Nie wurde in Deutschland soviel über Fußball-Taktik diskutiert wie heute. Doch woher kommen 4-4-2 und 4-2-3-1 und ballorientierte Raumdeckung? Gemeinsam mit Sky-Kommentator und SPOX-Blogger Andreas Renner haben wir versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Herausgekommen ist die SPOX-Themenwoche: Die Geschichte der Fußball-Taktik in acht Teilen.
"Früher haben wir nie über Taktik geredet."
(Horst Eckel, Weltmeister 1954)
"Winnie Schäfer hat uns keine taktischen Anweisungen gegeben. Er hat uns nur vor jedem Spiel 15 Minuten lang heiß gemacht."
(ein KSC-Spieler aus den 90er Jahren)
"In der Offensive kann man mit Taktik nicht viel machen."
(ein Bundesligatrainer vor drei Jahren)
"Wir Deutschen haben keine Ahnung von Taktik."
(Matthias Sammer)
Zwei Trainer in 40 Jahren
Wer alle sechs bisherigen Teile unserer Themenwoche gelesen hat, der kommt an einer Erkenntnis nicht vorbei: Bisher ist noch keine wichtige taktische Neuerung aus Deutschland gekommen. Aber das, was hierzulande an Innovation gefehlt hat, das wurde jahrzehntelang einfach durch Erfolge wettgemacht.
Bleibt die Frage: Warum hat das so lange geklappt und dann plötzlich nicht mehr?
Historisch gesehen waren die ersten beiden deutschen Nationaltrainer Otto Nerz und Sepp Herberger (Im Amt von 1926 bis 1964. Nur zwei Trainer in fast 40 Jahren, das muss man sich einmal vorstellen!) Anhänger der englischen Schule und ließen die damals üblichen Formationen spielen: erst 2-3-5 und danach dann das WM-System.
Ihre Nachfolger vertrauten auf wechselnde Formationen. So spielten wir eine Zeit lang im 4-3-3, dann im 4-4-2 und ganz oft auch im 3-5-2. Alles mit Libero und natürlich mit Manndeckung. Manndeckung war die Grundfeste des deutschen Fußballs.
Der Platz in der Mitte
Mit der Orientierung an den Engländern gaben die ersten Nationaltrainer die Richtung vor. Die spielerisch betonte Gegenbewegung zum Kraftfußball der Engländer, für die der so genannte "Donaufußball" stand, ging an Deutschland spurlos vorbei, auch wenn Schalke 04 um Fritz Szepan und Ernst Kuzorra mit seinem berühmten "Kreisel" in den 20er Jahren mit den Österreichern verglichen wurde und national große Erfolge feierte.
Doch im Nationalteam war dieser Stil nie gefragt. Wenn Szepan und Kuzorra eingesetzt wurden, dann mussten sie sich dem vergleichsweise starren System von Otto Nerz unterordnen.
Im Lauf der Jahrzehnte entwickelte sich der deutsche Fußball aber von den Engländern weg. Dem Spiel der Südeuropäer konnte man ebenso wenig abgewinnen, da fehlte die Zielstrebigkeit. Zugegeben, das sind Klischees, aber sie halfen Fußball-Deutschland, seinen Platz zu definieren: Nämlich in der Mitte. Man könnte auch sagen: Deutschland schloss sich keiner Schule an und gehörte deshalb auch nirgends so richtig dazu. Der deutsche Fußball war anders. Erfolgreich nämlich.
Im Notfall: Manndeckung
Und das funktionierte jahrzehntelang hervorragend. Auf der Grundlage der mit dem WM-System eingeführten Manndeckung wurde das Fußballverständnis geprägt. Zweikämpfe gewinnen und mehr laufen als der Gegner, das waren deutsche Erfolgsrezepte.
Und die Manndeckung, wenn es gegen Übermannschaften wie Ungarn '54 oder die Niederlande '74 ging. Eckel gegen Hidegkuti, Vogts gegen Cruyff. Da konnten die anderen ruhig innovativ sein, solange Deutschland am Ende gewann.
