FC Bayern München: "Fahrig und wild" - diese Baustellen muss Thomas Tuchel schließen

Von Justin Kraft
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Der FC Bayern München schlägt den BVB mit 4:2 und alles ist wieder gut? Das sieht Thomas Tuchel anders. Auch weil der Trainer weiß, dass er in den kommenden Wochen beim FCB einige Baustellen zu schließen hat. SPOX zeigt fünf davon.

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Thomas Tuchel sprach nach dem 4:2-Sieg des FC Bayern München gegen Borussia Dortmund von einem "Stimmungsdämpfer". Damit bezog sich der Trainer vor allem auf die beiden unnötigen Gegentore in der Schlussphase. Ohnehin bemühte sich Tuchel darum, nicht zu euphorisch zu werden. Mit dem Ergebnis war er zufrieden, mit der Leistung nur teilweise.

"Er hat diesen Verein in zwei Tagen verinnerlicht", sagte Uli Hoeneß im kicker über den neuen Mann an der Seitenlinie - und das, obwohl der Ehrenpräsident einen langen Weg ging, ehe er sich mit der Idee anfreunden konnte, dass Tuchel seinen Klub coacht. 2018 bezeichnete er jene, die ihm "Thomas Tuchel oder wen auch immer als Wunschtrainer einreden wollten", in der AZ noch als "Schlaumeier".

Zwei Pressekonferenzen und einen souveränen Sieg über den BVB hat es gebraucht und schon ist die Welt des FC Bayern zumindest auf dem Fußballplatz wieder in Ordnung. Für den Moment. Denn Tuchels verhaltene Analyse zeigt, dass er sich der Schwere dieser Herausforderung bewusst ist. Ein "guter erster Schritt" sei dieser Sieg gewesen, sagte der 49-Jährige bei Sky.

Mit dem Resultat verschaffte er sich weitere Stunden und Tage im eng getakteten Terminkalender, um die vielen mindestens kleinen Probleme anzugehen, die sich ihm trotz des Erfolgs offenbarten.

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FC Bayern München: Ballbesitzspiel "fahrig und wild"

An der Seitenlinie jubelte Tuchel nicht mal über das 1:0, das durch einen Fehler von Gregor Kobel fiel. Immer wieder drückte er die Hände nach unten, um dem Team zu signaliseren, dass es ruhig bleiben solle. Anders als sein Vorgänger nutzte er aber nicht jede Gelegenheit, um mit den Spielern zu kommunizieren. Es war kein besonders aktives Coaching. Tuchels Motto zu Beginn: Die Dinge einfach halten. Klare Rollen auf dem Platz, keine komplizierten taktischen Vorgaben.

Und doch war ihm das, was der FC Bayern auf den Platz brachte zu "fahrig und ein bisschen zu wild", wie er anschließend zugab: "Wir wollten mehr Dominanz." Das Ballbesitzspiel genieße bei ihm oberste Priorität, auch wenn das gegen den BVB mit nur 48,5 Prozent Ballbesitz oft nicht erkennbar war.

Tuchel geht hier aber auch eine Aufgabe an, die sich zumindest kurzfristig als schwierig gestalten dürfte. Immerhin hat seit Pep Guardiola kein Trainer des FC Bayern besonders viel Wert auf einen ruhigen und dominanten Ballvortrag gelegt. Gerade unter Hansi Flick und Julian Nagelsmann wurde ein sehr dynamischer und vertikaler Spielstil entwickelt.

Der FC Bayern definierte sich nicht vorrangig über fußballerische, sondern eher über athletische Qualitäten. Gegenpressing und wuchtige Angriffe wurden an guten Tagen zum Markenzeichen des Teams, das von Spielertypen wie Leon Goretzka angeführt wird. Der gebürtige Bochumer steht für einen Wandel in der Transferpolitik der Münchner. Vor allem im Mittelfeld wurden zunehmend Spieler verpflichtet, die zwischen den Strafräumen sehr aktiv sind, viele Zweikämpfe führen und im Idealfall auch Torgefahr ausstrahlen. Als Thiago 2020 den Klub verließ, ging der letzte Spieler seiner Art: Ein echter Taktgeber und Regisseur.

Mit Tuchel könnte nun eine Rückbesinnung erfolgen. Oder zumindest der Versuch, die athletischen Qualitäten mit mehr Elementen des ruhigen Ballbesitzspiels zu verknüpfen. Denn das wird mit Spielern wie Goretzka nötig sein. Wenn er nicht auf experimentelle Ideen kommt - wie beispielsweise João Cancelo ins Mittelfeld zu versetzen. Gegen Dortmund hat Tuchel gesehen, dass der Grat zwischen schnellem Offensivspiel und Hektik schmal ist. Ruhe, Geduld, ein etwas strikteres Positionsspiel und mehr Ballkontrolle - das ist es, was er nun von den Bayern sehen will. Dafür wird der eine oder andere Spieler disziplinierter agieren müssen. Zum Beispiel Joshua Kimmich, der seinen Offensivdrang gegen den BVB merklich zurückschraubte.

