Toni Kroos verabschiedet sich zum zweiten Mal: An wem arbeiten sich die Deutschen in Zukunft ab?

Von Justin Kraft
kroos-16002
© getty

Toni Kroos wird das DFB-Team nach seinem Blitzcomeback für die Europameisterschaft 2024 schon wieder verlassen. Doch wer kann sein Nachfolger werden? Und an welchem Mittelfeldspieler reiben sich die Deutschen zukünftig unnötig auf?

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Toni Kroos beendet seine Karriere. Zwar ist sein Ansehen hierzulande in den vergangenen Jahren gestiegen, doch "Querpass-Toni" wird auch heute nicht von allen Fans verehrt.

Deutschland und seine Mittelfeldspieler - ein ewiges Mysterium. Von "Chefchen" Bastian Schweinsteiger bis "Feigling" Lothar Matthäus: Die Beziehung von Fußball-Deutschland zu seinen Strategen, Takt- und Rhythmusgebern ist, nun ja, mindestens kompliziert.

In einem Land, das sich über viele Jahrzehnte hinweg als Nation der "Tugenden" definiert hat - also Kampf, Laufbereitschaft, Wille und viele, eher sehr viele Zweikämpfe - sorgt es bis heute für Irritationen, wenn jemand den Ball mit seinen Füßen nicht nur streicheln kann, sondern damit auch noch in der Lage ist, dem Spiel eine künstlerische Note zu verleihen.

Selbst Franz Beckenbauer kam nicht ohne Skepsis und Kritik an seinem Spielstil durch seine Karriere. Nahezu argwöhnisch wurde vor allem nach Niederlagen auf sein Trikot geschaut, das nicht selten kaum Spuren von Dreck nachwies. Während Spieler wie Hans-Georg Schwarzenbeck eine Grätsche nach der anderen auspackten, hielt sich der Kaiser ausgerechnet bei den vermeintlich deutschen Tugenden zurück.

Schweinsteiger musste erst in einem WM-Finale bluten und seinen gezeichneten Körper nach diversen weiteren Zweikämpfen zum goldenen Pokal schleppen, ehe ihm in Deutschland der Respekt zukam, den er sich schon früher verdient hatte. Matthäus wurde trotz WM-Titel 1990 dafür kritisiert, dass er den von Andi Brehme verwandelten Elfmeter nicht selbst übernahm.

kroos-tuchel-1600
© getty

Toni Kroos: Herausragende Querpässe

Die Kritikpunkte, an denen sich ein Teil der deutschen Fußballlandschaft abarbeitet, sind traditionell absurd. Bei Toni Kroos sind es die vermeintlichen Querpässe. Er mache das Spiel langsam, er sei zu unspektakulär und ganz nebenbei, na klar, fehlen ihm die deutschen Tugenden.

Ein Zweikämpfer war Kroos noch nie. Im Dress des DFB-Teams brauchte der Mittelfeldspieler im März allerdings nur ganz wenige Sekunden gegen Frankreich, um dem Land der Grätschen und Zweikämpfe zu zeigen, was es ausmacht, wenn man Instinkt mit Spielverständnis und zwei Füßen vereint, die in der Lage sind, mit dem Ball fast alles anzustellen.

Tatsächlich war die Vorlage zum schnellsten Tor in der Geschichte der Nationalmannschaft von Florian Wirtz ein ganz passabler Querpass. Zumindest am Bildschirm bewegte sich der Ball ja durchaus quer - vielleicht ist auch das das große Missverständnis. Einen weiteren solcher "Querpässe" spielte Kroos in der Champions League im Hinspiel gegen den FC Bayern. Vinícius Júnior profitierte von einem perfekt getimten Pass in die Tiefe.

Doch Ironie beiseite: Kroos ist eine Legende. Der Weg dorthin deutete sich nicht erst in den vergangenen Jahren an, in denen er mit Real Madrid unzählige Titel gewann und sich auch in seinem Podcast "Einfach mal Luppen" der deutschen Öffentlichkeit nahbarer präsentierte.

