Einen neuen König braucht das Land

Wladimir Klitschko trifft im Wembley Stadium auf Anthony Joshua
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Ausdauer

Ein 41-Jähriger trifft auf einen 27-Jährigen. Das Bild, welches sich aus den reinen Zahlen ergibt, ist trügerisch. Klitschko ist körperlich wie immer perfekt austrainiert und für sein Alter extrem fit. Zudem hat der Ukrainer mit zunehmendem Alter und Kampfanzahl über die vollen zwölf Runden einige wertvolle Lektionen gelernt.

Während sich Klitschko früher im Ring verausgabte und so in konditionelle Probleme geriet, hat er mit den Jahren verstanden, sich seine Kräfte einzuteilen. Die Tatsache, dass er zumeist das Geschehen diktierte und seinen Kontrahenten durch körperliche Überlegenheit im Klammergriff Kraft kosten konnte, kam hinzu.

Mit Joshua steht ihm diesmal allerdings ein Boxer gegenüber, der beim Wiegen nicht im Schatten des Ex-Champions stand, sondern sogar vier Kilo mehr auf die Waage brachte. Der Brite ist ebenfalls perfekt austrainiert und hat in der Vorbereitung großen Wert auf Power und Ausdauer gelegt. Was ihm jedoch komplett fehlt, ist die Erfahrung. Wenn es darum geht, sich die Luft einzuteilen, kann dies zum fatalen Problem werden.

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Zudem wirkt der Brite noch muskulöser als sonst - und Muskeln brauchen Sauerstoff, den der Körper liefern muss. Je größer die Masse, desto größer der Verbrauch. Zwölf Runden können verdammt lang werden. Vor allem, wenn man bisher nicht mal ansatzweise so lange im Seilgeviert stehen musste.

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Körperliche Ausgangslage

Warum das 50:50-Duell in London von so vielen heiß ersehnt wird, lässt auch ein Blick auf die körperlichen Voraussetzungen erahnen. Beide Boxer bringen es auf eine Körpergröße von 198 Zentimetern. Bei der Reichweite hat der Brite sogar mit 208 Zentimetern zu 206 die Nase knapp vorne.

"Er ist in gewisser Weise eine Kopie meiner Fähigkeiten und meines Auftretens nur in einem anderen Look. Er erinnert mich definitiv an mich selbst", erklärte Klitschko, der anführte, dass die Pause kein Nachteil sei: "Es war das erste Mal in meiner 27-jährigen Karriere, dass ich ein Jahr Pause hatte und nicht gekämpft habe. Das heißt nicht, dass ich nicht trainiert habe. Wenn ich zurückblicke, war das richtig gut. Ich hatte Zeit mich, meinen Körper, meinen Geist und meine Motivation zu regenerieren. Ich war die letzten Jahre in einem wahren Hamsterrad gefangen."

Dass Klitschko in der Vorbereitung andere Prioritäten gesetzt hat als in den letzten Jahren, offenbarte sich beim Wiegen. Während Joshua 250 Pfund auf die Waage brachte, waren es bei Klitschko knapp über 240 Pfund. So leicht war der entthronte Champion zuletzt bei seinem Knockout-Sieg über Ruslan Chagaev im Jahr 2009.

SPOX-Urteil: Unentschieden

Technische Fähigkeiten

Im Hinblick auf die technischen Fähigkeiten ist Klitschko vom Potential her noch immer auf einem eigenen Level. Sein Jab hat über die Jahre stets an Dominanz gewonnen und lässt sich variabel in einen eng geschlagenen Haken umwandeln. Seine Power ist zwar nicht mehr ganz so enorm, reicht aber aus, um jeden Gegner auszuknocken. Seine koordinativen Fähigkeiten sind trotz des inzwischen fortgeschrittenen Alters beachtlich. Er kann sich im Ring unheimlich intelligent bewegen.

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Die größte technische Entwicklung hat der ehemalige Weltmeister in seiner Karriere jedoch in der Defensive durchlebt. Die Niederlagen der Vergangenheit sind heute schwer vorstellbar. Klitschko verfügt trotz der schwachen Vorstellung gegen Fury noch immer über das wohl beste und kompletteste Paket aller Schwergewichtsboxer. Im Gegensatz zur Pleite gegen den Briten muss er es aber auch abrufen.

Joshua bringt zweifelsohne ebenfalls ein starkes Gesamtpaket mit in den Ring. Er hat die körperlichen Voraussetzungen und kann in seiner Karriere auf eine stetige Entwicklung zurückblicken, egal ob man seine Zeit als Amateur oder Profi heranzieht. Vor allem vor dem Hintergrund, dass er erst mit 18 das erste Mal seine Handschuhe schnürte, ist dies beeindruckend. Am Ende seines Weges ist er aber noch nicht.

