Markus Merk im Karriere-Interview: "Deutsche, Türken, Behinderte - wenn ich das nicht mache, bin ich tot!"

Von Philipp Schmidt
Merk wurde quasi gezwungen, in der Türkei TV-Experte zu werden.
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Welche Regelfragen bereiten Ihnen bis heute Kopfzerbrechen?

Merk: Das Thema Handspiel wird seit Jahren immer schlimmer. Mittlerweile haben alle aufgegeben, weil es keiner mehr versteht und es keine Linie mehr gibt. Ich habe es mit konstruktiven Vorschlägen versucht, aber in den Gremien sitzen teilweise Leute, die dort nicht unbedingt hingehören. Ähnlich kompliziert verhält es sich mit dem Videobeweis. Da erinnere ich mich noch an eine Anekdote aus dem März 2008.

Erzählen Sie!

Merk: Damals pfiff ich das Spiel Dortmund gegen Bremen, bei dem ein fälschlicherweise anerkanntes Abseitstor durch Bremens Markus Rosenberg fiel. Im Anschluss wurde die Aktion auf der Videoleinwand gezeigt. Dann war auch mir bewusst, dass es nicht hätte zählen dürfen. Sebastian Kehl kam zu mir und meinte: Hey, Markus, hast du das gesehen? Natürlich hatte ich es gesehen und erwiderte: Das sieht nach Abseits aus. Ich hatte mich aber anders entschieden und auf meinen Assistenten verlassen. Auf Kehls Bitte, mir die Szene doch noch einmal an einem Monitor anzuschauen, stellte ich klar: Sebastian, dann würde ich den Videobeweis einführen und das wäre mein letztes Spiel. Dass ich auch nur in Erwägung zog, dass in kritischen Situationen die Unterstützung durch technische Hilfsmittel sinnvoll wäre, löste anschließend einen unvorstellbaren Shitstorm aus - auch intern von einigen netten Kollegen. In der folgenden Ausgabe des kicker musste ich Teile meines 30-Punkte-Plans darlegen, um meinen Kopf zu retten.

Mit der heutigen Regelauslegung ist Merk nicht einverstanden.
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Mit der heutigen Regelauslegung ist Merk nicht einverstanden.

Merk über den VAR: "Konzept heute noch unschlüssig"

Zwölf Jahre später ist der Videobeweis relevant wie eh und je.

Merk: Urplötzlich wurde der Videoassistent mit einem Konzept eingeführt, das heute noch unschlüssig ist. Dass meine Ideen allesamt praxistauglich sind, habe ich nie behauptet, aber dass beispielsweise zehn Verbänden die gleichen Testparameter gegeben wurden, ist absolut unsinnig. So können keine Details ausgetestet werden.

Wie sähen Ihre Vorstellungen aus?

Merk: Ich war immer ein Verfechter eines Vetorechts mit einem speziellen Konzept. Das macht die Angelegenheit attraktiver und spannender, das habe ich seitenweise ausgeführt. Mein Problem war, dass ich der erste war, der ein solches Überprüfungssystem prominent angesprochen hat. Und genau diejenigen, die damals vehement gegen technische Hilfsmittel votierten, sind jetzt die, die immer wieder neue Aufgabengebiete in diesem Bereich finden.

Wie kann das Thema Handspiel denn so gelöst werden, dass es wieder jeder versteht?

Merk: Es gibt nur eine Lösung: Jedes Jahr 20 bis 30 Szenen nehmen, diese nach sturen Richtlinien anschauen und die Auswertung nach außen transparent darlegen. Es kann da kein Schwarz-Weiß-Denken geben, die Masse der Situationen muss für Jedermann verständlicher werden. Ansätze für ein solches Vorgehen gab es, in den letzten Jahren wurde aber wieder vieles kaputt gemacht. Ziel muss es sein, die Grauzone möglichst klein zu halten.

Welche Bedeutung hat, dass niemand sagen kann, was Absicht ist, weil auch niemand in den Kopf der Spieler schauen kann?

Merk: Es muss ja eine klare Intention gegen den Ball geben. Ich habe gerne den Begriff der Fahrlässigkeit verwendet. Jeder hat mir zugestimmt, als ich den Begriff vorbrachte, aber es gab trotzdem andauernd Anpassungen. Ich hatte immer eine ganz klare Linie, was die Armhaltung betrifft. Für mich stand die Frage im Zentrum: Wie kann der Fußball für die Fans besser und attraktiver werden? Denn ohne die brauchen wir überhaupt nicht zu spielen.

Merk über Bergsteiger-Unfall: "Finger zur Hälfte schwarz"

Sie waren Ihr gesamtes Leben lang im Ausdauersport aktiv, vor allem beim Bergsteigen - zahlreiche Zwischenfälle inklusive. Dachten Sie da nie ans Aufhören?

Merk: Ich war immer ein Ausdauer-Freak. In den vergangenen zehn Jahren war meine Top-Sportart das Ultra Trail Running. Da sind kuriose Sachen wie der Ultra-Trail du Mont-Blanc dabei mit einer Länge von 178 Kilometern und 10.500 Höhenmetern. Beim Bergsteigen bin ich vor der WM 2002 auf dem Piz Morterasch in der Schweiz abgestürzt. 2009 habe ich mir dann bei einer Rettungsaktion in Bolivien das Sprunggelenk gebrochen. Am härtesten erwischte es mich aber am Pik Lenin in Kirgisistan im Jahr 2014.

Sie trafen beim Abstieg auf eine Gruppe, in der ein Deutscher unter der Höhenkrankheit litt und sich in Lebensgefahr befand. Was genau ist dann passiert?

Merk: Ich habe ihm geholfen. Beim Fixieren und Lösen der Seile war es notwendig, immer wieder die Überhandschuhe auszuziehen. Der Tag wurde immer länger, wir schlugen unser Nachtlager auf 6.400 Metern auf. Im Anschluss an den Trip waren fünf meiner Fingerkuppen schwer erfroren. Am Anfang sah das ganz übel aus, weil die Finger zur Hälfte schwarz waren. Drei sind jetzt wieder halbwegs in Ordnung, bei den anderen beiden fehlt die Kuppe. Ich würde das aber immer wieder so machen und will die Sache auch nicht größer machen, als sie war. Es hindert mich nicht, aber beim Sport in der Kälte entsteht ein Taubheitsgefühl. Hohe Berge und dünne Luft sind leider nicht mehr denkbar.

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