EM

Lokomotive auf Umwegen

Robert Lewandowski blieb bei der EM in Frankreich bislang ohne Tor
© getty

Polens Robert Lewandowski wartet vor dem Spiel gegen Portugal (Do., 21 Uhr im LIVETICKER) weiterhin auf sein erstes Tor bei der EM in Frankreich. Dabei schoss der Bayern-Stürmer in der Liga doch zuletzt alles kurz und klein. Ihm eine Ladehemmung anzudichten, wäre zu einfach. Schließlich unterscheiden sich seine beiden Rollen elementar.

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Ricardo Carvalho muss es eigentlich wissen. Der Portugiese ist mit seinen zarten 38 Jahren der älteste Feldspieler der Europameisterschaft und hat in den letzten 20 Jahren sein Schienbein schon gegen unzählige Topstürmer der Welt hingehalten. Lionel Messi, Cristiano Ronaldo, Zlatan Ibrahimovic, Ronaldinho oder Thierry Herny. Allesamt waren sie bereits beim Innenverteidiger vorstellig und schaufelten ihm Unmengen an Erfahrungspunkte auf die Habenseite.

Seine Sensoren für Top-Stürmer sind demnach bestens kalibriert. Vor dem Spiel gegen Polen (Do., 21 Uhr im LIVETICKER) schlagen sie aus. Und das, obwohl der Angreifer auf der gegenüberliegenden Seite bislang noch gar nicht in Erscheinung getreten ist und über dem Torekonto bereits eine leichte Staubschicht liegt. "Wir müssen aufpassen. Polen hat viele individuell starke Spieler. Und sie haben vor allem eines: einen der besten Stürmer der Welt", so Carvalho. Wen er damit meint, ist klar: Robert Lewandowski.

Hoffnungsträger der Nation

Der 27-Jährige ist der unumstrittene Superstar im Team der polnischen Nationalmannschaft. Eine ganze Fußballnation lud im Voraus des großen Turniers die in den letzten Jahren gewachsene Erwartung auf den Schultern des Bayern-Stürmers ab und schickte ihn als Gallionsfigur nach Frankreich. Mit Hilfe seiner Tore sollte das Team bei der EM möglichst weit kommen, durch seine Strahlkraft sollte die Elf auf dem Platz getragen werden und an seiner Persönlichkeit sollten sich die anderen Spieler in schwierigen Zeiten aufrichten können. Eine Menge Holz für eine einzelne Person.

Doch die Schultern des Polen sind breit. Schließlich reiste der Stürmer mit einer beachtlichen Saison im Gepäck zur Nationalmannschaft. 30 Tore erzielte Lewandowski alleine in der zurückliegenden Bundesliga-Saison, hinzu kommen neun in der Champions League und drei im DFB Pokal. In gerade einmal 50 Saisonspielen kam der Pole auf 42 Buden.

Vier EM-Spiele, 0 Tore

Umso schwerer ist es zu verstehen, dass es in der Nationalmannschaft derzeit nicht klappen will. In allen vier EM-Spielen blieb der Stürmer bislang ohne Tor und schoss lediglich zwei Mal auf das gegnerische Gehäuse. Zählt man die drei Partien vor der EM dazu, wartet der Pole nun bereits seit sieben Länderspielen auf ein Erfolgserlebnis im polnischen Trikot. Eine halbe Ewigkeit für einen Spieler seines Formates.

An seiner Sonderstellung hat sich allerdings auch nach den bisherigen Partien nichts geändert. Denn die Rolle von Lewandowski im polnischen System unterscheidet sich deutlich von der im Verein. Im 4-4-2 bzw. im 4-4-1-1 der Polen agiert Lewy nicht als Stoßstürmer, der sich ausschließlich im Strafraum herumtreibt und auf Bälle lauert. In bislang vier EM-Spielen kam Lewandowski beispielsweise lediglich auf neun Ballaktionen im gegnerischen Strafraum, im Gruppenspiel gegen Deutschland war es kein einziger. Bei den Bayern sind es im Vergleich rund acht - pro Spiel.

