Der Boss hat Sorgen. Auf seinen langen Autofahrten von York in Richtung London macht sich Keith Handley (46) so seine Gedanken. Der Repräsentant der Online-Community MyFootballClub.co.uk, die den kleinen Klub Ebbsfleet United führt, steht vor schweren Wochen.
Im April 2009 durch ein Online-Voting ins Amt gekommen, kämpft der bekennende Nicht-Fußballer ("Dafür bin ich einfach zu fett") Handley mit dem englischen Amateurklub gegen den totalen Absturz.
Die Zeiten, in denen Ebbsfleet durch die Übernahme durch MyFootballClub.co.uk 2007/2008 in ganz Europa für Gesprächsstoff sorgte, scheinen Lichtjahre zurück zu liegen. Der Traum von der puren Fan-Demokratie per Mausklick und die Realität vertragen sich nicht.
Nach acht Jahren in der Amateurliga Blue Square Premier musste The Fleet nun absteigen. Das trifft die Online-Demokraten hart, hatte Ebbsfleet United doch seit Dezember 2009 mit 36 eingefahrenen Punkten eine mehr als beachtliche Aufholjagd hingelegt.
Fans bald im Marketing?
Es ist ein tristes Bild, das sich derzeit beim einzigen Online-Klub der Welt bietet. Im maroden Stadion Stonebridge Road ziehen die Zuschauer bei jedem Schuss, der eines der altmodischen Tribünendächer des 5.000 Zuschauer Platz bietenden Grounds treffen könnte, vorsichtshalber den Kopf ein. Bei jedem Dachtreffer rieselt der Kalk.
Um die Hütte zu renovieren, fehlt dem einstigen Überflieger inzwischen das nötige Kleingeld. Mehr noch: Der Online-Community laufen scharenweise die Mitglieder weg. Im Februar 2010 waren es nur noch ca. 4.000 Fans, die den Klub durch ihren Jahresbeitrag von rund 40 Euro am Leben erhalten - das aber reicht nicht.
In dieser prekären Situation setzt man in Ebbsfleet auf die Fähigkeiten und die Kreativität der verbliebenen Fans. "Jeder, der sich mit Marketing auskennt, kann sich seit Jahresbeginn aktiv einbringen", erklärt Keith Handley gegenüber SPOX, "das wird uns helfen." Möglich. In Ebbsfleet ist man nach dem Höhenflug der letzten beiden Jahre über jeden Tipp dankbar.
Hilfe kann auch Trainer Liam Daish nach dem besiegelten Abstieg gebrauchen. "Wir haben noch keine einzige Zusage von einem Spieler für die kommende Saison", klagte der ehemalige irische Nationalspieler in dieser Woche in einem Radio-Interview, "wir haben viele gute Spieler Ende letzten Jahres verloren und laufen Gefahr, dass auch noch der Rest abwandert." - Triste Zeiten für The Fleet.
Reales Fußball-Märchen: Für wenig Geld Fußballgott spielen
Dabei schien Ebbsfleet United lange das perfekte englische Fußballmärchen aus dem Cyberspace zu sein. Es war einmal eine Online-Community, die den Verein mit mehr als 32.500 eingetragenen Mitgliedern nicht nur finanziell unterstützt hat, sondern auch die Fan-Basis bildete.
Der ehemalige Sportjournalist Will Brooks hatte 2007 mit der Idee, eine Internet-Community ins Leben zu rufen, die bei entsprechender Mitgliederzahl in der Lage wäre, einen Fußballverein zu übernehmen, ein ganz neues Modell der Fan-Demokratie auf der Insel entwickelt.
Die Seite www.MyFootballClub.co.uk nahm in nur sechs Wochen nach Live-Schaltung umgerechnet mehr als 900.000 Euro ein. "Mit der Seite wollte ich ein Vehikel schaffen, das Fanmeinungen, Leidenschaft und Finanzen zusammenbringt und aus den Online-Managerspielen Realität macht", so Will Brooks zu SPOX, "ich traf mich mit einigen Vereinsbossen und mit ehemaligen Geschäftsführern von Klubs aus der Premier League und aus der zweitklassigen Championship, alle waren fasziniert von der Idee und überzeugt, dass sie funktionieren wird."
Brooks traf mit der Webseite den Nerv der Zeit. Er sprach die Fans an, die im Zeitalter der Investorenschwemme in England von den Abramowitschs, Glazers und Gilletts in London, Manchester und Liverpool die Nase voll hatten. Nach mehreren Sondierungsgesprächen wurde aus Ebbsfleet United - mit rund 550.000 Euro hoch verschuldet - 2007/2008 dann MyFootballClub.co.uk. Der Verein aus dem Ebbsfleet Valley beschloss die Übernahme durch die Online-Community und gehört ihr seit Februar 2008 komplett. Seitdem bestimmten Online-Votings die Geschicke des kleinen Klubs.
EbbsfleetSieg in Wembley, Party im Park
Der Hit: Unter Trainer Liam Daish fuhr Ebbsfleet erstmals in seiner Klubgeschichte nach Wembley. Am 12. Mai 2008 spielte der Online-Klub im Finale der FA Trophy (Amateurpokal-Wettbewerb) und bezwang Torquay United mit 1:0.
