Real Madrids Nachwuchskoordinator Stefan Kohfahl im Interview: "Toni Kroos wäre als Jugendlicher bei vielen durchs Raster gefallen"

Von Stanislav Schupp
Stefan Kohfahl (l.) ist seit 2014 Nachwuchskoordinator bei Real Madrid.
© Real Madrid
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Haben Sie bei Scoutings beziehungsweise Verpflichtungen von Nachwuchstalenten Mitspracherecht?

Kohfahl: Nein, dort gibt es eine autonome Abteilung. Ich bin trotzdem regelmäßig mit den Scouts in Kontakt und gebe ein paar Empfehlungen durch. Wenn wir gute Spieler im Camp haben, schlage ich sie natürlich vor. Die Entscheidung liegt dann aber bei ihnen.

Gibt es dennoch Berührungspunkte mit den Profis?

Kohfahl: Ich bin regelmäßig in Madrid und Valdebebas. Wir führen zudem einmal im Jahr Dreharbeiten durch. Wir machen Dribbel-Videos für Kids, die sie dann zu Hause nachmachen können. Das haben wir beispielsweise auch mit Achraf Hakimi mal gemacht. Zuletzt haben wir mit Karim Benzema, Kroos, Nacho Fernandez und Gareth Bale gedreht.

Stefan Kohfahl (l.) ist seit 2014 Nachwuchskoordinator bei Real Madrid.
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Stefan Kohfahl (l.) ist seit 2014 Nachwuchskoordinator bei Real Madrid.

Kohfahl: Hakimi? "Habe ihn schon vor drei Jahren angepriesen"

Sie haben es erwähnt: Stars wie Kroos, Bale oder Benzema werben in Videos für Ihre Camps. Wie haben Sie die Stars kennengelernt?

Kohfahl: Nett! Der gute Ton gehört zu Real Madrid. Sie leben, was sie sagen. Diese Werte vom Miteinander und respektvollen Umgang werden von der obersten Etage nach unten vorgelebt.

Hat Sie menschlich jemand besonders begeistert?

Kohfahl: Das gilt eigentlich für alle. Am meisten habe ich mit Toni Kroos zu tun, der wirklich viel für unsere Camps macht. Karim Benzema ist nett und Marcelo ist der Sunny Boy, wie man ihn im TV sieht.

Haben Sie ein besonderes Erlebnis, das Sie mit Real Madrid verbinden?

Kohfahl: Bei Real Madrid geht die Legende rum, dass ich den entscheidenden Elfmeter von Cristiano Ronaldo gegen Juventus im Viertelfinal-Rückspiel der Champions-League-Saison 2017/18 herausgeholt habe. (lacht)

Erzählen Sie.

Kohfahl: Ich saß im VIP-Bereich und es stand 0:3. Dann habe ich als einziger angefangen zu singen. Plötzlich ist das ganze Stadion aufgestanden. Meine Frau hatte Tränen in den Augen. Die ganze Stimmung hat sich auf die Mannschaft übertragen. Das habe ich dann nochmal gemacht und in dem Moment kam das Foul und das ganze Stadion, das vorher fast eingeschlafen ist, hat den Elfmeter gefordert. So wurde anschließend gesagt, ich hätte den Elfmeter mit herausgeholt. Ich sage: Legende vor Wahrheit.

Statistisch gesehen macht kein Verein aus den Top-5-Ligen Europas mehr Spieler zu Profis als Real. Woran liegt das?

Kohfahl: Ausschlaggebend ist die starke Jugendarbeit. Viele, wie Hakimi oder Daniel Carvajal, gehen von der F-Jugend bis in die A-Jugend hoch.

Was macht die aktuelle Jugendarbeit aus?

Kohfahl: Es gibt einen Plan, wie ein Jugendlicher die Übergänge von einer Jugend in die nächste schafft. Es wird nicht zu viel trainiert. Wenn man zu viel trainieren würde, würden die Kinder den Fußball nicht mehr lieben. Diese Methodik wird von außen vorgegeben. Es ist zum Beispiel auch nicht erlaubt, dass der Innenverteidiger für hohe Bälle nach vorne geht, auch nicht, wenn eine Mannschaft zurückliegt. Es ist alles bis zum Schluss systemgebunden. Deshalb trainieren wir in den Camps auch viel Ballbesitz.

