"Boom Boom Bine" oder der "Fuchs"

06. Juli 201311:19
Zum ersten mal seit Steffi Graf 1999 steht wieder eine Deutsche in einem Grand-Slam-Finalegetty
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Der erste deutsche Grand-Slam-Titel nach 14 Jahren ist zum Greifen nahe: Sabine Lisicki tritt am Samstag im Finale von Wimbledon gegen Marion Bartoli (15 Uhr im LIVE-TICKER) an. Wie stehen ihre Chancen gegen die unkonventionelle Französin, die so gar nicht in den Tenniszirkus zu passen scheint? Eine Analyse auf und abseits des Platzes.

"Ich denke nicht, dass es ein großer Schock war. Sie ist eine großartige Spielerin. Ihre Spielweise ist super, super geeignet dafür, auf Gras gut zu spielen." Worte von niemand geringerem als Serena Willams nach ihrer Niederlage gegen Sabine Lisicki. Im Achtelfinale von Wimbledon. Trotz 3:0-Führung im dritten Satz.

Lisicki-Coach Fissette: "Will, dass sie ruhig im Kopf ist"

Auch wenn Williams, mit einer Siegesserie von 34 Matches angetreten und für viele die beste Spielerin aller Zeiten, auf die Bremse trat: Der Sieg von Lisicki sendete durchaus Schockwellen durch die Tenniswelt. Und jetzt, zwei Runden später, ist auch Deutschland infiziert.

Boris und Dirk fiebern mit

Während andere "Drachentöter" von Wimbledon wie Sergiy Stakhovsky (warf Roger Federer raus) oder Michelle Larcher de Brito (besiegte Maria Sharapova) ihren Tag an der Sonne genossen, nur um ein Match später die Koffer zu packen, legte die 23-jährige Lisicki nach, besiegte Kaia Kanepi und in einem wahren Tennisthriller auch noch Agniezka Radwanska.

Die erste Deutsche im Wimbledon-Finale seit Steffi Graf - die Lisicki vor ihrem Halbfinale übrigens per SMS viel Glück wünschte - versetzt Deutschland zumindest für ein paar Tage wieder ins Tennis-Fieber: Während Superstars wie Dirk Nowitzki und Boris Becker per "Twitter" gratulierten, bemühte sich die ARD prompt darum, das Finale am Samstag um 15 Uhr deutscher Zeit im Free-TV übertragen zu dürfen. Eine Flut von Werbespots in den kommenden Wochen wäre keine Überraschung.

1,87 Millionen Euro kann die Tochter eines deutsch-polnischen Vaters und einer polnischen Mutter am Samstag verdienen. Damit hätte sie ihr in bisher sieben Jahren erspieltes Karriere-Preisgeld schon fast verdoppelt. Aber wer ihr nach den letzten Spielen in das vor Freude tränenüberströmte Gesicht schaute, der weiß: Es ist Liebe.

"Boom Boom Bine" lebt ihren Traum

Liebe auf den ersten Blick, um genau zu sein. 2009 stürmt die 1,78 Meter große Rechtshänderin aus dem Nichts bis ins Viertelfinale. Zwei Jahre später ist es sogar das Halbfinale, 2012 wieder die Runde der letzten Acht. Und jetzt der Triumph? "Ich kann nicht glauben, dass ich im Finale bin", rang sie nach dem Krimi gegen Radwanska um Worte.

Lisicki trägt ihr Herz auf der Zunge: "Ich liebe Wimbledon einfach so sehr", stammelte sie ein ums andere Mal nach ihren Erfolgen in die Mikrofone - und man nimmt es ihr ab. Nichts an ihr wirkt gestellt. Wer reagiert schon überrascht, wenn man erfährt, dass ihr Hund "Happy" heißt? Stattdessen muss man konstatieren: Das passt!

Auf dem Platz spiegeln sich ihre Emotionen derart in ihrem Gesicht wider, dass man als Zuschauer einfach mitgehen muss. Der Wechsel von Zuversicht zu Unsicherheit und Frust, von Verzweiflung zu einer wilden Entschlossenheit und schließlich zu gelöster Ekstase nach dem verwandelten Matchball gegen Radwanska kommt an auf der Insel, auf der man "Boom Boom Bine" schon fast adoptiert zu haben scheint.