Seine Geschwindigkeit in den Händen ist ebenso wie seine Power Furcht einflößend. Speziell bei den Kopf- und Oberkörperbewegungen sowie der Beinarbeit ist Joshua aber noch ein Stück von der Elite der Schwergewichtler in der Geschichte des Sports entfernt und wirkte in seinen Kämpfen zuweilen so noch etwas steif. Sein Jab ist solide und hat ordentlich Zug, kann aber noch nicht mit dem von Klitschko auf eine Stufe gesetzt werden. Kurzum: Er bringt alles mit, benötigt aber eigentlich noch ein paar Kämpfe.

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Mentale Stärke

"Ohne diese Niederlage wäre ich nicht hier. Ich will noch mal beweisen, dass ich nicht umsonst so lange so erfolgreich war", hatte Klitschko nach der Verkündung des Kampfes erklärt. Es waren nicht irgendwelche Worte, der 41-Jährige meinte sie auch so. Der Ex-Champion findet sich in einer Rolle wieder, in der er ewig nicht war: er ist in der Außendarstellung und bei den Buchmachern der Außenseiter - und kommt ohne einen Titel zum Ring.

Die Niederlage gegen Fury dürfte noch immer an ihm nagen. Darüber hinaus ist dem Ukrainer klar, dass eine erneute Pleite wohl automatisch das Ende der Karriere bedeuten dürfte. Eine Laufbahn, in der er allerdings sowieso nahezu alles erreicht hat. Zur mentalen Komponente zählt zudem der Hunger. Wie groß dieser bei Klitschko nach all den Jahren noch ist, muss er beweisen.

Anreize sind vorhanden. Unter anderem kann Klitschko erst der zweite Boxer nach George Foreman werden, der mit über 40 Jahren einen Schwergewichtstitel gewinnen kann. Außerdem wäre er nach Muhammad Ali (3), Lennox Lewis (3), Evander Holyfield (4) und Bruder Vitali (3) immerhin erst der fünfte Boxer, der zum dritten Mal Schwergewichts-Champion werden würde und könnte mit 26 Siegen in Titelkämpfen mit Joe Louis und Floyd Mayweather Jr. gleichziehen.

Für Joshua ist das Duell mit dem Mann, bei dem er sich im Trainingscamp vor dem Kampf Klitschkos gegen Kubrat Pulev einiges abgeschaut hat, ebenfalls richtungsweisend. Zwar hat der Brite aufgrund seines Alters noch alle Zeit der Welt und wird ungeachtet vom Ausgang viel erreichen. Dennoch wird er am Auftritt gegen den Altmeister zwangsläufig eine ganze Zeit lang gemessen werden. Es ist ein Druck, dem keine wirkliche Erfahrung gegenübersteht und der somit seinem Gegner in die Karten spielt. Der Kampf wird seine ultimative Feuertaufe, egal wie betont locker er sich vorher gibt. Joshua weiß es.

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Fazit

Klitschko ist trotz inzwischen 41 Jahren auf dem Buckel und einer Kampfpause von 17 Monaten, die längste in seiner gesamten Karriere als Profi, voll im Saft. Ob der Ukrainer aber den nötigen Hunger aufbringen kann, um Joshua auf dessen Weg an die Spitze eine Lektion zu erteilen, muss er beweisen.

An selbigem wird es dem Briten nämlich auf keinen Fall mangeln. Joshua ist heiß, will es sich und der Welt beweisen. Er hat die Power und die Athletik, um Klitschko in Box-Rente zu schicken. Klar ist, dass Joshua eigentlich versuchen muss, den Kampf früh zu beenden. Er darf kein leichtes Ziel sein, muss den nächsten Schritt bei der Bein- und Oberkörperbewegung machen. Und er muss auf Konter aufpassen, die schon vielen Klitschko-Gegnern beim Verkürzen der Distanz zum Verhängnis geworden sind.

Ferner darf er sich von den verrückten britischen Fans nicht verleiten lassen. Lässt er sich treiben und verausgabt sich, spielt er Klitschko in die Karten. Joshua muss die Ruhe bewahren. Er ist jünger, schneller und schwerer als sein Gegner. Sein Ziel kann nur ein Knockout sein, sonst wird es schwierig.

Für Klitschko gilt es hingegen besonders, die Stärken seines Kontrahenten zu bestmöglich zu negieren. Sein defensiver Plan muss perfekt aufgehen und er muss mit der Erfahrung und dem Jab seine größten Trümpfe permanent ausspielen. Vor allem, wenn Joshua mit der linken Geraden arbeitet, was der Brite bislang immer getan hat, kann sich Klitschko die Chance bieten, mit einer Rechten zu antworten. Das Kinn von Joshua wurde nie wirklich getestet. Trifft Klitschko muss dieser erstmal zeigen, dass er auch etwas einstecken kann.

Kommt der 27-Jährige aber gut in den Kampf und lässt sich von Fans und Gegner nicht beeindrucken, dann hat er alle Chancen, am Ende des Abends den Ring als Sieger zu verlassen - und zwar vorzeitig.

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