Zwischen Antifußball und Königsklasse

Von Daniel Reimann
Falcao ist mit 19 Pflichtspieltreffern der Toptorjäger bei Atletico Madrid
© Getty

Im zweiten Anlauf klappte der Umbruch: Unter Neu-Coach Diego Simeone darf Atletico Madrid wieder von der ganz großen Bühne träumen. Die Fans verehren ihn, die "Gladiatoren" lassen Agüero und Co. vergessen. Dabei weckte seine Spielphilosophie zunächst schlimme Befürchtungen. Im Rückspiel gegen Lazio Rom (20.50 Uhr im LIVE-TICKER) soll der Aufwärtstrend bestätigt werden - päpstlicher Segen inklusive.

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Am Ende blieb nur noch ein riesiger Batzen Geld. Manchester, Mailand oder Lissabon - aus den unterschiedlichsten Städten Europas wurde eine Millionensumme nach der anderen an Atletico Madrid überwiesen. Letztlich waren die reinen Transfereinnahmen in der vergangenen Sommerpause auf geschätzte 90 Millionen Euro angewachsen.

Doch für lachende Gesichter sorgte dieser Geldsegen nur bei den wenigsten Atletico-Anhängern. Diego Forlan und Sergio Agüero, das Traum-Duo mit eingebauter Torgarantie? Weg. David de Gea, das vielversprechendste spanische Torwarttalent? Zu ManUtd gewechselt.

Als wäre es noch nicht genug, dass der Verein in zwei Mannschaftsteilen bis aufs Mark geschwächt wurde, kehrten mit Tomas Ujfalusi, Jose Antonio Reyes und Elias weitere Leistungsträger Spaniens Hauptstadt den Rücken.

Nicht wenige Anhänger sahen ob der namhaften Abgänge soglich die sportliche Zukunft des Vereins gefährdet, falls nicht für adäquaten Ersatz gesorgt würde. Klubverantwortliche und Spieler hingegen beschwichtigten: "Wir werden beweisen, dass die Zukunft von Atletico auch ohne Forlan und Agüero in besten Händen ist", versprach Verteidiger Alvaro Dominguez. Er sollte Recht behalten.

Erster Umbruchsversuch gescheitert - plötzlich winkt die Königsklasse

Denn gut ein halbes Jahr später sind die sportlichen Aussichten so rosig wie schon lange nicht mehr, die Sorgen der Atletico-Fans längst Geschichte. Den Herren Agüero, Forlan oder gar de Gea weint kaum jemand eine Träne nach, Ujfalusi können womöglich die Wenigsten überhaupt noch korrekt buchstabieren.

Dabei ging der erste Versuch eines möglichst reibungslosen Umbruchs in die Hose. Gregorio Manzano wurde als Trainer nach nur einem halben Jahr im Dezember wieder vor die Tür gesetzt, nachdem sein Team in der Copa del Rey mit zwei Niederlagen gegen Zweitligist Albacete blamabel ausgeschieden war.

Zwei Tage später wurde die Verpflichtung von Diego Simeone bekanntgegeben - und der Aufschwung von Atletico nahm seinen beispiellosen Lauf.

Nach acht Pflichtspielen ohne Niederlage stehen die Rojiblancos vor dem Einzug ins Achtelfinale der Europa League. In der heimischen Liga ist der Rückstand auf Rang vier auf ein mickriges Pünktchen geschmolzen, Atletico klopft an die Tür der Königsklasse.

"Gladiatoren" in den Fußstapfen von Agüero & Forlan

Doch kann dieser Verdienst allein auf den neuen Trainer zurückgeführt werden? Fakt ist: Simeone hat die Mannschaft teils in grundlegenden, teils in spezifischen Aspekten umgekrempelt.

Ein Beispiel bietet Falcao, der zwar schon vor Simeones Ankunft den Grund für seine 40 Millionen Euro schwere Ablöse mehrmals angedeutet hatte, aber erst seit dem Trainerwechsel seine ganze Klasse unter Beweis stellen konnte. Sieben Tore in acht Spielen unter Simeone sprechen Bände. Der Argentinier weiß, wie man Falcao zur Höchstform auflaufen lässt, schließlich verhalf er dem 26-Jährigen anno 2007 zum Durchbruch bei River Plate.

Gemeinsam mit Supertalent Adrian bildet Falcao das neue Traum-Duo im Atletico-Sturm. Zusammen erzielten die beiden in der laufenden Saison bereits 32 Tore und lassen Agüero und Forlan guten Gewissens vergessen. Auch die spanische Presse ist begeistert und schwärmt von den ruhmreichen "Gladiatoren" im Atletico-Sturm.

