Deutschlands beste Schiedsrichterin Riem Hussein im Interview: "Der Weg in die Männer-Bundesliga wäre für mich unrealistisch"

Von Marcel Hache
Riem Hussein war viermal deutsche Schiedsrichterin des Jahres.
© getty

Im November 2021 schrieben Riem Hussein und ihre zwei Assistentinnen Geschichte: Sie leiteten als erstes weibliches Schiedsrichterteam ein Profispiel der Männer in Deutschland. Im Interview mit SPOX und GOAL erklärt die 41-Jährige, die 2013, 2016, 2020 und 2021 zur Schiedsrichterin des Jahres gewählt wurde, wieso sie wohl kein Spiel mehr in der Männer-Bundesliga leiten wird und spricht über ihren Alltag als Apothekerin.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Frau Hussein, Sie sind eine der bekanntesten deutschen Schiedsrichterinnen und waren nach Bibiana Steinhaus 2015 die zweite Frau, die auch im Profibereich der Männer eingesetzt wurde. Was bedeuten Ihnen diese Einsätze?

Riem Hussein: Sie bedeuten mir sehr viel. Für alle Schiedsrichterinnen war dieser Schritt ein Signal zu zeigen, dass wir genauso in den hohen Männer-Spielklassen mithalten können. Ich hoffe natürlich, dass ich in dieser Rolle ein Vorbild bin - eine Inspiration für junge Sportlerinnen, die ebenfalls diesen Weg gehen möchten. Es ist eine große Ehre, aber auch mit einer Verantwortung verbunden es als Frau in diesem Sport so weit geschafft zu haben. Diese Erfahrung wünsche ich auch anderen.

Pfeifen Frauen anders als Männer?

Hussein: Das müssten die Spieler beantworten. Es gibt unterschiedliche Charaktere - sowohl bei den männlichen als auch bei den weiblichen Unparteiischen. Jede/r hat seine Stärken und Schwächen auf und neben dem Platz. Es gibt viele Kategorien, die die Qualität eines Schiedsrichters bzw. einer Schiedsrichterin ausmachen: sei es beispielsweise die Fitness, die Persönlichkeit oder die Regelanwendung. Insgesamt würde ich da keinen geschlechterspezifischen Unterschied machen.

Wo ordnen Sie sich da ein?

Hussein: Ich sehe mich als sehr kommunikative Schiedsrichterin und würde schon sagen, dass ich einen guten Fußballsachverstand habe. Als ehemalige Spielerin habe ich in diesem Bereich einige Vorteile, da ich mich in einigen Fällen auf meine Intuition oder auch Erfahrung verlassen kann, bestimmte Spielvorgänge auf dem Feld zu antizipieren und zu bewerten.

Wie unterscheiden sich die Spiele der Männer von denen der Frauen?

Hussein: Aufgrund der physischen Voraussetzungen sind das Tempo und die Intensität bei den Männern höher. Daraus ergibt sich auch, dass eine Schiedsrichterin oder ein Schiedsrichter mehr Entscheidungen treffen muss. Oft sind Spiele der Männer auch verbal lauter- sowohl auf dem Platz als auch im Umfeld und im Stadion.

Riem Hussein während eines Länderspiels.
© getty
Riem Hussein während eines Länderspiels.

Riem Hussein: Sexistische Sprüche gab es noch nie

Ist es schon vorgekommen, dass auf dem Platz Ihnen gegenüber ein sexistischer Spruch kam?

Hussein: Nein, überhaupt nicht. Wenn mal ein Spruch kam, dann ging es immer um die Entscheidung, die ich getroffen habe. Ich bin sicherlich nicht fehlerfrei, auch wenn das mein Anspruch ist, jedoch sollte eine Bewertung einer Entscheidung immer möglichst sachlich erfolgen.

Im Mai 2021 pfiffen Sie das Frauen-Champions-League-Finale zwischen Chelsea und Barcelona. War es schwierig, ein Spiel mit so vielen Stars auf dem Feld zu leiten?

Hussein: Das war für mich kein Problem. Ich versuche in jedem Spiel die Akteure gleich zu behandeln und mache da keinen Unterschied, ob der/die Spieler/in in der öffentlichen Wahrnehmung ein Star ist. Meine Entscheidungen beeinflusst das aber in keiner Weise. Dennoch muss ich als Schiedsrichterin auch ein gewisses Feingefühl haben und wissen, welchen Typ Mensch ich vor mir habe.

Bei der Frauen-WM 2019 haben Sie das Vorrundenspiel zwischen den USA und Chile vor fast 50.000 Zuschauern im Pariser Prinzenpark geleitet. Lässt man sich da als Schiedsrichterin schon mal von der Atmosphäre anstecken?

