"Boom Boom Bine" oder der "Fuchs"

Von Stefan Petri
Zum ersten mal seit Steffi Graf 1999 steht wieder eine Deutsche in einem Grand-Slam-Finale
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Stärken und Schwächen

In der internen Bilanz steht es 3:1 für Lisicki, zwei der Duelle wurden auf Rasen ausgetragen: 2008 hatte Marion Bartoli in der ersten Runde von Wimbledon die Nase vorn (6:2, 6:4), im Viertelfinale 2011 triumphierte Lisicki mit 6:4, 6:7 (7:9) und 6:1. Der Untergrund auf dem Centre Court bietet wohl keiner der beiden Gegnerinnen einen entscheidenden Vorteil: Während Lisickis Zuneigung zu Rasen gut dokumentiert ist, feierte Bartoli hier ebenfalls ihre größten Erfolge - in keinem anderen Major kam sie bisher über das Viertelfinale hinaus. "Sie ist auf Rasen so stark wie Sabine", analysierte Tennis-Guru Nick Bollitieri.

Beweglichkeit

In einer Tenniswelt, die zunehmend von langbeinigen, groß gewachsenen Spielerinnen bevölkert wird, bilden die Finalistinnen eine wohltuende Ausnahme: Kraftvolle Oberschenkel dominieren bei beiden die Erscheinung, der niedrige Körperschwerpunkt generiert die Schlaghärte von der Grundlinie und ist gerade bei den flach abspringenden Bällen in Wimbledon ein Vorteil.

In punkto Schnelligkeit gehören beide nicht zur Weltspitze, aber sie bewegen sich gut. Gerade bei Bartoli ist man geneigt, unter dem weißen Kleid das eine oder andere Kilo zu viel zu vermuten - auf dem Platz sehen sich die Gegnerinnen aber eines Besseren belehrt.

"Ich habe es mit dem Slice versucht, damit hatte sie keine Probleme. Ich versuchte es mit Stopps. Sie kam ran", staunte Kirsten Flipkens nach dem ersten Halbfinale, in dem ihr Bartoli mit 6:1 und 6:2 eine Lehrstunde erteilte. "Bei Passierbällen war sie am Netz zur Stelle. Ich habe es mit Lobs versucht... ich habe eigentlich alles versucht, aber es hat nicht geklappt."

Durch die beidhändige Vorhand ist Bartoli von klein auf gezwungen, sich auf dem Platz gut zu bewegen und gut zum Ball zu stehen. Auch Vater Walter legte darauf großen Wert: "Weil sie beidhändig spielt, ist das physische Training und die Geschwindigkeit auf dem Court immens wichtig." Resultat: Ihre kleinen Hopser und Trippelschritte erinnern an die Gräfin höchstpersönlich.

Vorteil: Bartoli

Aufschlag

Der große Vorteil von Lisicki ist ihr Aufschlag. Mit 1,78 Metern ist sie nur acht Zentimeter größer als ihre Gegnerin, hat jedoch ein um Klassen besseres Service vorzuweisen: Während sie es durch eine mühelose und effiziente Aufschlagbewegung schafft, sich mit ihrer ganzen Kraft in den Ball hinein zu katapultieren , feilte Bartoli im Laufe ihrer Karriere mehrfach am eigenen Aufschlag. Auch sie geht mittlerweile mehr in den Ball hinein, kommt mit ihrer komplizierten Ausholbewegung aber nicht an das Service von Lisicki ran.

Diese kommt in Wimbledon über den ersten Aufschlag, gepaart mit ihrem Größenvorteil und der höheren Power aus den Beinen auf Durchschnittsgeschwindigkeiten von über 190 km/h - Bartoli dagegen erreicht nicht einmal 170 Stundenkilometer. Etwas abgeschwächt wird dieser Vorteil durch den inkonstanten Ballwurf von Lisicki, der ihr bei diesem Turnier schon das eine oder andere Mal Probleme bereitete. Trotzdem sollte gerade der Slice nach außen gegen die kurze Reichweite Bartolis eine gute Waffe sein.

Vorteil: Lisicki

Return

In Sachen Return sind beide Finalistinnen jederzeit für einen Winner gut, eine abwartende Spieleröffnung, etwa durch einen Slice, sieht man fast nie. Gerade Bartoli steht oft schon gegen den ersten Aufschlag im Feld und nimmt den Ball sehr früh: Sie wuchs auf Hartplätzen auf und sieht den Ball laut Vater Walter "15 Millisekunden früher als die meisten Spielerinnen".

So übte sie in den beiden Matches gegen Sloane Stephens und Kirsten Flipkens massiv Druck auf ihre Gegnerin aus und gewann jeweils über 50 Prozent der Punkte beim Return. Lisickis Quote ist, auch aufgrund ihrer höheren Fehlerquote, etwas schwächer (gegen Kanepi und Radwanska jeweils etwa 45 Prozent).