Doch irgendwann musste man dann feststellen, dass die alten Methoden nicht mehr funktionierten und der internationale Anschluss verpasst worden war. Aber wie hatte das passieren können?
Raumdeckung beendet die Erfolgsserie
Die Entwicklung erwischte den deutschen Fußball leider genau in dem Moment, als er am wenigsten darauf vorbereitet war. Auf der Höhe des Erfolges nämlich. Deutschland hatte 1982 und 1986 jeweils das WM-Finale erreicht und 1990 in Italien den dritten Titel geholt.Teamchef Franz Beckenbauer hatte voller Enthusiasmus verkündet, dass Deutschland nun auf Jahre hinaus nicht zu schlagen sein werde. Schließlich standen jetzt ja auch noch die besten Spieler der DDR zur Verfügung. Deutschland war ganz oben. Und deshalb erst recht nicht bereit, sich mit irgendwelchen internationalen Entwicklungen zu befassen.
Die totale Raumverknappung in der ballorientierten Raumdeckung, wie sie Arrigo Sacchi beim AC Milan Ende der 80er Jahre lehrte, brach dem deutschen Fußball schließlich das Genick. Die einzelnen Elemente waren nicht neu. Raumdeckung hatten schon die Brasilianer 1958 betrieben. Pressing hatten die Holländer in den 70ern praktiziert. Doch in dieser Konsequenz war beides nie gespielt worden.
Zebec findet keine Nachahmer
Und schon gar nicht in Deutschland, wo es gang und gäbe war, den Gegenspielern auf Schritt und Tritt zu folgen. Auch wenn, das soll nicht verschwiegen werden, Trainer wie Branko Zebec in den 70ern auch schon mit Pressing und Raumdeckung arbeiteten.
Wolfgang Frank, später Raumdeckungspionier als Trainer in Mainz, erinnert sich bei SPOX an seine aktive Zeit bei Eintracht Braunschweig: "Wir sind damals unter Zebec schon nicht stupide hinter unseren Gegenspielern hergelaufen." Aber Zebec war eine Ausnahme, wie Frank sagt: "Branko Zebec war seiner Zeit um Jahre voraus." Seine Methoden fanden hierzulande keine Nachahmer.
Nun, Anfang der 90er Jahre war es international üblich geworden, dass Fußballspiele nur noch in einem etwa 30 auf 40 Meter breiten Korridor stattfanden. Und genau diese Enge des Raums war es, die die deutschen Stärken negierte und die Defizite gnadenlos aufdeckte.
Raumgreifende Sprints mit Ball, wie sie Franz Beckenbauer in den 70ern und Lothar Matthäus in den 80ern und 90ern geboten hatten, waren ohne Manndeckung, wo ja jeder seinem Gegenspieler gefolgt war, plötzlich unmöglich geworden. Im Raum standen nun überall Gegner, die sich auf den ballführenden Mann stürzten.
"Damals hat sich die Spreu vom Weizen getrennt"
Der Spielgestalter traditioneller Prägung hatte in einer konsequenten Raumdeckung auch keine Zeit mehr, das Spiel seiner Mannschaft in Feldherrenmanier zu ordnen, weil ihn gleich mehrere Gegner attackierten. Und der wichtigste Punkt: Da eine ausgereifte Technik traditionell keine deutsche Kernkompetenz war, konnten sich die Spieler immer seltener aus bedrängten Situationen befreien.
Wer nicht in der Lage war, einen Pass vom Mitspieler sofort zu kontrollieren und präzise weiterzuspielen, der hatte in der neuen Fußballwelt keinen Platz mehr.
Als sich die Raumdeckung dann Ende der 90er Jahre auch in Deutschland durchsetzte, bedeutete das harte Zeiten für viele Spieler. Holger Stanislawski, heute Trainer, damals Spieler beim FC St. Pauli, erinnert sich im Gespräch mit SPOX: "Damals hat sich schon die Spreu vom Weizen getrennt. Wer mit dem neuen Anforderungsprofil im Fußball nicht zu Recht kam, der wurde durch die Ligen nach unten durchgereicht."