Bartoli: Der beidhändige Flummi

Marion Bartoli sorgt durch ihre Art und Spielweise dagegen zuallererst für Befremdung. Zwischen Ballwechseln wirkt sie fast hyperaktiv, absolviert Probeschwünge und hüpft vor dem Return ständig auf und ab. "Ich will meine Gegnerin damit nicht entnerven", erklärt sie ihr Energizer-Bunny-Dasein. "Ich versuche einfach, für den folgenden Punkt bereit zu sein." Emotionen zeigt sie bis auf die im Damentennis obligatorische Faust nach wichtigen Punkten keine, das Gesicht bleibt regungslos.

Erstes Markenzeichen ist bei der 28-Jährigen jedoch die beidhändige Vorhand: Als Kind spielte die Linkshänderin zuerst mit Rechts, hatte mit der Vorhand dann aber zu wenig Kraft. Der Vorschlag, doch beidhändig zu agieren, stößt erst auf Gegenliebe, als sie Monica Seles im French-Open-Finale sieht. "Das sah sehr simpel aus", erinnert sie sich. "Ich habe es ausprobiert und, bumm, sofort war die Vorhand sehr gut." Die so verkürzte Reichweite gleicht sie mit einem besonders langen Schlägerhals aus.

Ohne den Papa geht es nicht

2007 stand Bartoli schon einmal im Wimbledon-Finale, schaltete auf dem Weg ins Endspiel Justine Henin aus, verlor dann aber glatt mit 4:6 und 1:6 gegen Venus Williams. Ein Vorteil gegenüber Lisicki? "Dieses Mal hat sie die Erfahrung", betont Amelie Mauresmo, Siegerin von 2006, die Bartoli in London betreut. "Vielleicht hilft ihr das im Finale."

Mauresmo hat, zumindest kurzzeitig, die Aufgabe von Vater Walter Bartoli übernommen. Der frühere Arzt und passionierte Schachspieler coachte seine Tochter, auf der WTA-Tour ja nicht unüblich, fast über ihre ganze Karriere, oft mit unkonventionellen Mitteln. Ganz ohne Reibereien lief es nicht ab: 2011 geriet er, in Wimbledon auf der Tribüne sitzend, sich mit ihr derart in die Haare, dass sie ihn aufforderte, den Platz zu verlassen.

Trotzdem gehört er dazu. Da sie sich im französischen Fed-Cup-Team weigerte, ohne den Papa an der Seitenlinie anzutreten, was gegen interne Regeln verstößt, spielte sie von 2004 bis Anfang 2013 kein einziges Mal für die Grande Nation - und musste sogar auf die Olympischen Spiele in London verzichten. Das kam in der Heimat ganz und gar nicht gut an, mittlerweile lebt sie in der Schweiz.

Im September 2012 entschied sie sich dann, auf ihren Vater als Trainer zu verzichten. "War es eine harte Entscheidung? Natürlich", gibt sie zu. "Aber es war Zeit, etwas anderes auszuprobieren." Nachdem Gerald Bremond und Jana Novotna, die vor 15 Jahren hier gewann, im Frühjahr nach jeweils nur einem Turnier das Handtuch warfen, war Vater Walter im Mai wieder an ihrer Seite. In London telefoniert sie täglich mit ihm - ohne geht eben doch nicht.

Seite 2: Lisicki und Bartoli im Head-to-Head-Vergleich

Stärken und Schwächen

In der internen Bilanz steht es 3:1 für Lisicki, zwei der Duelle wurden auf Rasen ausgetragen: 2008 hatte Marion Bartoli in der ersten Runde von Wimbledon die Nase vorn (6:2, 6:4), im Viertelfinale 2011 triumphierte Lisicki mit 6:4, 6:7 (7:9) und 6:1. Der Untergrund auf dem Centre Court bietet wohl keiner der beiden Gegnerinnen einen entscheidenden Vorteil: Während Lisickis Zuneigung zu Rasen gut dokumentiert ist, feierte Bartoli hier ebenfalls ihre größten Erfolge - in keinem anderen Major kam sie bisher über das Viertelfinale hinaus. "Sie ist auf Rasen so stark wie Sabine", analysierte Tennis-Guru Nick Bollitieri.