Das zunächst positive Chaos, das Flick mit seiner extrem offensiven Philosophie brachte, führte unter günstigen Umständen zu vielen Titeln. Doch als der Rausch vorbei war, fehlte es den Bayern an Stabilität. Nagelsmann konnte sie nicht zurückbringen. Vielleicht ist Tuchels Spielidee dafür geeigneter.

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FC Bayern München: Rhythmusverlust durch Wechsel

Genau wie Nagelsmann musste auch Tuchel gegen Dortmund zur Kenntnis nehmen, dass er nicht wechseln kann, ohne dass sich der Rhythmus des Bayern-Spiels verändert. Dabei ist der Kader der Münchner so breit wie schon lange nicht mehr. Immerhin brachte der Trainer keine Jugendspieler, sondern Serge Gnabry und Sadio Mané. Später legte er mit Cancelo und Jamal Musiala nach und auch Ryan Gravenberch, der ein paar Minuten bekam, ist alles andere als ein Durchschnittskicker.

Trotzdem war den Bayern abermals anzumerken, dass die Wechsel ihnen keinen Schwung brachten. Einerseits spielte womöglich die deutliche Führung eine Rolle. Andererseits war das in der Vergangenheit auch bei engeren Spielen ein Problem.

Eigentlich müsste eine Bank wie diese das Versprechen einhalten können, in der Schlussphase das Tempo nochmal zu erhöhen. Doch in dieser Saison wirken Wechsel eher wie ein Risiko. Tuchels Aufgabe wird es sein, den Kader in seiner Breite zu nutzen und diese bisher fehlende zusätzliche Energie zu entfachen.

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FC Bayern München: Formdellen wichtiger Spieler

Dafür wird der Champions-League-Sieger von 2021 neben taktischen Themen auch auf individueller Ebene gefordert sein. Zu Leroy Sané scheint er in kurzer Zeit einen Draht gefunden zu haben. Auch wenn beim Angreifer nicht alles funktionierte, so war er gegen den BVB einer der entscheidenden Spieler. Nun wird es darum gehen, das auch bei Mané, Gnabry oder Cancelo zu schaffen.

Tuchel betonte mehrfach, dass es ihm darum gehe, die Spieler in Positionen zu bringen, auf denen sie sich wohlfühlen. Der Faktor Zeit wird ihm die Arbeit erschweren. In den kommenden Tagen gibt es kein Spiel, in dem irgendwelche Experimente oder Aufbauaktionen möglich wären.

Und so muss Tuchel darauf hoffen, dass diese Spieler ihr Selbstvertrauen und ihre Form durch Einsätze von der Bank wiederfinden. Auch hier könnte es zuträglich sein, dass der ehemalige Chelsea-Trainer zunächst auf simple Maßnahmen setzt, um einen strukturellen Rahmen zu gewährleisten. Das kann den einen oder anderen Spieler zurück in eine Art Komfortzone bringen, in der es einfacher ist, die eigenen Stärken einzubringen. Auf dem Weg zu mehr Stabilität wird Tuchel genau das von jenen brauchen, die zuletzt zu große Formschwankungen hatten. "Wir müssen schauen, dass wir in möglichst kurzer Zeit viele heranführen", erklärte er auf der Pressekonferenz vor dem Freiburg-Spiel.

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FC Bayern München: Probleme mit dem Kader?

Dass ihm so viele Spieler zur Verfügung stehen, kann auch ein Fluch sein. Nagelsmann dürfte auch deshalb nicht mehr Trainer des FC Bayern sein, weil es ihm nicht gelang, jedem Spieler das Gefühl zu geben, dass die jeweilige Rolle genau richtig für ihn ist. Mit einem derart breiten Kader umzugehen, ist als Trainer nicht einfach.

Tuchel hat die Erfahrung, um das zu schaffen. Doch auch er wird sich schon sehr bald mit dem einen oder anderen Problem konfrontiert sehen. Benjamin Pavard schien zuletzt der große Gewinner unter Nagelsmann zu sein. Der Franzose spielte wieder als Innenverteidiger. "Er versprach mir, mich als Innenverteidiger in der Dreierkette spielen zu lassen, wo ich immer spielen wollte", sagte Pavard im Interview mit Telefoot. Unter Tuchel musste er nun wieder auf der rechten Defensivseite ran. Eine Rolle, die er eigentlich nicht mehr einnehmen wollte. Auch deshalb kamen immer wieder Wechselgerüchte auf. Droht diese Unruhe jetzt wieder?

