli wehrte alle Breakbälle ab, teilweise durch aggressives Spiel und Netzangriffe, teilweise durch starke Laufarbeit. Sie glich aus und gewann fünf Spiele in Folge - dieser Rückstand war für Lisicki nicht mehr aufzuholen.

Statistik: Mit ihrem risikoreichen Service brachte es Bartoli auf insgesamt sechs Doppelfehler ( Lisicki: 5), machte aber 83 Prozent aller Punkte über den ersten Aufschlag. Über den Zweiten waren es dagegen nur 25 Prozent. Lisicki steigerte sich nach einer Quote von nur 54 Prozent erster Aufschläge im Feld im ersten Satz zwar noch, das lag aber auch daran, dass sie weniger Risiko ging. Über das erste Service, ihr vermeintlich größter Vorteil, machte sie im Match nur 22 von 42 Punkten - zu wenig für den Turniersieg.

Auch am Netz war die Französin die klar bessere Spielerin und machte neun von elf möglichen Punkten. Lisickis Quote war mit elf von 18 Punktgewinnen klar schlechter.

Insgesamt schlug die Deutsche zwar mehr Winner (21:15), hatte am Ende aber auch elf unerzwungene Fehler mehr auf dem Konto (25:14). Da halfen auch sechs Asse nicht: Bartoli machte in den 81 Minuten auf dem Platz insgesamt 21 Punkte mehr (72:51).

Publikum: Zu Beginn gab es für die Zuschauer im Match wenig zu beklatschen, die ersten Spiele boten kaum längere Ballwechsel. Als sich Bartoli als die klar bessere und vor allem nervenstärkere Spielerin entpuppte, pushten die Zuschauer Lisicki mehrfach durch aufmunternden Beifall, das half im ersten Satz aber nicht.

Als Lisicki ihr erstes Service im zweiten Satz zu Null durchbrachte, führte das fast schon zu Jubelstürmen. Aber so richtig wachte die Menge auf dem Centre Court erst auf, als die Deutsche von 1:5 auf 4:5 herankam. Lisicki war ganz klar Publikumsliebling und bekam bei der Siegerehrung am Ende mindestens ebenso viel Beifall wie die Siegerin.

Sabine Lisickis Wimbledon-Finale zum Nachlesen im Ticker