Beweglichkeit

In einer Tenniswelt, die zunehmend von langbeinigen, groß gewachsenen Spielerinnen bevölkert wird, bilden die Finalistinnen eine wohltuende Ausnahme: Kraftvolle Oberschenkel dominieren bei beiden die Erscheinung, der niedrige Körperschwerpunkt generiert die Schlaghärte von der Grundlinie und ist gerade bei den flach abspringenden Bällen in Wimbledon ein Vorteil.

In punkto Schnelligkeit gehören beide nicht zur Weltspitze, aber sie bewegen sich gut. Gerade bei Bartoli ist man geneigt, unter dem weißen Kleid das eine oder andere Kilo zu viel zu vermuten - auf dem Platz sehen sich die Gegnerinnen aber eines Besseren belehrt.

"Ich habe es mit dem Slice versucht, damit hatte sie keine Probleme. Ich versuchte es mit Stopps. Sie kam ran", staunte Kirsten Flipkens nach dem ersten Halbfinale, in dem ihr Bartoli mit 6:1 und 6:2 eine Lehrstunde erteilte. "Bei Passierbällen war sie am Netz zur Stelle. Ich habe es mit Lobs versucht... ich habe eigentlich alles versucht, aber es hat nicht geklappt."

Durch die beidhändige Vorhand ist Bartoli von klein auf gezwungen, sich auf dem Platz gut zu bewegen und gut zum Ball zu stehen. Auch Vater Walter legte darauf großen Wert: "Weil sie beidhändig spielt, ist das physische Training und die Geschwindigkeit auf dem Court immens wichtig." Resultat: Ihre kleinen Hopser und Trippelschritte erinnern an die Gräfin höchstpersönlich.

Vorteil: Bartoli

Aufschlag

Der große Vorteil von Lisicki ist ihr Aufschlag. Mit 1,78 Metern ist sie nur acht Zentimeter größer als ihre Gegnerin, hat jedoch ein um Klassen besseres Service vorzuweisen: Während sie es durch eine mühelose und effiziente Aufschlagbewegung schafft, sich mit ihrer ganzen Kraft in den Ball hinein zu katapultieren , feilte Bartoli im Laufe ihrer Karriere mehrfach am eigenen Aufschlag. Auch sie geht mittlerweile mehr in den Ball hinein, kommt mit ihrer komplizierten Ausholbewegung aber nicht an das Service von Lisicki ran.

Diese kommt in Wimbledon über den ersten Aufschlag, gepaart mit ihrem Größenvorteil und der höheren Power aus den Beinen auf Durchschnittsgeschwindigkeiten von über 190 km/h - Bartoli dagegen erreicht nicht einmal 170 Stundenkilometer. Etwas abgeschwächt wird dieser Vorteil durch den inkonstanten Ballwurf von Lisicki, der ihr bei diesem Turnier schon das eine oder andere Mal Probleme bereitete. Trotzdem sollte gerade der Slice nach außen gegen die kurze Reichweite Bartolis eine gute Waffe sein.

Vorteil: Lisicki

Return

In Sachen Return sind beide Finalistinnen jederzeit für einen Winner gut, eine abwartende Spieleröffnung, etwa durch einen Slice, sieht man fast nie. Gerade Bartoli steht oft schon gegen den ersten Aufschlag im Feld und nimmt den Ball sehr früh: Sie wuchs auf Hartplätzen auf und sieht den Ball laut Vater Walter "15 Millisekunden früher als die meisten Spielerinnen".

So übte sie in den beiden Matches gegen Sloane Stephens und Kirsten Flipkens massiv Druck auf ihre Gegnerin aus und gewann jeweils über 50 Prozent der Punkte beim Return. Lisickis Quote ist, auch aufgrund ihrer höheren Fehlerquote, etwas schwächer (gegen Kanepi und Radwanska jeweils etwa 45 Prozent).

Leichter Vorteil: Bartoli

Grundlinienspiel

Die Rückhand zu umlaufen ist im Damentennis nicht so en vogue wie bei ihren männlichen Pendants, die Unterschiede in Schlaghärte und Präzision im Allgemeinen nicht so ausgeprägt. Während Bartoli durch ihre beidhändige Vorhand - erinnert sich eigentlich noch jemand an Jan-Michael Gambill? - auf beiden Seiten etwa gleich stark agiert, ist für die gebürtige Troisdorferin Lisicki die harte, flach durchgezogene Vorhand eindeutig die stärkste Waffe, mit der sie die Ballwechsel jederzeit für sich entscheiden kann.

