Der Herr der vielen Blondinen

Von Stefan Maurer
Marat Safin voll fokussiert. Dieses innere Feuer konnte er in seiner Karriere nur selten entfachen
© Getty

Marat Safin ist ein ganz besonderer Tennisspieler - einer der polarisiert, der anders ist und dem man das auch ansieht. Am Ende des Jahres geht der russische Tennis-Hüne in Rente. Bei den US Open in New York spielt der 29-Jährige sein letztes Grand-Slam-Turnier. Zeit für SPOX, den Ausnahmespieler zu würdigen.

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Früher war ja alles besser. Ein dummer Spruch, der aber manchmal doch zutrifft. Zumindest im Tennis schwelgt man gerne in Erinnerungen an alte Zeiten.

Waren das Kerle in den 70ern, die Nastases, die Connors, die Borgs. Und dann die 80er - immer noch Jimbo, dazu Big Mac, der rote Boris und viele mehr. Das waren Männer, das waren Charaktere.

Bei den US Open wird einer seine Karriere beenden, der nahtlos in die Ahnengalerie der Charakterköpfe eingefügt werden kann - Marat Michailowitsch Safin.

Safin - emotional, laut und zornig

1997 kam der russische Hüne auf die ATP-Tour und fiel sofort auf. Safin war anders: Er war stärker, lauter, emotionaler, intensiver und zorniger als seine Kollegen.

Er brüllte seine Emotionen so heraus, dass das Stöhnen einer Maria Scharapowa wie das Hüsteln einer 80-Jährigen daherkommt. Er zertrümmerte Schläger, wie andere Leute Zahnstocher zerbrechen.

Eines war aber auch von Anfang an zu sehen - Talent, viel und scheinbar grenzenloses Talent. Das bekamen bald auch die ganz Großen des Sports zu spüren. Bei den French Open 1998 schlug er in der ersten Runde Andre Agassi und rang in Runde zwei Titelverteidiger Gustavo Kuerten nieder, ehe im Achtelfinale gegen Lokalmatador Cedric Pioline Endstation war.

Der neue König von New York

Es war der Auftakt für weitere Großtaten. Mitte 2000 stand Safin erstmals unter den zehn besten Tennisspielern der Welt und am 11. September dieses Jahres krönte er sich zum König von New York.

Im Finale der US Open ließ er die Welt an einer wahren Tennis-Demonstration teilhaben. Sein Opfer? Kein Geringerer als der vierfache US-Open-Sieger Pete Sampras, der zuvor in acht Grand-Slam-Finals in Folge siegreich gewesen war.

Safin dominierte den Amerikaner nach Belieben und siegte mit 6:4, 6:3 und 6:3. Safin selbst sagt rückblickend: "Besser als in diesem Finale habe ich nie Tennis gespielt. Es war ein unglaubliches Gefühl und eine unglaubliche Leistung, Pete im US-Open-Finale zu schlagen."

Der kommende Dominator

Es war einer von sieben Titeln des Jahres, das Safin als Nummer zwei der Welt abschloss. Ende des Jahres und Anfang 2001 stand er insgesamt sechs Wochen an der Spitze der Weltrangliste und viele Experten sahen in ihm den dominierenden Spieler der nächsten Jahre.

Bis Anfang 2003 deutete Safin sein unendliches Potenzial viele Male an und etablierte sich unter den Top Ten der Weltrangliste.

Ende 2002 holte er zusammen mit Jewgeni Kafelnikow und Michail Juschni den Davis Cup für Russland und gewann dabei beide Einzel. 2006 sollte er diesen Erfolg gegen Argentinien wiederholen.

Marat und die Blondinen-Box

In dieser Zeit bekam die Welt aber auch eine andere Seite des Russen zu sehen:  Die des Lebemannes, für den Tennis nicht alles ist. Ein Safin-Spiel im Fernsehen war ein Augenschmaus und das nicht nur wegen des Geschehens auf dem Platz, sondern auch wegen der Kameraeinstellungen abseits des Courts.

Meist konnte man zwei bis fünf wunderschöne langbeinige Blondinen in seiner Players-Box erspähen, die allemal genug Talent für einen Auftritt auf den Catwalks dieser Welt mitgebracht hätten.

Mit den Damen hatte der russische Riese freilich nichts zu tun. Auf einer Pressekonferenz auf seine blonde Entourage angesprochen, witzelte er: "Ich weiß auch nicht, wo mein Coach die immer alle kennenlernt."

Der Klassiker gegen Federer

Auf dem Platz trug Safin das obligatorische Goldkettchen um den Hals und legte diese besondere Attitüde an den Tag, die ihn und seine Matches für Fans und Medien zum Ereignis werden ließen. Ein ganz besonderes Match lieferte sich Safin 2005 mit Roger Federer im Halbfinale der Australian Open.

Ein wahrer Klassiker der Tennis-Geschichte, in dem zwei Spieler auf dem Zenit ihres Könnens aufeinandertrafen. Nach viereinhalb Stunden konnte der Russe, der im vierten Satz selbst einen Matchball abwehren musste, seinen siebten Matchball verwandeln und den damals unbesiegbar scheinenden Schweizer in die Knie zwingen.

