Die Bayern pflügen nur so durch die Champions League und spielen die Gegner reihenweise und fast nach Belieben auseinander. Aber wie ist das möglich? Warum sind die Bayern derzeit so überragend stark - und wo liegt der große Fehler im System?
Achtzuzwei. In einem Viertelfinale der Champions League. Gegen den FC Barcelona. Sollte der FC Bayern nicht vor dem Endturnier schon der große Favorit auf den Titel in der Königsklasse gewesen sein - spätestens nach dieser unglaublichen Demonstration der Stärke ist er es. Wie ein Wirbelsturm fegte die Mannschaft über seinen Gegner hinweg und lieferte gegen ein altmodisches, langsames Barca das Rollenmodell dafür, wie moderner Fußball im Jahr 2020 funktioniert.
Aber wie kann so etwas eigentlich sein? Ein Sieg mit sechs Toren Unterschied gegen einen ehemals auf Augenhöhe oder sogar darüber hinaus agierenden Gegner? 15 zu drei Tore in den bisherigen K.o.-Spielen gegen Barca und den FC Chelsea? Neun Siege in allen neun Spielen der Champions League? Von einer Mannschaft, die im Herbst kaum in der Lage war, den VfL Bochum zu beherrschen oder einen Vorsprung gegen Paderborn über die Zeit zu retten? Eine Einschätzung.
Der Trainer
Mit Hansi Flick kam die Wende. Das ist keine wirklich neue Erkenntnis, aber Flick ist der Schlüssel zu allem. Dabei macht der an sich gar nicht so viel anders als andere Trainer. Allerdings liegt in den kleinen Details eben eine große Wirkung. Flick ist in diesen Dingen seinem Vor-Vorgänger Jupp Heynckes ziemlich ähnlich.
Auch der packte die Mannschaft auf einer sehr menschlichen Ebene, fand die richtige Mischung zwischen Kontrolle und Laissez-faire und wusste, bei welchem Spieler er wann welche Knöpfe zu drücken hatte. Diese sehr empathische Gabe war Heynckes' großes Plus und ähnlich stellt sich das derzeit auch bei Hansi Flick dar.
Die Mannschaft
Zwischen Thomas Müller und Ex-Trainer Niko Kovac entwickelte sich im Laufe der Zeit eine stille und manchmal sogar öffentlich ausgetragene Fehde. Kovac übersah dabei, wie wichtig Müller nicht nur als Spieler für die Mannschaft ist, also auf dem Platz - sondern dass er auch der Kit ist im zwischenmenschlichen Bereich. Der heimliche Anführer der Mannschaft nach dem Weggang der Granden Franck Ribery und Arjen Robben. Flick setzte sofort auf Müller und der machte das, was er am besten kann: Lieferte selbst seine Leistung und - noch viel wichtiger - machte die Mitspieler auf einen Schlag gefühlt eine Klasse besser.
Bayern hat im Moment keine Schwachstelle im Kader
Seitdem funktioniert die Ansammlung großer Namen wieder als Kollektiv. Auch ehemalige Solisten wie Robert Lewandowski erfinden sich im Spätherbst ihrer Karriere noch einmal neu, stellen den Teamgeist über alles und reißen den Rest mit. Jerome Boateng ist aus der Versenkung zurück, David Alaba würde wohl am liebsten nur noch Innenverteidiger spielen. Alphonso Davies ist die Entdeckung der Saison, Ivan Perisic ein gerne übersehener, aber umso wichtigerer Rollenspieler, der nun womöglich sogar dauerhaft bleiben darf.
Es gibt im Moment keine (individuelle) Schwachstelle in einem gut austarierten Kader. Die Ergänzungsspieler fügen sich nahtlos ein, sobald sie gefordert sind und halten die Qualität hoch. In der Spitze und Breite und weil kaum ein Spieler verletzt ist, gibt es derzeit keine bessere Mannschaft in Europa. Dazu kommt eine beeindruckende Fitness. Und: Die Bayern können kaum noch laufen vor Selbstvertrauen, auch das dürfte für die Spiele auf diesem Niveau noch sehr entscheidend werden.
FC Bayern in der Taktik-Analyse: Das Kovac-U hat ausgedient
In der Königsdisziplin überdreht Flick nicht, er wollte und will das Rad nicht neu erfinden, sondern setzt auf altbewährte Bausteine - welche seine Mannschaft dann aber phasenweise in Perfektion umsetzt. Das Kovac-U hat ausgedient, Flick ersetzte das vorsichtige Umspielen des gegnerischen Pressings in einer U-Form samt zahlloser Flanken aus dem Halbfeld durch einen ballbesitzorientierten Ansatz, der sich aber nicht in Kontrolle ergeht, sondern auch sehr vertikal und zielstrebig daherkommt.
Mit dem Ball bestechen die Bayern durch ein sehr gutes, weil variables Positionsspiel. Permanent wird der Gegner in beide Richtungen bedroht, sowohl horizontal als auch vertikal. Durch die breite Anordnung mit sehr hoch agierenden oder nachschiebenden Außenverteidigern schaffen die Bayern Platz im Zentrum, dazu gibt es dauerhaft schnelle Läufe der Angreifer in die Tiefe, sodass der Gegner immer zwei Ebenen gleichzeitig im Blick haben muss: Die Breite im (Bayern-)Spiel und die Sicherung der Tiefe.