Die Europameisterschaft wird seine letzte große Mission. Es ist absehbar, dass der Ausgang dieses Turniers auch wieder zu Diskussionen um ihn führen wird - wenngleich es vollkommen egal ist, wie die EM für ihn endet. Seinen Status als einer der größten deutschen Spieler der Geschichte hat er sicher. Mindestens mal bei denen, die seine Karriere aufmerksam verfolgt haben.

07-goretzka
© getty

Leon Goretzka und Co.: Viele DFB-Stars haben ein anderes Profil als Kroos

Bleibt aber die Frage, wer Kroos ersetzen soll. Sportlich gibt es nicht viele Spieler, die überhaupt infrage kämen, in die Nähe seiner Fußstapfen zu kommen. Viele Mittelfeldspieler im DFB-Kader oder im engeren Umfeld definieren sich eher über athletische Fähigkeiten.

Dass jemand wie Leon Goretzka nicht die große Lösung ist, die es nach dem ersten Ende von Kroos in der Nationalmannschaft gebraucht hätte, hat sich mehrfach gezeigt. Als Box-to-Box-Spieler liegen seine Stärken weniger darin, den Rhythmus zu bestimmen, als mehr darin, den Rhythmus des Gegners durch Tiefenläufe und aggressive Pressingarbeit zu zerstören.

Goretzka vereint in sich ironischerweise zwar die vermeintlich deutschen Tugenden, scheitert aber daran, dem Spiel das gewisse Extra zu geben, was Ball- und Kombinationssicherheit anbelangt. Jemand wie Kroos ist eine sichere Bank in einer Mannschaft, die einen Fixpunkt im Mittelfeld braucht. Einen, den man immer unter Druck anspielen kann und bei dem klar ist: Der wird den Ball in einhundert Fällen vielleicht ein-, maximal zweimal verlieren.

Die Fehlerquote von Spielern wie Goretzka ist höher. Das gilt auch für Spieler wie Anton Stach oder Pascal Groß, die in den letzten Jahren mehrfach getestet wurden. Beide verfügen über Qualitäten am Ball, sind aber letztlich doch eine ganz andere Gewichtsklasse als Kroos.

kimmich-kroos
© getty

Joshua Kimmich scheiterte bereits als Nachfolger von Toni Kroos

Der große Nachfolger sollte ursprünglich Joshua Kimmich werden. Mit nun 29 Jahren wurde dieser jedoch mehr oder weniger degradiert. Er selbst sieht das weitaus weniger kritisch, als es in der Öffentlichkeit mehrfach dargestellt wurde, doch dass er nun wieder auf der rechten Defensivseite zum Einsatz kommt, ist gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass er zumindest in den jeweiligen Konstellationen beim FC Bayern und im DFB-Team nicht die Optimalbesetzung in der Zentrale ist.

Auch Kroos war immer bis zu einem gewissen Grad davon abhängig, wie er in das Spiel eingebunden ist. Gerade defensiv tun ihm Spielertypen wie einst Casemiro bei Real Madrid oder jetzt Robert Andrich im DFB-Dress gut. Spieler, die ihm einen Teil der Drecksarbeit abnehmen.

Bei Kimmich aber ist es nicht nur die Defensivarbeit, die kritisch betrachtet wird. Auch im Ballbesitzspiel ist er streitbarer als Kroos. Was die Fähigkeiten im Passspiel anbelangt, kommt er dem 34-Jährigen zwar so nah wie kein anderer Deutscher im Moment. Doch Kimmich hat einen viel größeren Offensivdrang. Seine Stärken liegen näher am gegnerischen Tor als jene von Kroos.