Rund 26.000 Fans aus mehr als 20 Ländern sahen in London den denkwürdigen Triumph - und feierten anschließend eine zünftige Party in einem Park. Das war im Sommer 2008. Dann kam die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise, die auch Großbritannien arg beutelte. Immer mehr Fans wandten sich ab.
"Wir haben seitdem sehr viele Unterstützer verloren", erklärt Keith Handley, "ab 2011 könnten wir richtige Probleme bekommen. "Die Euphorie, die uns anfangs getragen hat, ist weg."
Reich der puren und chaoistischen Demokratie
Im März 2010 präsentierte die Zeitung "Ebbsfleet Messenger" weitere ernüchternde Zahlen rund um Ebbsfleet. Nur 800 Mitglieder wollten bis dahin kostenpflichtig in der Community bleiben. Aus der Traum?
Der Autor Gary Andrews stellt fest: "Das schwierige wirtschaftliche Klima ist einer der Faktoren für das Ende der Online-Euphorie, 35 Pfund sind zwar nicht unbedingt viel Geld, aber viele Menschen haben sich dafür entschieden, sie anderweitig einzusetzen." Auch, weil der Charme des Projekts und das wichtigste Alleinstellungsmerkmal verloren gegangen sind.
Denn bis Dezember 2009 konnten die Community-Mitglieder auch das Team selbst aufstellen. Gerade dieses Instrument der Basisdemokratie lockte Internetnutzer aus aller Welt zu MyFootballClub.co.uk und begeisterte die Medien: "Willkommen im fantastischen Reich der puren und chaotischen Demokratie", schrieb die Zeitung "The Observer", der "Daily Telegraph" sah klar: "Die Aussicht, für einen Beitrag von 35 Pfund Fußballgott spielen zu können, ist wirklich verlockend."
"Own the Club, pick the Team"
In der Tat. "Die Fans waren begeistert", erinnert sich der ehemalige Klubchef John Moules an die ersten stürmischen Wochen, "das war etwas völlig Neues. Die neuen Teilhaber kamen aus 70 Ländern, darunter allein 7.000 aus Nordamerika, mehr als 2.000 aus Australien, einer sogar aus China."
"Own the Club, pick the Team" - "Besitze den Verein und stell das Team auf" - diese programmatische Devise ist längst Geschichte. Als Ebbsfleet Ende 2009 tief im Abstiegskampf steckte, überließ man die Nummer mit der Mannschaftsaufstellung lieber wieder Trainer Liam Daish.
Der Zusammenhalt innerhalb der Community macht für den leidgeprüften Keith Handley trotz dieser Rückschläge und trotz Abstiegs-Frust immer noch die Faszination von MyFootballClub.co.uk aus: "Es bringt einfach Spaß, Leute zu treffen, die aus der ganzen Welt zu unseren Spielen kommen", erzählt Handley, "sie kommen sogar aus Neuseeland, britische Soldaten aus Afghanistan gehören dazu, und zwei Jungs aus Süddeutschland kommen zu jeder Partie zu uns - wir sind so etwas wie die Vereinten Nationen der englischen Fußballszene."
Wie geht es weiter beim Online-Klub?
Und die "Vereinten Nationen" funken S.O.S. "Im Fanforum wurde schnell klar, dass niemand mehr so ein schwaches Jahr wie in der Vorsaison mitmachen wollte", erklärt Klubpräsident Duncan Holt, "aber um zu überleben, brauchen wir zwischen 200.000 und 250.000 Pfund."
Dabei, so Holt weiter, sei es völlig unerheblich, woher das Geld kommt - ob aus der Community oder von einem externen Investor.
"Momentan sind mir die Hände gebunden", erklärte Daish in dieser Woche im Anschluss an eine Krisensitzung mit dem Vorstand, "wir müssen sehen, welches Budget für die neue Saison vorhanden ist. Es hängt alles vom nächsten Voting der Online-Community ab. Erst danach wissen wir, wie es weitergeht." Vorhang zu und alle Fragen offen.
Cronin - Einer wie Olli Kahn
Obwohl man in Ebbsfleet derzeit eine Menge Sorgen hat, hofft Keith Handley noch auf einen Verrückten: Torhüter Lance Cronin. Der 24-Jährige, der seit 2006 mehr als 150 Spiele für Ebbsfleet gemacht hat, könnte ein Hoffnungsträger beim sportlichen Wiederaufbau sein.
"Lance ist einfach klasse", sagt Keith Handley über den Keeper, "er hängt sich immer voll rein, erinnert mich ein bisschen an Oliver Kahn. Vielleicht bleibt er ja bei uns."
Für Handley ist in Ebbsfleet spätestens seit dem besiegelten Abstieg Schluss mit lustig. "Anfangs dachten viele Leute, das Ganze sei so eine Art Online-Fußballmanagerspiel. Aber die Sache ist ernst. Wir können es uns nicht erlauben, mit der Zukunft unserer Spieler fahrlässig umzugehen." Willkommen in der Realität.
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