Umbruch von unten nach oben
Auf den strategisch wichtigen Positionen verpflichteten die Bundesligaklubs Ausländer, die schon Systemerfahrung hatten. Deshalb fehlt dem deutschen Fußball heute zum Beispiel mindestens eine Generation von Innenverteidigern.
Die junge Garde der deutschen Verteidiger (etwa die frisch gebackenen U-21-Europameister) dagegen hat nie etwas anderes als Raumdeckung und Viererkette kennen gelernt.
Der Umbruch begann von unten. Besonders der Württembergische Fußballverband trieb die Entwicklung in den frühen 90er Jahren nach vorne. Und vom Jugend- und Amateurbereich drang die Raumdeckung langsam in den Profifußball durch. Von unten nach oben.
Ungewohnte Taktiklektionen
So feierten Trainer wie Wolfgang Frank, Ralf Rangnick und Volker Finke ihre ersten Erfolge in der Zweiten Liga. Für ihre Spieler war der neue Fußball ein Schock. Christian Hock, zuletzt Trainer beim SV Wehen-Wiesbaden, früher in Mainz Spieler unter Wolfgang Frank, erinnert sich: "Ich bin bei Mainz zum ersten Mal überhaupt mit Taktik in Berührung gekommen. In meiner Zeit bei Borussia Mönchengladbach ist nie Taktik trainiert worden. Meine erste taktische Schulung erlebte ich unter Wolfgang Frank in Mainz."
Auch für den Mittelfeldspieler Hock begann eine neue Zeitrechung: "Wir mussten lange üben, um das System im Training einzustudieren. Es war total ungewohnt, weil man nun permanent Gegner und Ball im Auge haben musste."
Die große Fußballwelt tat sich weiterhin schwer mit dem neuen Trend. Exemplarisch dafür steht Ralf Rangnicks Auftritt im "Aktuellen Sportstudio" vom Dezember 1998 (satte zehn Jahre nach Sacchi!). Da erklärte er an einer Tafel die Viererkette und wurde dafür von Fußball-Deutschland verlacht.Sein Spitzname "Der Professor" stammt aus dieser Zeit und war natürlich abschätzig gemeint. Dass es im Fußball überhaupt etwas geben könnte, was man an einer Tafel erklären muss, erschien in Deutschland immer noch absurd.
Fußball, so das Klischee, ist schließlich ein einfaches Spiel für einfache Menschen. Und Taktik gefällt uns immer noch am besten, wenn sie nach der alten Beckenbauer-Methode verabreicht wird: "Geht's raus und spielt's Fußball."
Nie abschalten!
Und dieses Klischee lebt weiter. Als DFB-Taktikexperte Urs Siegenthaler zuletzt im Interview mit SPOX verkündete, dass man heute intelligente Spieler brauche, gab es in den Kommentaren sofort wieder User, die das anzweifelten. Dabei müsste jedem inzwischen klar sein, dass sich das Anforderungsprofil für Fußballer unwiderruflich geändert hat.
Holger Stansislawski, Lehrgangsbester beim letzten Fußballlehrerkurs des DFB, fasst es so zusammen: "Die Spielgeschwindigkeit ist deutlich gestiegen. Der Spieler braucht die Fähigkeit, sich über 90 Minuten zu konzentrieren. Deshalb muss auch der Körper fit sein, denn wenn die Fitness schwindet, leidet die Konzentration. Ich sage meinen Spielern immer: Ihr dürft nie abschalten, so lange der Ball im Spiel ist."
Stanislawskis Lehrgangsleiter Frank Wormuth ergänzt: "Vor der Taktik kommt aber noch die Technik."
20 Jahre Rückstand
Dass der deutsche Fußball in diesem (wichtigsten) Bereich Fortschritte gemacht hat, beweist ein Interview, das U-21-Bundestrainer Horst Hrubesch kurz vor der EM gab. Hrubesch stellte fest, dass er früher mit den Nachwuchsspielern vor einem Turnier Technik trainieren musste. Mittlerweile sind die Spieler in diesem Bereich so gut ausgebildet, dass er Taktik trainieren könne. Stanislawski erinnert sich: "Als ich Jugendnationalspieler war, da haben wir im Verein nur zwei Mal pro Woche trainiert. Das sieht heute ganz anders aus."