Welcher Nachwuchsspieler aus den eigenen Reihen der Madrilenen hat das Zeug zum Sprung an die Weltspitze?

Kohfahl: Für mich Hakimi, den ich schon vor drei Jahren allen angepriesen habe. Auch Luca Zidane [aktuell verliehen an Racing Santander, d. Red.] finde ich überragend. Ich habe noch nie einen besseren Fußballer gesehen. Es ist nur schade, dass er nicht ein paar Zentimeter größer ist. Aus dem aktuellen Kader ist Federico Valverde mein absoluter Liebling. Er ist aus der ersten Elf nicht mehr wegzudenken. Von Martin Ödegaard wird auch noch viel gesprochen werden. Er hatte anfänglich etwas Schwierigkeiten, spielte aber diese Spielzeit bisher überragen bei San Sebastian.

Kohfahl: "Real hat die stärkste U23-Mannschaft der Welt"

Welches Talent hat in Ihren Augen in den letzten Jahren überraschend nicht den Sprung geschafft?

Kohfahl: Marcos Llorente von Atletico Madrid. Ich fand ihn relativ stark, er wurde meiner Meinung nach aber unterschätzt und war zum falschen Zeitpunkt da. Meiner Ansicht nach kommt ein Gareth Bale aktuell ebenfalls zu schlecht in der Öffentlichkeit weg. Seine Quote bei Real ist unglaublich. Das Problem ist seine Verletzungsanfälligkeit.

Und seine Provokationen neben dem Platz.

Kohfall: Er ist eigentlich ein schüchterner und bescheidender Mensch, sehr introvertiert. Er steht natürlich auch unter Druck. Es würde mich freuen, wenn mehr Respekt von den Zuschauern bekommt und nochmal auf die Beine kommt.

Kohfahl: Real Madrid denkt immer groß, das gehört zur Vereinsphilosophie. Ich merke nicht, dass es dem Verein in der aktuellen Lage finanziell schlecht geht. Es geht ihnen gut, das sieht man auch am Trainingsgelände, da ist jede Pflanze und jede versteckte Ecke im Top-Zustand.

Wird Ihre Arbeit beziehungsweise die der Talentförderung gerade in diesen Zeiten noch wichtiger?

Kohfahl: Die war immer wichtig. Real hat immer eine hohe Anzahl an eigenen Nachwuchsspielern im Kader. Das ist schon immer ein Hauptaugenmerk gewesen. Im Durchschnitt sind es die letzten Jahre jeweils acht Spieler gewesen. Diese Spielzeit sind mit Nacho, Carvajal und Casemiro auch wieder einige Hochkaräter dabei. Dazu kamen Spieler wie Sergio Ramos, Benzema und Raphael Varane mit 20 zu Real Madrid und sind hier zu Weltklassespielern gereift. Diesen Weg geht man gerade auch mit Vinicius Junior, Rodrygo, Valverde und Reinier.

Wie realistisch ist es, das Niveau ausschließlich durch Neuverpflichtungen aus dem eigenen Nachwuchs aufrechtzuerhalten?

Kohfahl: Ich glaube, dass Schlüsselspieler wie Kroos, Ramos oder Benzema immer noch stark und wichtig sind. Ich glaube aber auch, dass einige Nachwuchsspieler wie Vinicius Junior in der dritten Saison noch einen Schritt nach vorne machen können und zehn oder elf Tore schießen. Rodrygo hat schon gezeigt, was er kann. Auch Luka Jovic hat noch Luft nach oben. Wenn man nur auf die U23-Spieler schaut, hat Real für mich die stärkste Mannschaft der Welt.

Könnten Sie sich vorstellen, ein ähnliches Konzept mit deutschen Vereinen im Ausland zu erstellen?

Kohfahl: Ich schreibe gerade ein Konzept für einen englischen Zweitligisten, das ist aber vielmehr ein Jugendförderkonzept. Das wird, glaube ich, einzigartig. In Deutschland würde ich grundsätzlich keinen Verein ausschließen (lacht). Ich setze mich gerne mit schlauen Leuten zusammen und rede über Fußball.