Die spanische Nationalmannschaft hinkt vor dem Duell mit Weltmeister Deutschland ihren besten Zeiten hinterher. Die Medien sind ungeduldig, Trainer Vicente del Bosque bleibt aber so ruhig wie immer. Für den Glanz sorgen mit Isco und Koke neue Gesichter.
Es läuft die 57. Minute der Partie zwischen Australien und Spanien. Ein Freundschaftsspiel ist es, mehr nicht. Der Weltmeister fährt nach Pleiten gegen Chile und die Niederlande so oder so Richtung Heimat. Beim Stand von 1:0 geht die Tafel des vierten Offiziellen nach oben. Kurz hebt sich der Kopf von El Guaje, der die Führung per Hacke erzielt hat, dann senkt er sich wieder.
Es ist das Ende der Nationalmannschaftskarriere von David Villa. Lange ist sein Weg über das Spielfeld bis zur Bank. Die Tränen beginnen schon zu fließen, als der Australier Matt McKay seinen Gegenspieler umarmt. Vorbei geht er an Xabi Alonso, vorbei an Vicente del Bosque. Die Bank steht und nimmt den Spieler, der Spanien zur Europa- und Weltmeisterschaft geführt hat, in ihren Reihen auf.
Kein Zeichen in Brasilien
Bilder zeigen später, wie Villa auf der Bank seinen Emotionen freien Lauf lässt. Umringt von Diego Costa, Pedro und Co-Trainer Javier Minano vergräbt er sein Gesicht in den Händen. Es ist das Ende einer großen Karriere im roten Dress seines Landes. Vicente del Bosque hätte ein Zeichen setzen können mit dieser Auswechslung. Einen jungen Spieler WM-Luft schnuppern lassen und eine neue Generation einläuten.
Er tat es nicht. Die Nummer 13 erschien auf der Wechseltafel. Juan Mata, fester Bestandteil der Seleccion, durfte den brasilianischen Rasen in Curitiba betreten. Del Bosque ist ohnehin kein Mann der großen Zeichen oder Gesten. Die Möglichkeit, schon in Brasilien einen Umbruch voran zu treiben, nahm er sich selbst bei der Kaderzusammenstellung.
Umbruch ist ein Wort, das er so oder so nicht gerne hört. Es geschieht alles möglichst fließend, ruhig, gelassen. Brüche soll es keine geben in seiner Amtszeit, kein Theater und kein Aufsehen. Wäre er in nicht in Salamanca geboren, würde man ihm wohl die katalanische Sturheit unterschieben. Was die Katalanen als ihre größte Stärke betrachten, wird im Rest Spaniens gerne belächelt.
Kein Zeichen nach Brasilien
Im Falle del Bosques ist es das Beste, was der Nationalmannschaft passieren kann. Zu diskutieren gab es viel nach dem peinlichen Aus bei der Weltmeisterschaft und dem Start in die neue Klubsaison. Der Coach diskutierte nicht mit. Er ließ und lässt die Medien machen. Während Sender wie "TV3" Körpersprache, Gestik und Mimik der Spieler und Trainer analysierten, nutzen die Printmedien ihre Chancen, um die Katerstimmung noch weiter aufrecht- und ihre Auflage hochzuhalten.
"Wir sollten nicht nach nutzlosen Entschuldigungen suchen", machte del Bosque im Anschluss an das Ausscheiden klar: "Die Niederlande und Chile waren besser als wir, wir sollten das wie gute Sportsmänner akzeptieren." Akzeptanz. Ein Wort, das das Land aufbrachte. Soll der entthronte Weltmeister sein Aus akzeptieren?
Wie so oft überhörte man das, was er eigentlich sagen wollte. "Wir müssen in die Zukunft blicken und uns für die nächsten Turniere vorbereiten. Man darf im Fußball niemals stillstehen. Wir müssen jetzt nach neuen Spielern suchen. Spanien muss nicht vieles ändern, wir müssen nur weiter auf dem aufbauen, was bereits erreicht wurde."
Verband hält zum Trainer
Große und weitreichende Worte für den sonst so undurchsichtigen 63-Jährigen, der nur ungern Details an die Öffentlichkeit lässt. Eben diese hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon an seinen ersten Worten festgebissen: "Wir sollten das akzeptieren." Die Nachfolger-Suche begann. Pep Guardiola, Juan Antonio Pizzi oder Luis Enrique - del Bosque befeuerte selbst: "Im Normalfall zieht ein solches Ausscheiden Konsequenzen nach sich."