Mit João Cancelo gibt es immerhin einen Außenverteidiger im Kader. Und der Portugiese zeigte sich nach dem 4:2 gegen den BVB merklich angefressen. Keine Party mit den Fans, ein schneller Gang in die Kabine und schließlich verließ er auch als erster Spieler das Stadion - Cancelo ist nicht zufrieden mit seiner Situation. "Ich liebe João Cancelo, habe zu oft gegen ihn spielen müssen", sagte Tuchel: "Er hat absolut höchste Qualität, im linken Fuß, im rechten Fuß, im Passspiel. Er ist ein anderer Spielertyp als Benji Pavard. Er kann auch links spielen in der Viererkette." Man werde ihn brauchen und er sei "überzeugt, dass er für uns auf Topniveau spielen kann".

Schon jetzt hat der Trainer ein sensibles Gespür dafür, wen er wann etwas mehr in den Mittelpunkt stellen muss. Solange die Ergebnisse stimmen, wird Tuchel ohnehin alle Argumente auf seiner Seite haben. Spannend wird es aber, wenn er sein erstes Tief in München erlebt. Schon gegen den BVB gab es erste kleine Anzeichen für mögliche Unruhen.

FC Bayern, Thomas Tuchel, Thomas Müller
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FC Bayern München: Thomas Müller spielt immer (noch)

Ein Satz wird in München anscheinend niemals alt: Müller spielt immer. Einst prägte Louis van Gaal dieses Motto, als der Angreifer noch als junges Talent galt. Über die Jahre entwickelte sich Müller zum Anführer der Offensive, spielte selbst unter Pep Guardiola eine wichtige Rolle, obwohl es zunächst Zweifel daran gab.

Doch der Katalane wusste die Qualitäten des Raumdeuters zu schätzen. Zumal Müller vor allem technisch nahezu weltweit unterschätzt wird. Er ist ein hervorragender Passgeber und Spielgestalter. Nahezu alle Trainer scheiterten danach auch an Müller. Entweder fanden sie keine passende Rolle für ihn oder es klappte offenbar zwischenmenschlich nicht.

Sein Debüt unter Tuchel war nun aber vielversprechend. Auch hier ist Tuchel zu dem zurückgekehrt, was einst Guardiola mit Müller machte: Im 4-1-4-1 schuf er eine sehr frei interpretierbare Rolle als halbrechter Achter. Dort kann das FCB-Urgestein auf alle Phasen des Spiels Einfluss nehmen. Und tatsächlich drehte sich gegen den BVB vieles um ihn. Nicht nur wegen seiner beiden Tore, sondern auch und gerade darüber hinaus.

Zu erkennen, dass Müller einer der wichtigsten Schlüssel dieses Kaders ist, ist für einen neuen Bayern-Trainer der erste Schritt zum Erfolg. Was einst unter van Gaal galt, gilt offenbar auch 2023 noch. Die Frage ist, welche Auswirkungen das auf jemanden wie Jamal Musiala haben wird. "Es macht unheimlich viel Freude, mit ihm zu arbeiten", gab Tuchel Einblicke in seine Planungen mit dem Top-Talent: "Er ist gut im Bälle klauen. Er hat viele Möglichkeiten zu spielen, ob auf der Acht, der Zehn oder auf dem Flügel."

Die Mischung aus Zuversicht und kleineren "Stimmungsdämpfern" ist es, die die zweite Woche von Tuchel beim FC Bayern noch viel spannender macht als die erste. Ein Heimsieg gegen den BVB gelang in den letzten Jahren jedem Trainer. Man könnte fast sagen, dass es das perfekte Spiel für den Einstand war. Aber auch jetzt zählt es. Denn in den beiden anstehenden Spielen gegen Freiburg müssen die Münchner die Stabilität zeigen, die sie zuletzt haben vermissen lassen.

BVB vs. FC Bayern München: Das Restprogramm in der Bundesliga

SpieltagBVBFC Bayern
27Union Berlin (H)SC Freiburg (A)
28VfB Stuttgart (A)TSG Hoffenheim (H)
29Eintracht Frankfurt (H)Mainz 05 (A)
30VfL Bochum (A)Hertha BSC (H)
31VfL Wolfsburg (H)Werder Bremen (A)
32Borussia M'Gladbach (H)Schalke 04 (H)
33FC Augsburg (A)RB Leipzig (H)
34Mainz 05 (H)1. FC Köln (A)
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