Hussein: Die Stimmung damals war mitreißend und hervorragend und ich war schon vor dem Spiel ausgesprochen nervös - schließlich war es meine erste WM und die bisher höchste Zuschauerzahl, die ich in einem Spiel unter meiner Leitung erleben durfte. Aber genau diese Kulisse und die Wichtigkeit des Spiels haben mich sehr motiviert. Es war ein ganz besonderes Spiel, das seine Spuren bei uns allen im Team hinterlassen hat - in positiver Hinsicht.

Wie reagieren Sie, wenn die Stimmung im Stadion mal zu kippen droht? Werden Referees diesbezüglich besonders geschult?

Hussein: Das wichtigste ist immer, dass man eine Wahrnehmung zu einer Szene und damit zu der Entscheidung hat und entsprechend hinter der Entscheidung steht. Man sollte sich nicht emotionalisieren oder gar provozieren lassen. Dann wäre man als Schiedsrichter:in nicht gut beraten. Ich war glücklicherweise noch nie in einer Situation, in der die Stimmung im Stadion ernsthaft zu kippen drohte oder nicht mehr kontrollierbar war. Es gibt für viele mögliche Szenarien, zum Beispiel dem Umgang mit rassistischen Handlungen, dem Umgang mit Pyrotechnik, dem Umgang mit schweren Verletzungen Handlungsrichtlinien, die wir in diesen Momenten umsetzen.

Ivana Martincic leitete das Länderspiel des DFB-Teams gegen Liechtenstein.
© imago
Ivana Martincic leitete das Länderspiel des DFB-Teams gegen Liechtenstein.

Hussein: "Manche Leute rufen bei meinen Eltern an"

Im November pfiff mit der Kroatin Ivana Martincic erstmals eine Frau ein Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft der Männer. Steht ein Spiel auf dieser Ebene noch auf Ihrer Agenda?

Hussein: Internationale Männerspiele darf man laut der aktuellen UEFA-Vorgabe nur dann pfeifen, wenn man auch im eigenen Land in der höchsten Männer-Liga pfeift und auf der FIFA-Liste ist. Von daher würde sich ein solches Ziel für mich schon schwierig gestalten - weil ich bei den Männern bislang in der 3. Liga pfeife. Ich schätze meine Chancen, in diesen Bereich vorzudringen, als unrealistisch ein.

Hauptberuflich arbeiten Sie als Apothekerin in Bad Harzburg. Wie oft werden Sie von Ihren Kunden auf Ihre zweite Leidenschaft angesprochen?

Hussein: Das passiert quasi täglich. Für viele Kund:innen bin ich "die Schiedsrichterin". Wenn mich Bekannte oder auch Kunden im Fernsehen gesehen haben, sprechen sie mich sofort darauf oder rufen sogar bei meinen Eltern zu Hause an und freuen sich mit ihnen. Bad Harzburg ist eine kleine Stadt, ich bin hier geboren und aufgewachsen. Als Apothekerin und Bürgerin bin ich für die Menschen hier "greifbar", da ist meine Arbeit als Schiedsrichterin schon regelmäßig ein Thema.

Wie hilft Ihnen Ihr Job in der Apotheke bei Ihrer Arbeit auf dem Feld? Gibt es ein Mittel für Ruhe bewahren oder zählt das schon unter Doping?

Hussein: Es gibt viele Arzneimittel, die eine beruhigende Wirkung haben. Auf diese sollte man als Sportler:in vor einem Einsatz jedoch nicht zurückgreifen. Ein Mittel für Ruhe bewahren nutze ich schon, das ist auch sicher kein Doping: Es ist meine mentale Stärke, in Stresssituationen fokussiert zu sein und auf meine Art und Weise handeln zu können, ohne die Kontrolle oder die Übersicht zu verlieren. Die Arbeit in der Apotheke hilft mir auf dem Platz, die Arbeit auf dem Platz hilft mir in der Apotheke. Ich bin sowohl im Privatleben als auch im Berufsleben sehr entscheidungsfreudig. Ich blicke nicht lang zurück, sondern schaue nach vorn und habe meine persönlichen Strategien, die Dinge anzugehen. Diesen Mut und dieses Selbstvertrauen brauche ich sowohl als Unternehmerin als auch im Schiedsrichterwesen. In beiden Fällen treffe ich auf verschiedene Charaktere, die ich mehr oder weniger beraten oder eben führen darf. Diese Führungsaufgaben und diese Personalverantwortung habe ich in meinem Schiedsrichterteam und auch im Job.

Inhalt:
Artikel und Videos zum Thema