Gegen das Verschieben verlagern die Bayern schnell und punktgenau, mit den klassischen Kettenmechanismen im Pressing wird man der Mannschaft deshalb kaum Herrr. Sobald Überzahl in Ballnähe geschaffen ist, lösen die Bayern diese durch eine Verlagerung über ihren Sechser oder einem direkten Diagonalball auf die ballferne Seite auf und haben dann dort Platz, um ihre spielstarken Innen- oder Außenverteidiger andribbeln zu lassen und schnell Druck auf den Gegner aufzubauen.
Überhaupt ist ein langer Diagonalball der Innenverteidiger ein gerne eingestreutes Mittel, um die Flügelspieler ins Spiel zu bringen und dann mit dem nachschiebenden Außenverteidiger Tempo und im besten Fall Überzahl am Flügel zu schaffen. Der zurückfallende Lewandowski stellt diese Überzahl im Zentrum mit her und ist sich vor dem Tor auch nicht (mehr) zu schade, den Ball dann auf einen besser postierten Mitspieler abzulegen.
FC Bayerns Gegenpressing der Gold-Standard in Europa
Die Flügelangreifer sind flink und dribbelstark genug, um Eins-gegen-Eins-Situationen aufzulösen - und über allem steht Müller, der als Freigeist durch die gegnerischen Reihen schleicht und oft genug den Takt vorgibt: Mit einem kurzen, sehr simplen Pass ziehen die Bayern über ihn dann plötzlich das Tempo an und besetzen den gegnerischen Strafraum mit vier, fünf oder noch mehr Spielern.
Die individuelle Klasse der Spieler tut ihr Übriges, es gibt überall auf dem Feld Ein-Mann-Waffen, die zünden. Dazu sorgen vereinzelte Flanken für Bedrohung oder die Chipbälle aus dem Mittelfeld hinter die gegnerische Linie. Das Resultat: Der Gegner weiß nie, was als nächstes kommt und worauf er sich einstellen muss.
Der eigentliche Schlüssel und die größte Veränderung unter Flick kam aber im Spiel gegen den Ball. Drei der ersten vier Tore gegen Barca fädelten die Bayern durch ihr sagenhaft mutiges, aber auch sauber orchestriertes Gegenpressing ein. Derzeit ist das der Gold-Standard nicht nur in Europa. Keine andere Mannschaft erdrückt den Gegner in den ersten Momenten nach einem eigenen Ballverlust derart wie die Bayern.
Das Nachrücken und Zuordnen der bis in die gegnerische Hälfte aufrückenden Mannschaft verstärkt diesen Effekt und sorgt in der Regel für die notwendige Kompaktheit dieser durchaus waghalsigen Unternehmung. Im Zentrum werfen die Bayern ihre Fangnetze aus und schnappen dann gnadenlos zu. Der Gegner bekommt kaum eine Verschnaufpause, steht unter dauerhaftem Druck und begeht dann auch Fehler. Dass die Bayern im Umschaltmoment nach vorne durch ihre Geschwindigkeit dann nach jeder einzelnen Balleroberung gefährlich werden, versteht sich fast schon von selbst.
FC Bayern: Eine Verwundbarkeit kann gegen Lyon tödlich werden
Zur Wahrheit des Barcelona-Spiels gehört auch: Nach 15 Minuten hätte es im Viertelfinale auch 3:1 für den Gegner stehen können. Barca hatte nicht viele gute Ideen für die Partie entwickelt, aber diese eine schon: Die Bayern wurden mit kurzen Anspielen ins hohe Pressing gelockt und über einen im Zentrum abgelegten Ball, der schnell tief gespielt wurde, über die Außen aufgeknackt. Die teilweise unverschämt hoch aufgerückten Außenverteidiger sind in ihrem Rücken verwundbar.
In der Regel können Spieler wie Davies, Benjamin Pavard, Kimmich, Alaba oder Boateng in den dann folgenden Laufduellen Vieles noch löschen und die Situation klären, immer gelingt das aber nicht. Ganz speziell Olympique Lyon hat gezeigt, wie man schnörkellos und ohne sich im gegnerischen Pressing zu verzetteln in die Spitze spielt und dort mit stets an der Abseitslinie lauernden oder in die Tiefe startenden Mittelfeldspielern vor das gegnerische Tor kommt. Lyon sollte in dieser Disziplin nicht unterschätzt werden, zumal die Bayern in der hohen Abwehrlinie ihren besonders wunden Punkt haben.
Und noch eine Sache müssen die Münchener nun erst bestätigen: In zahlreichen Spielen unter Flick machte es sich die Mannschaft nach einem vermeintlich sicheren Vorsprung zu gemütlich. Zuletzt auch wieder im Pokalfinale gegen Leverkusen und selbst im Achtelfinale gegen Chelsea, als der an sich ungefährliche Gegner plötzlich am einen oder anderen Tor schnuppern durfte. Die laxe Einstellung kann gegen Lyon und in einem möglichen Finale tödlich sein.
Champions League: Halbfinale im Überblick
Datum | Uhrzeit | Mannschaft 1 | Mannschaft 2 |
18. August | 21 Uhr | RB Leipzig | Paris Saint-Germain |
19. August | 21 Uhr | FC Bayern | Olympique Lyon |
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