Notnagel Tymoschtschuk schöpft neuen Mut

Von Thomas Gaber
Anatolij Tymoschtschuk (r.) spielte vor den Bayern für Schachtjor Donezk und Zenit St. Petersburg
© Imago

Vor dem DFB-Pokal-Klassiker gegen Werder Bremen (20.15 Uhr im LIVE-TICKER) hat Anatolij Tymoschtschuk beim FC Bayern endlich Einsatzzeiten bekommen. Der Edelreservist überzeugt auf ungewohntem Terrain, muss aber auf seine echte Chance weiter warten.

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Es ist keine neun Monate her, da wollte Anatolij Tymoschtschuk nur allein sein. Fernab der Klubkollegen saß er im Januar gedankenverloren und Nägel kauend in der Abflughalle des Dubai International Airport und wartete auf den Heimflug nach München.

20 Meter entfernt lieferte Mark van Bommel im "Kennst du den schon?"-Tete-a-tete mit Daniel van Buyten einen Schenkelklopfer nach dem anderen und Bastian Schweinsteiger amüsierte sich köstlich mit Mario Gomez.

Es war alles rosarot beim FC Bayern nach einem erfolgreichen Trainingslager am Fuße des Burj Dubai, dem größten (und hässlichsten) Turm der Welt. Nur Tymoschtschuk glich einem kleinen Häufchen Elend. Auch nach sechs Monaten war der Ukrainer noch nicht angekommen beim FC Bayern.

Kein Wechsel aus privaten Gründen

Louis van Gaal hatte die Klinsmann-Verpflichtung von Anfang an skeptisch beäugt, Tymoschtschuk aber dennoch so lange regelmäßig spielen lassen, bis ihm die durchaus gelungene Idee kam, es seinem Vorgänger Jupp Heynckes gleich zu tun, und Schweinsteiger an die Seite von van Bommel zu stellen.

Fortan spielte Tymoschtschuk keine Rolle mehr und wurde bis Saisonende kein einziges Mal mehr für die Startelf berücksichtigt.

Im Sommer empfahl van Gaal Tymoschtschuk, sich einen anderen Verein zu suchen. Der Coach will seinen Spielern eine Perspektive bieten, seine Nummer 44 fiel dabei offensichtlich durch den Rost.

Ein Vereinswechsel kam für den 11-Millionen-Euro-Einkauf allerdings aus privaten Gründen nicht infrage.

Tymoschtschuks Frau brachte Ende April Zwillinge zur Welt. Die Fruchtblase war im sechsten Monat geplatzt, die Babys überlebten, mussten aber monatelang klinisch betreut werden.

"Akzeptiere jede Entscheidung"

Tymoschtschuks Abschied schien aber nur aufgeschoben. Als UEFA-Cup-Sieger und Kapitän der ukrainischen Nationalmannschaft beim FC Bayern keine sportliche Perspektive zu besitzen, war kaum zu akzeptieren.

Doch es gehört zu Tymos angenehmen Eigenschaften, sich nicht zu beklagen. "Ich akzeptiere jede Entscheidung des Trainers, auch wenn ich mal anderer Meinung bin", richtete er einmal in einem seiner seltenen Interviews aus. In seinen Kurzeinsätzen lieferte Tymoschtschuk ehrliche Arbeit ab, ob als Sechser oder als Innenverteidiger.

Sein Problem: Van Gaal betonte schon oft, dass er für den Ukrainer, der am stärksten als alleiniger Abräumer vor der Abwehr agiert, eigentlich keine Verwendung hat. Tymoschtschuk ist der Prototyp des Abfangjägers, grätscht trotz technisch guter Fähigkeiten gerne und interpretiert die Rolle eines Sechser insgesamt anders, als es das Bayern-System vorsieht.

Punktsieg gegen sein Vorbild

Sein anderes "Problem": Charakterlich ist der 31-Jährige über jeden Zweifel erhaben - das macht es für die Bayern-Verantwortlichen auch so schwer, ihn nicht zu berücksichtigen. In der Ukraine gilt als sein größter Makel, dass er nie unter Trainerlegende Valerij Lobanowski für das Aushängeschild Dynamo Kiew gespielt hat (was man ihm in Donezk gerne verzeiht).

Privat engagiert er sich gegen Rassismus und ersteigert bei Charity-Auktionen leidenschaftlich gerne Trikots von berühmten Fußballern. Als sein Vorbild Lothar Matthäus einst den Preis für ein Zidane-Jersey in die Höhe trieb, ließ Tymoschtschuk ein beherztes 750-Euro-Angebot fallen und bekam den Zuschlag.

Aufgrund der rekordverdächtigen Verletztenmisere der Bayern in dieser Saison feiert Tymo endlich auch wieder sportliche Erfolge. Drei Mal in Folge spielte er in der Innenverteidigung und machte insbesondere beim 0:0 in Hamburg einen exzellenten Job.

Van Gaal vertraut dem gelernten zentral-defensiven Mittelfeldspieler Tymoschtschuk mehr als dem argentinischen Nationalverteidiger Martin Demichelis.

"Demichelis ist ein Innenverteidiger, aber er macht es gerade nicht so gut. Tymoschtschuk ist kein Innenverteidiger; er macht das, weil ich keine andere Lösung habe im Moment. Und er macht das sehr gut", lautet van Gaals simple Formel.

Wie ein Mann

Und auch Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge lässt in diesen Tagen keine Gelegenheit aus, sich als Tymoschtschuk-Fan zu outen. "Er haut sich da rein, spielt den Part wie ein Mann. Das finde ich klasse", sagte Rummenigge nach dem HSV-Spiel.

Rummenigges Lob ist ernst gemeint, jedoch überwiegt professionelles Kalkül. Jeder nachhaltige Einsatz von Tymoschtschuk rechtfertigt die hohe Ablösesumme, die die Bayern 2009 an Zenit St. Petersburg überwiesen - und animiert den sensiblen Ukrainer zum Durchhalten.

Tymoschtschuk brillierte in den letzten drei Spielen durch gutes Stellungsspiel, Abgeklärtheit im Zweikampf und vor allem durch vernünftiges Aufbauspiel - seinem wichtigsten Trumpf im Duell mit Daniel van Buyten um die Position neben Holger Badstuber.

Weitere Chance gegen Werder

Im DFB-Pokalspiel gegen Werder Bremen bekommt Tymoschtschuk eine weitere Bewährungschance. Van Buyten kehrt in den Kader zurück, wird aber zunächst auf der Bank Platz nehmen. Langfristig ist Tymoschtschuk für den Trainer allerdings keine Alternative in der Innenverteidigung. Van Gaal setzt auf Badstuber, van Buyten und den derzeit noch verletzten Breno.

Durch die starken Leistungen als Notnagel hat Tymoschtschuk seine Aktien bei van Gaal dennoch deutlich verbessert. Er schöpft neuen Mut: "Ich will dem Trainer zeigen, dass ich nicht nur spielen kann, wenn andere fehlen. Ich möchte in die Stammelf."

Diesen Gefallen wird ihm van Gaal nicht tun. An van Bommel und Schweinsteiger kommt Tymoschtschuk nicht vorbei, geschweige denn ran. Er wird sich mit seiner Edeljokerrolle abfinden müssen.

Vielleicht ergibt sich in der nächsten Saison eine echte Chance; van Bommels Vertrag läuft aus.

Tymoschtschuk hat sich bislang jedenfalls tadellos verhalten und zuletzt seine Klasse unter Beweis gestellt. Er hätte eine echte Chance verdient.

Anatolij Tymoschtschuk im Steckbrief