Erstaunlich ist, dass keiner der beiden durch den Wechsel des Trainers und damit auch der Spielphilosophie in seiner Torgefahr eingeschränkt wurde. Unter Simeone wurde das Angriffsduo zu mehr Defensivarbeit verdonnert: Sie sollten zukünftig kontinuierlich Druck auf die gegnerischen Verteidiger ausüben. Das beispielhafte Resultat: Adrian erobert nun durchschnittlich 2 Bälle pro Spiel (zuvor waren es 0,18), Falcao immerhin 1,8 (zuvor 1,1) - ohne dabei an Torgefahr einzubüßen.

Die Defensive: Vom Problemzentrum zum Prunkstück

Noch deutlicher und möglicherweise wichtiger ist der Wandel in der Defensive. Simeone machte aus dem einstigen Problemzentrum der Mannschaft das neue Atletico-Prunkstück. Ohne gravierende personelle Veränderungen vorzunehmen, schaffte der neue Coach eine kompakte und verlässliche Abwehr, deren Abstimmung und Zusammenspiel mit den anderen Mannschaftsteilen mittlerweile reibungslos funktioniert.

Und selbst wenn die Viererkette einmal überwunden ist, wartet dahinter noch einer der formstärksten Keeper der Primera Division: Thibaut Courtois (von SPOX vor der Saison als Player to watch vorgestellt) hielt seit Simeones Ankunft sagenhafte 648 Minuten den Kasten dicht, erst Miro Klose stoppte im Hinspiel der Europa-League-Zwischenrunde die Serie des Belgiers.

Der Wandel in der Defensive wird am deutlichsten klar, sobald man einen vergleichenden Blick auf die Gegentor-Statistik unter den verschiedenen Trainern wirft. Zur Zeit von Manzano klingelte es in der Liga durchschnittlich 1,7 Mal pro Spiel im Atletico-Kasten, seit Simeone liegt dieser Wert bei 0,14.

Und wer war doch gleich dieser De Gea?

Angst vor Antifußball

Doch aller Euphorie zum Trotz ist auch im Fall Simeone nicht alles Gold, was auf den ersten Blick zu glänzen scheint. Der Trainerwechsel hat auch seinen Preis.

Simeones Spielidee orientiert sich an wenig Ballbesitz, er ist ein Mann des Ergebnisfußballs, das stellte er früh klar: "Ich bevorzuge es, schlecht zu spielen und zu gewinnen, als gut zu spielen und nur einen Punkt zu holen", so der Standpunkt des Argentiniers. An ästhetischen Hurra-Fußball um jeden Preis sollten sich die Fans also nicht gewöhnen.

Die Befürchtung, Atleticos Spiel werde durch den neuen Coach dem rein ergebnisorientierten Antifußball unterworfen, hat sich allerdings in dieser Form noch nicht bestätigt. Bei den Kantersiegen gegen Villarreal und Real Sociedad wusste Simeones Elf zu begeistern, bei den vier Unentschieden unter dem neuen Coach war Madrid - das 0:0 in Malaga ausgenommen - zumindest die bessere Mannschaft und näher dran am Sieg.

"Simeone ist ein Held, die Fans verehren ihn"

Und so kann sich Simeone der Rückendeckung von Spielern, Fans und Medien vorerst sicher sein. Die Reaktionen auf den mit dem Trainerwechsel einhergehenden sportlichen Aufschwung sind euphorisch.

"Zum Glück kam Simeone und hat uns alle wieder aufgerichtet. Er ist ein großartiger Trainer", schwärmt Offensivmann Eduardo Salvio und stellt klar: "Er ist hier ein Held, die Fans verehren ihn."

Auch für Diego ist der Fall eindeutig, der Trainerwechsel habe dem Team wieder Leben eingehaucht: "Simeone macht den Unterschied", so der Ex-Wolfsburger.

Päpstlicher Segen als Glücksbringer

Beim Versuch, den Aufwärtstrend unter Simeone im Rückspiel gegen Lazio Rom zu bestätigen, kann er jedoch nicht mitwirken, Diego fällt aufgrund eines Muskelfaserrisses für rund einen Monat aus. Gegen die Italiener soll ihn Koke ersetzen.

Neben Diego müssen auch Arda Turan und Antonio Lopez verletzungsbedingt passen, zudem fehlt Mario Suarez gelbgesperrt. Nach einem 3:1-Auswärtssieg im Hinspiel sollte das jedoch kaum ins Gewicht fallen, möchte man meinen. Doch in Madrid verbittet man sich leichtsinnige Vorfreude aufs Achtelfinale: "Da ist noch gar nichts entschieden. Wir müssen das Ergebnis zu Hause verteidigen. Sie werden im Calderon auf Sieg spielen", warnt Verteidiger Diego Godin.

Um nichts dem Zufall zu überlassen, stattete das Team bereits letzte Woche Papst Benedikt XVI einen Besuch ab. Präsident Enrique Cerezo sieht Atletico nun für alles gewappnet: "Jetzt ist das Team gesegnet, was auch immer kommen mag."

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