Dabei setzt sie ganz auf Geschwindigkeit und verzichtet dafür auf Topspin, dessen Stärken durch den Untergrund ohnehin negiert werden (siehe Nadal, Rafa). Nur im Winkelspiel mit der Vorhand kommt der Spin zum Tragen. Bartoli generiert auf beiden Seiten fast überhaupt keinen Spin, kann durch Abklappen der Handgelenke aber ebenfalls gute Winkel generieren. Sie ist gerade auf der Rückhand etwas konstanter als Lisicki und hat hier leichte Vorteile.

Unentschieden

Taktik

Auf beiden Seiten des Centre Court wird am Samstag Angriff die beste Verteidigung sein: Lisicki schlug in jedem ihrer bisherigen sechs Matches in Wimbledon mehr Winner als ihre Gegnerin und servierte nie weniger Asse. Positiv: Bis auf das Halbfinale konnte sie das Verhältnis der Unforced Errors immer relativ ausgeglichen gestalten: Das wird auch gegen Bartoli Trumpf sein.

Wer die Französin gegen Flipkens beobachtete, sah einen offensiven Wirbelwind gegen eine völlig überforderte Gegnerin. Angesichts der sechs Zweisatzsiege im Turnier bisher ist man versucht, diese Performance zu extrapolieren, aber das täuscht: Gegen die Amerikanerin Stephens, ebenfalls mit jeder Menge Grundlinienpower ausgestattet, fabrizierte sie gerade einmal sechs direkte Punkte, und auch gegen Christina McHale und Camila Giorgi lag sie in dieser Bilanz hinten. Es ist also durchaus möglich, die Französin in die Defensive zu drängen.

Die Fans im Stadion dürfen sich bei aller Liebe zu Powertennis übrigens auch auf jede Menge Finesse freuen: Lisicki begeisterte die Zuschauer im Laufe des Turniers immer wieder mit clever eingestreuten Stopps und Lobs, mit denen sie die Gegnerin aus dem Rhythmus brachte.

Auch Bartoli vermag es, sich ihre Gegnerin zurechtzulegen: Laut eigener Aussage wurde bei ihr als Kind ein IQ von 175 festgestellt, "Sie ist ein schlauer Fuchs", warnt auch Bollitieri. Bisher erwies sich Lisicki als etwas variabler, übertrieb es aber hin und wieder mit zu offensichtlich angesetzten kurzen Bällen.

Leichter Vorteil: Lisicki

Kopf- und Nervenstärke

Im Kopf sind beide gleichermaßen stark: Bartoli trägt auf dem Platz eine No-Nonsense-Attitüde zur Schau und ließ sich im Viertelfinale gegen Stephens auch von Buhrufen des englischen Publikums nicht aus der Ruhe bringen. Auf ihre Gegnerinnen ist es im Gegenzug eine Herausforderung, sich auf das unkonventionelle Gegenüber auf der anderen Seite des Netzes einzustellen. Sie stand hier schon einmal im Endspiel, hat in diesen zwei Wochen ohne Satzverlust reichlich Selbstvertrauen getankt und gute Nerven bewiesen: Vier Sätze gewann sie mit 7:5.

Allerdings muss man sagen: Wirklich getestet wurde sie noch nicht. Im Gegenteil: Die Liste ihrer Gegnerinnen (Svitolina - McHale - Giorgi - Knapp - Stephens - Flipkens) darf man gut und gerne größtenteils als Fallobst bezeichnen. Bisher war sie immer die Favoritin, im Finale wird es anders sein.

Lisicki kann dagegen nach harten Matches gegen Sam Stosur, Williams und Radwanska nichts mehr schocken. Dreimal musste sie über drei Sätze gehen, zweimal machte sie einen 0:3-Rückstand im Entscheidungssatz wett, der letzte Satz gegen die Polin verlangte ihr alles ab. Selbst wenn sie gegen Bartoli in Rückstand geraten sollte: Sie weiß, dass sie jedes Match drehen kann. Ob ihr die Nerven im Finale übel mitspielen, wird sich noch zeigen, aber bisher lächelte sie den Druck einfach weg. Wenn ihr das auch im Finale gelingt, ist alles möglich.

Leichter Vorteil: Lisicki

Tipp: Lisicki gewinnt in drei Sätzen