Das hat es, allerdings nicht wie erwartet. Der Verband blieb stumm. Kein Wort verlor der RFEF über ihn, als ob sich der ruhige und so entspannte Geist des Trainers bis in die Führungsebenen verbreitet hätte. Die Konsequenzen begannen auf der rein sportlichen Ebene - in Sachen Spielermaterial und Taktik.
Bloß keine Revolution
73 Tage nach dem 3:0-Sieg in Curitiba über Australien standen gegen Frankreich neun Startelfänderungen zu Buche. Acht WM-Spieler waren nicht eingeladen worden, fünf Spieler feierten gar ihr Debüt mit der Furia Roja. Von einer "Revolution" sprach die "Marca", von einer "keiner Revolution" sprach del Bosque. Tatsächlich war es vielmehr ein Test, ein Tag der offenen Tür für Spieler aus der zweiten oder dritten Reihe.
Schon in der EM-Qualifikation ging es zurück zur alten Besetzung mit kleinen Stellschrauben und Änderungen im Detail. Das 5:1 über Mazedonien lieferte dabei genauso wenige Erkenntnisse, wie die Niederlage zuvor in Frankreich. Auch in der Slowakei setzte der Trainer auf altbekannte Namen in der Startaufstellung - und verlor mit 1:2. "Wo bleibt die Revolution?", fragte "La Informacion" und titelte: "Del Bosque bleibt im Brasilien-Modus."
Dass sich das Spiel der Spanier weitreichend verändert hat und gegen die Slowakei schlicht an der eigenen Unfähigkeit im Abschluss scheiterte, blieb wie so oft verborgen. Den Brasilien-Modus hatte del Bosque zu diesem Zeitpunkt schon abgehakt. Nicht nur, dass sich der Altersdurchschnitt um fast zwei Jahre gesenkt hat, auch in taktischer Hinsicht ist eine Weiterentwicklung seit jenem 3:0 über Australien erkennbar.
Ziel: Den Grundbaustein erweitern
Gegen Weißrussland fand das Spiel erstmals seine volle Entfaltung. Die Seleccion ist weggekommen von alten Problemen und orientiert sich neu. Wie angekündigt baut der Trainer auf dem auf, was er und Luis Aragones begonnen haben und versieht es mit Elementen, die ihn in Brasilien beeindruckt haben.
"Die taktische Variabilität" habe ihn überrascht, gab er nach dem Turnier zu und versucht dies nun auch seinem Team einzuimpfen. Dabei kommt der Rücktritt von Xavi und Xabi Alonso, bei allem Respekt vor deren Verdiensten, wie gerufen. Das vielleicht größte Problem der spanischen Nationalmannschaft kann ad Acta gelegt werden: Die Zentrumsbesetzung mit den beiden Altstars, sowie Andres Iniesta, Sergio Busquets und teilweise auch David Silva.
Seite 1: Langsame Neu-Orientierung nach der WM
Seite 2: Mehr Flexibilität und weniger Zentrumsfokus
In der Qualifikation für die EURO 2016 in Frankreich wurde klar, was del Bosque nun anstrebt. Ein merklich beweglicheres Spiel, mit mehr Fluidität und Beweglichkeit im mittleren Drittel. Wo zuvor drei Anker in der Zentrale spielten, ist es nunmehr mit Busquets nur noch einer. Koke orientiert sich am Katalanen und gibt den Takt vor.
Komplettiert wird die recht klassische Einteilung mit hohen Außenverteidigern und sehr beweglichen Halbspielern. Möchte man eine Grundordnung festlegen, müsste man wohl auf ein 4-4-2 mit leichter Tendenz zu einem 4-2-3-1 setzen. Besonders wichtig ist dabei die stete Besetzung der Flügel, um den Raum für das Ballbesitzspiel bestmöglich auszunutzen, als auch die Möglichkeiten des Anspiels in die Tiefe.
Flanken von der Grundlinie
Speziell letzteres ging den Spaniern oft ab. Weil der Gegner sich am eigenen Strafraum positioniert, bleibt der Raum zwischen Abwehrkette und Torwart eng. Umso wichtiger ist das Flügelspiel, das nach der WM neue Dimensionen erlebt.
Das Spiel gegen Weißrussland machte deutlich, was möglich ist. Während auf der linken Seite mit dem kombinationsstarken Jordi Alba das "alte" Spanien sichtbar wurde, dass über Überzahlsituationen Chancen erarbeiten wollte, war es auf der anderen Seite schon etwas weniger klassisch für spanische Verhältnisse.