Leichter Vorteil: Bartoli

Grundlinienspiel

Die Rückhand zu umlaufen ist im Damentennis nicht so en vogue wie bei ihren männlichen Pendants, die Unterschiede in Schlaghärte und Präzision im Allgemeinen nicht so ausgeprägt. Während Bartoli durch ihre beidhändige Vorhand - erinnert sich eigentlich noch jemand an Jan-Michael Gambill? - auf beiden Seiten etwa gleich stark agiert, ist für die gebürtige Troisdorferin Lisicki die harte, flach durchgezogene Vorhand eindeutig die stärkste Waffe, mit der sie die Ballwechsel jederzeit für sich entscheiden kann.

Dabei setzt sie ganz auf Geschwindigkeit und verzichtet dafür auf Topspin, dessen Stärken durch den Untergrund ohnehin negiert werden (siehe Nadal, Rafa). Nur im Winkelspiel mit der Vorhand kommt der Spin zum Tragen. Bartoli generiert auf beiden Seiten fast überhaupt keinen Spin, kann durch Abklappen der Handgelenke aber ebenfalls gute Winkel generieren. Sie ist gerade auf der Rückhand etwas konstanter als Lisicki und hat hier leichte Vorteile.

Unentschieden

Taktik

Auf beiden Seiten des Centre Court wird am Samstag Angriff die beste Verteidigung sein: Lisicki schlug in jedem ihrer bisherigen sechs Matches in Wimbledon mehr Winner als ihre Gegnerin und servierte nie weniger Asse. Positiv: Bis auf das Halbfinale konnte sie das Verhältnis der Unforced Errors immer relativ ausgeglichen gestalten: Das wird auch gegen Bartoli Trumpf sein.

Wer die Französin gegen Flipkens beobachtete, sah einen offensiven Wirbelwind gegen eine völlig überforderte Gegnerin. Angesichts der sechs Zweisatzsiege im Turnier bisher ist man versucht, diese Performance zu extrapolieren, aber das täuscht: Gegen die Amerikanerin Stephens, ebenfalls mit jeder Menge Grundlinienpower ausgestattet, fabrizierte sie gerade einmal sechs direkte Punkte, und auch gegen Christina McHale und Camila Giorgi lag sie in dieser Bilanz hinten. Es ist also durchaus möglich, die Französin in die Defensive zu drängen.

Die Fans im Stadion dürfen sich bei aller Liebe zu Powertennis übrigens auch auf jede Menge Finesse freuen: Lisicki begeisterte die Zuschauer im Laufe des Turniers immer wieder mit clever eingestreuten Stopps und Lobs, mit denen sie die Gegnerin aus dem Rhythmus brachte.

Auch Bartoli vermag es, sich ihre Gegnerin zurechtzulegen: Laut eigener Aussage wurde bei ihr als Kind ein IQ von 175 festgestellt, "Sie ist ein schlauer Fuchs", warnt auch Bollitieri. Bisher erwies sich Lisicki als etwas variabler, übertrieb es aber hin und wieder mit zu offensichtlich angesetzten kurzen Bällen.

Leichter Vorteil: Lisicki

Kopf- und Nervenstärke

Im Kopf sind beide gleichermaßen stark: Bartoli trägt auf dem Platz eine No-Nonsense-Attitüde zur Schau und ließ sich im Viertelfinale gegen Stephens auch von Buhrufen des englischen Publikums nicht aus der Ruhe bringen. Auf ihre Gegnerinnen ist es im Gegenzug eine Herausforderung, sich auf das unkonventionelle Gegenüber auf der anderen Seite des Netzes einzustellen. Sie stand hier schon einmal im Endspiel, hat in diesen zwei Wochen ohne Satzverlust reichlich Selbstvertrauen getankt und gute Nerven bewiesen: Vier Sätze gewann sie mit 7:5.

Allerdings muss man sagen: Wirklich getestet wurde sie noch nicht. Im Gegenteil: Die Liste ihrer Gegnerinnen (Svitolina - McHale - Giorgi - Knapp - Stephens - Flipkens) darf man gut und gerne größtenteils als Fallobst bezeichnen. Bisher war sie immer die Favoritin, im Finale wird es anders sein.

Lisicki kann dagegen nach harten Matches gegen Sam Stosur, Williams und Radwanska nichts mehr schocken. Dreimal musste sie über drei Sätze gehen, zweimal machte sie einen 0:3-Rückstand im Entscheidungssatz wett, der letzte Satz gegen die Polin verlangte ihr alles ab. Selbst wenn sie gegen Bartoli in Rückstand geraten sollte: Sie weiß, dass sie jedes Match drehen kann. Ob ihr die Nerven im Finale übel mitspielen, wird sich noch zeigen, aber bisher lächelte sie den Druck einfach weg. Wenn ihr das auch im Finale gelingt, ist alles möglich.

Leichter Vorteil: Lisicki

Tipp: Lisicki gewinnt in drei Sätzen