Erste Anlaufstelle im Spiel

Durch seine enorme Präsenz an der Strafraumkante bindet er oft mehrere Gegenspieler und schafft somit Platz für seinen Sturmpartner Arkadiusz Milik. "Manchmal sind zwei, drei Spieler an mir dran, die ziehe ich mit und dann hat ein Mitspieler freie Bahn und kann ein Tor schießen", erklärte Lewandowski zuletzt: "Einerseits ist es schade, dass ich keine Torchance habe, anderseits ist es gut, dass die Mannschaftskollegen zu ihren Gelegenheiten kommen. Manchmal muss man überlegen, was das Wichtigste ist. Und dies ist immer das Wohl der Mannschaft."

Der 27-Jährige lässt sich bei der EM deshalb oft weit zurückfallen und stößt in den freien Raum zwischen den Ketten. Er ist dort oft Anlaufstelle sämtlicher Angriffe, schirmt Bälle ab und verteilt diese auf die Seite. Der Angreifer ist eine Art verkappter Spielmacher, der lenkt und gestaltet. Das schlägt sich auch in den Zahlen nieder. Obwohl die Polen (50 Prozent) im Vergleich zum FCB (71 Prozent) deutlich weniger Ballbesitz haben, hat der Pole bei der Nationalmannschaft mehr Ballaktionen (45 vs. 42 pro Spiel).

Zweikampf-Maschine

Auch im defensiven Konstrukt ist er als Sturmspitze zentraler Akteur. Es ist auch ihm zu verdanken, dass Polen bei der EURO derzeit lediglich ein Gegentor (gegen die Schweiz) kassierte. Er geht weite Wege und sucht die direkten Duelle mit dem Gegenspielern. Alleine in Frankreich führte Lewy 63 Zweikämpfe, nur sechs Spieler überhaupt erreichten in dieser Statistik bislang einen höheren Wert.

Es verwundert deshalb nicht, dass die Teamkollegen und der Trainerstab nicht müde werden, die enorme Bedeutung des Stürmers zu unterstreichen. "Er leistet fantastische Arbeit und hatte bei unseren Siegen großen Einfluss. Er ist die Lokomotive unserer Mannschaft", erklärte beispielsweise Nationaltrainer Adam Nawalka. Das Team habe überhaupt keine Probleme damit, dass er noch kein Tor erzielt hat.

Auch von seinen Mitspielern erhält er Rückendeckung. "Man muss sagen, dass er seinen Job gut macht. Obwohl er nicht trifft, gibt er der Mannschaft enorm viel. Wir kreieren nicht so viel für ihn, wie wir es gerne tun würden", so Keeper Lukasz Fabianski.

Parallelen zu Ronaldo

Alleine die Diskussionen um seinen Namen und die ständigen Nachfragen der Reporter zeigen die exponierte Stellung in der polnischen Mannschaft. Viele Fans in der Heimat denken weiterhin, dass das Spiel der Bialo-Czerwoni alleine von ihm abhängt und vergessen dabei, dass andere glänzen können, wenn er mannschaftsdienlich spielt.

Cristiano Ronaldo auf der portugiesischen Seite macht derzeit eine ähnliche Entwicklung durch. Im Gegensatz zu Lewandowski traf er zwar bereits, doch auch CR7 ordnete sein Ego dem Teamerfolg zuletzt unter, lief Gegenspieler an und ging oft weite Wege für den Sieg der Mannschaft.

Sollte Lewy gegen Portugal erneut kein Tor erzielen, sagt das noch lange nichts über seine Leistung aus. Vielleicht hat er wieder Räume aufgerissen, Gegenspieler an sich gebunden oder die Bälle gut verteilt. Erst wenn bei Portugal nach 90 Minuten hinten die Null steht, kann sich Carvalho sicher sein, dass er seinen Job gut gemacht hat. Aber Carcalho selbst kann das wohl sowieso am besten einschätzen. Er hat ja genug Erfahrung mit den "besten Stürmern der Welt".

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