Das wiederum bedarf je nach Rolle einer größeren Unterstützung. Kimmich funktioniert so nämlich nicht als direkter Partner von Kroos - das konnte mehrfach beobachtet werden. Er funktioniert aber mit den Spielertypen, die der DFB zur Verfügung hat, auch nicht als alleiniger tiefer Spielmacher an Stelle von Kroos.

Kimmich hat als vertikal agierender Achter großes Potenzial und zählt dort zu den Besten der Welt. Was das Standing bei den deutschen Fans angeht, ist er zudem der Spieler, an dem sich viele bereits jetzt ähnlich absurd abarbeiten. Aber er ist eben ein anderer Spielertyp.

pavlovic-jubel
© getty

DFB-Team: Bringt die neue Generation einen neuen Toni Kroos hervor?

Bleibt die Hoffnung, dass die neue Generation einen neuen Kroos hervorbringen kann. Vielversprechende Kandidaten gibt es jedenfalls. Rocco Reitz von Borussia Mönchengladbach ist eher nicht auf der Liste der potenziellen Takt- und Rhythmusgeber für das deutsche Spiel. Doch anders als beispielsweise Goretzka bringt der 21-Jährige technisch für das Kombinationsspiel deutlich mehr mit. Wenn ihm ein weiterer Entwicklungssprung gelingt, könnte er eine Option für ein neu strukturiertes Mittelfeld werden.

Mit Blick auf einen direkten Kroos-Ersatz fallen aber zwei andere Namen auf: Aleksandar Pavlović und Angelo Stiller. Ersterer ist bereits bei der EM im Sommer Teil des DFB-Kaders. Bei den Bayern stellte der 20-Jährige eindrucksvoll unter Beweis, dass er nicht nur viel Ballgefühl hat, sondern auch Spielsituationen vorausschauend lesen kann. Pavlović ist schon jetzt ein guter Taktgeber, kann das Tempo im Mittelfeld diktieren und unter Druck gute Entscheidungen treffen.

Auf Stiller treffen diese Attribute ebenfalls zu. Allerdings ist der Stuttgarter nicht so dynamisch wie Pavlović. Er ist sogar relativ langsam, was Antritt und Endgeschwindigkeit anbelangt. Einer der Gründe, warum er den FC Bayern verlassen musste, war, dass man für ihn keinen Platz in einem System sah, das defensiv auf Geschwindigkeit und offensiv auf aggressives Gegenpressing ausgelegt war.

Das macht ihn sogar noch besser vergleichbar mit Kroos. Einerseits die Defizite gegen den Ball, andererseits ein streitbares Ende beim deutschen Rekordmeister, das für viele Diskussionen gesorgt hat und immer noch sorgt. Gerade am Campus des FC Bayern herrscht große Unzufriedenheit über den Verlust von Stiller.

kroos-05
© getty

Toni Kroos: Querpässe, die Deutschland vermissen wird

Doch so vielversprechend manches junge Talent auch ist, die Fußstapfen von Kroos sind zu riesig. Das ist schon jetzt klar. Julian Nagelsmann wird taktisch und personell experimentieren müssen, um den Verlust aufzufangen.

Was wiederum zeigt, wie groß dieser Spieler tatsächlich ist. Nach nur zwei Comeback-Einsätzen im DFB-Trikot sind die Sorgenfalten schon jetzt riesig, wenn man an den Abschied denkt. Material, aus dem Geschichten über Legenden gestrickt sind.

Mit einem großen Wurf bei der EM könnte sich Kroos auch im Gesamtbild des deutschen Fußballs nochmal klarer als Legende verewigen - vielleicht schafft er das sogar ohne Wunde am Kopf oder heroische Grätsche.

Unbeantwortet bleiben jedoch die zwei großen Fragen, die mit seinem Abschied verbunden sind: Wer kann ihn sportlich ersetzen? Und an wem arbeiten sich die Deutschen zukünftig ab, wenn nicht an den Pässen, die Kroos zumindest aus der Bildschirmperspektive heraus immer quer über den Rasen streichelt?

Artikel und Videos zum Thema