Federer sagte hinterher: "Er war des bessere Spieler, aber ich hoffe, es wird eine Wiederholung geben. Auch wenn ich verloren habe, bin ich glücklich, Teil dieses Spektakels gewesen zu sein."

Der Körper spielt nicht mit

Glücklich wirkte Safin in der Folgezeit selten, was zum einen auf die immer schlechter werdende Beziehung zu seinen Rackets und zum anderen auf seinen eigenen Körper zurückzuführen war. Zwei Dinge, die sicherlich bei keinem Sportler unabhängig voneinander zu sehen sind.

Bei einem Charakter wie Safin, der von den Emotionen lebt, die gleichzeitig auch sein größter Feind sein können, schlägt die Unzufriedenheit mit sich selbst doppelt zu Buche.

Der Leidtragende dieses Zustandes, den man als latentes Pendeln zwischen Genie und Wahnsinn beschreiben kann, war Coach Peter Lundgren, von dem sich Safin im Laufe des Jahres 2006 trennte.

Himalaya statt Davis Cup

Ein Jahr später konnte man dem Russen den nicht vorhandenen Spaß beim Tennis beinahe in jedem Match ansehen. Heraus kam eine Bilanz von 23 Siegen und 20 Niederlagen: Zum Jahresende bedeutete das Platz 57 in der Weltrangliste. Tennis spielte nicht mehr die Hauptrolle in Safins Leben.

Der Beweis? Das Davis-Cup-Halbfinale im September 2007 gegen Deutschland. Russland musste ohne seinen großen Star antreten, weil der es vorzog, im Himalaya den sechsthöchsten Berg der Erde, den Cho Oyu, zu besteigen.

Auch wegen solcher Eskapaden wurde die Diskrepanz zwischen Talent, Händchen und Realität immer größer.

Safin kündigt das Ende an

Was dazu führte, dass 2008 erstmals Gerüchte um ein Karriereende des zweimaligen Grand-Slam-Gewinners laut wurden. In einer Saison mit Höhen und Tiefen erreichte er im verhassten Wimbledon, über das er einst sagte, "Gras ist für Kühe", das Halbfinale, in dem er in drei Sätzen an The Mighty Fed scheiterte.

Es war der bislang letzte Höhepunkt seiner Karriere. Nach einer erneuten Niederlage gegen Federer - er hatte seine Revanche Down Under bekommen - kündigte Safin bei den Australian Open seinen Rücktritt für Ende des Jahres an.

Peter Lundgren sagte dazu: "Man weiß nie, woran man bei Marat ist. Die ATP-Tour braucht ihn eigentlich. Er ist eine sehr spezielle Persönlichkeit und kann in der richtigen Stimmung ein echter Künstler auf dem Platz sein."

Die Nase voll von Bällen und Schlägern

Zeigen konnte er das in seiner letzten Saison selten. Ein Rematch gegen Pete Sampras, das Ende Juli unter dem Namen "Millennium Challenge" lief, war wohl das Spiel, welches ihn 2009 am meisten motivierte.

Nach einer Niederlage in Bastad gegen Nicolas Almagro sagte Safin: "Ich habe die Nase voll von allem, was mit Schlägern und Bällen zu tu hat." Und auch einen letzten Turniersieg hat der Bruder der Weltranglisten-Ersten Dinara Safina abgehakt.

Beim Masters-Turnier in Montreal ereilte ihn Anfang August das Aus in Runde eins gegen Gael Monfils. Danach sagte der Russe: "Ich bin Realist. Ich werde kein Turnier mehr gewinnen. Das ist schlicht unmöglich. Es wird von Turnier zu Turnier schwerer, mich zu motivieren. Ich sollte das Ende mehr genießen, aber es fällt mir sehr schwer."

New York: Das letzte Halali

Vielleicht gibt ihm der Auftritt in New York, am Ort seines größten Triumphs, noch einmal Auftrieb und die Fans bekommen ein letztes Mal die Chance, den wahren Marat Safin bei einem Grand Slam zu sehen. Den lauten, den impulsiven, den emotionalen, den genialen Safin.

Typisch wäre ein schwaches Auftaktmatch, das er gewinnt, in Runde zwei ein Sieg gegen einen der Besten der Welt und in Runde drei eine Niederlage gegen einen bis dahin völlig Unbekannten.

Das Publikum im Big Apple wird ihn dabei ohne Wenn und Aber unterstützen, weil die New Yorker ehemalige Sieger und Typen wie Safin lieben. Sie werden es bedauern, dass er nicht wieder kommt.

"Die Aussicht muss unglaublich sein"

Safin selbst bereut seinen Rückzug keine Sekunde: "Ich bin zufrieden mit meiner Karriere. Bei allen richtigen und falschen Entscheidungen bin ich glücklich darüber, wie es gekommen ist. Es war eine schöne Reise."

Auf die Frage, wie die Reise nach der Tenniskarriere weitergehen soll, lieferte er eine Safin-typische Antwort: "Ich werde sicherlich nicht am Strand auf meinem Arsch sitzen und für den Rest meines Lebens nichts tun."

Der Mount Everest lockt ihn: "Die Aussicht muss unglaublich sein", sagt er. Die Aussicht auf den Tennisspieler Marat Safin war es in den letzten zwölf Jahren auch.

Sabine Lisicki im SPOX-Interview