Juanfran geht bis zur Grundlinie, um dann die Hereingabe zu suchen. Bei Ballverlust wird schnell nachgesetzt, weil der Gegner die Ordnung bereits verloren hat. Am Ende der Partie war der Rechtsverteidiger der Mann mit den zweitwenigsten Pässen pro Minute, war aber an allen drei Toren entscheidend beteiligt.
Isco glänzt gegen Weißrussland
Dabei ist nicht nur das Spiel im letzten Drittel verändert worden. Auch im Spielaufbau hat sich bereits einiges getan. Die spielstarken Innenverteidiger Spaniens überspielen öfter die erste Linie vor ihnen - der Ball landet direkt bei Koke, nicht wie zuvor bei Sergio Busquets. Dies bedeutet Zeit- sowie Raumgewinn und lässt dem Gegner weniger Möglichkeiten, um sich zu ordnen.
Gegen die Slowakei war Koke an jedem fünften Pass Spaniens direkt beteiligt. Der Mann von Atletico Madrid ist das neue Gehirn einer Mannschaft ohne Xavi und Alonso und bringt durch seine ausweichenden Bewegungen in die Räume auf der linken und rechten Halbseite ein neues Element mit. Das Spiel wird nicht mehr aus dem Zentrum heraus aufgebaut, sondern von den eröffnenden Innenverteidigern direkt in den Halbraum verlagert.
Hierfür hat del Bosque einen neuen Kader zusammengestellt, der wie zugeschnitten ist auf das, was inzwischen vielleicht doch ein wenig revolutionär sein dürfte. Mit Bruno Soriano, Koke, Isco, Raul Garcia, Santi Cazorla, Nolito und Jose Callejon hat er massig Spieler für das Spiel gegen Deutschland berufen, die sich pudelwohl im Halbraum fühlen.
Besonders Isco wusste zuletzt mit seiner von der linken Seite aus nach innen ziehenden Rolle zu begeistern. Der Spanier wurde in einer Umfrage der "AS" mit mehr als 80 Prozent zur positivsten Überraschung des Spiels gewählt - nicht nur dank seines Traumtores zum 1:0.
Volle Rückendeckung für alle
Ergänzt wird der Haufen an Debütanten von erfahrenen und gestandenen Spielern. Denn bei aller Veränderung auf dem Platz, hat sich doch neben dem Rasen wenig getan. Del Bosque steht zu seinen Spielern und gibt jedem einzelnen die volle Rückendeckung. Der kriselnde Gerard Pique wird vom stoischen Coach Spiel für Spiel berufen und ist eine feste Konstante in der Nationalmannschaft - trotz Stammplatzverlust im Verein.
Ähnlich steht es um Pedro oder Busquets. Beide mussten sich zuletzt harte Kritik anhören und befinden sich seit fast einem Jahr in einem Formtief. Der Trainer vertraut ihnen und wird belohnt. Pedro ist im aktuellen Aufgebot der Mann mit den meisten Länderspieltoren, Busquets traf beim Sieg über Weißrussland.
Selbst Absagen wie die von Diego Costa und Cesc Fabregas, die aufgrund der Kurzfristigkeit und verdachtserregenden Begründungen schnell als medialer Brennpunkt ausgemacht wurden behandelt er auf seine gewohnte Art und Weise. Eine ruhige Antwort in das Mikrofon, verbunden mit einem langen Blick durch den Raum und der Bitte um die nächste Frage. "Welche Bombe soll hier explodieren? Wenn sie es wissen, sagen sie es mir bitte, denn ich weiß es nicht."
Ein Denkanstoß, keine Drohung
Del Bosque ist der Ruhepol in einer schnelllebigen und impulsiven Umgebung und damit exakt das, was die spanische Nationalmannschaft zu diesem Zeitpunkt braucht. Er ist auch nach dem Aus in Brasilien zu keinem Mann der weitreichenden Zeichen geworden und steht vor dem Team wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Seine Sätze sind ebenso durchdacht wie kalkuliert und bieten immer möglichst wenig Angriffspotenzial.
Ein kleiner, aber deutlicher Hinweis reicht ihm aus, um seine Autorität zu unterstreichen: "Cesc und Diego müssen daran denken, dass es passieren kann, dass andere ihren Platz eingenommen haben, wenn sie wieder kommen." Ein Denkanstoß, keine Drohung. Er droht nicht und er mahnt nicht, er sucht keinen Konflikt, sondern meint es einfach nur so, wie er es sagt. Die Mannschaft ist im langsamen Umbau. Jeder Schritt, der verpasst wird, kann schwere Folgen haben.
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