Deutschland hat also aufgeholt im internationalen Vergleich. Allerdings hinkte man der Entwicklung laut Rangnick auch 20 Jahre hinterher. Und während Deutschland aufgeholt hat, da waren die anderen ja auch nicht untätig.
Auf die Defensive kommt es an
Um eine Feststellung kommt man jedenfalls nicht herum: Die deutschen Nationalteams haben im internationalen Vergleich größere Fortschritte gemacht als die Vereinsmannschaften. Zwar spielen inzwischen alle Teams in Liga eins und zwei Raumdeckung (na gut, bis auf die Mannschaften, die Hans Meyer coacht), aber die Umsetzung ist doch noch sehr unterschiedlich.
Beispiel Borussia Dortmund: Sowohl unter Thomas Doll als auch unter dem neuen Trainer Jürgen Klopp spielt der BVB ein raumorientiertes Verschieben (Raumdeckung sagt man ja heute eigentlich nicht mehr). Unter Doll kassierte der BVB 62 Gegentore, bei Klopp waren es nur noch 37. Nur dass Klopp als Schüler von Wolfgang Frank die taktischen Laufwege und das Umschalten auf Defensive regelmäßig trainieren lässt.
Klopps früherer Mitspieler Hock: "Das Defensivverhalten muss man mindestens einmal pro Woche trainieren. Und den Spielern auch mit Videoausschnitten zeigen, was sie richtig und was sie falsch machen. Denn in der Defensive machen manchmal nur ein paar Zentimeter den Unterschied, ob man eine Lücke schließt oder nicht." Und genau die Nachhaltigkeit im Defensivtraining fehlte offenbar bei Doll. Wie bei vielen anderen Profitrainern auch.
Verteidigen à la Chelsea
Frank Wormuth erzählt eine Geschichte vom Champions League-Finalisten Manchester United: "Die waren auf einer Japanreise und hatten den ganzen Tag im Flieger verbracht. Direkt nach ihrer Ankunft ließ Alex Ferguson seine Jungs antreten und übte mit ihnen eine Stunde lang das Verschieben. Und keiner murrte."
In Deutschland ist so etwas schwer vorstellbar. So sollen in Leverkusen in der Vorsaison Spieler rebelliert haben, weil ihr (damals) neuer Trainer Bruno Labbadia mit ihnen in 90 Minuten-Einheiten Laufwege einstudieren wollte. Dabei ist genau das die Grundlage für erfolgreichen Fußball auf internationalem Niveau.
Hock: "Die Defensive ist die Voraussetzung, die Offensive dagegen Philosophiesache." Und Verteidigen können deutsche Klubmannschaften eben noch nicht auf Topniveau. Eine deutsche Mannschaft, die gegen den FC Barcelona so konsequent die Tür zumachen kann, wie der FC Chelsea im letzten Champions-League-Halbfinale, die gibt es nicht.
Und das liegt nicht nur daran, dass die Londoner mehr Geld haben. Die wurden nämlich auch seit Jahren im Defensivverhalten gedrillt. Man wird eben besser, je öfter man etwas übt. Im Fußball und in eigentlich jeder anderen Lebenslage auch.
Klinsmann ging den falschen Weg
Genau das wäre es auch gewesen, was Jürgen Klinsmann mit dem FC Bayern hätte schaffen müssen: das Einstudieren eines konsequenten Defensivverhaltens. Als Grundlage, um im nächsten Schritt offensive Verbesserungen einzuführen.
Dass er genau das nicht geschafft hat, weil er das Pferd in der falschen Richtung aufzäumen und erst die Offensive stärken wollte, das hat ihn am Ende den Job gekostet.
Wohin führt der Weg? Was bringt die Zukunft? Im achten und letzten Teil der Themenwoche schauen wir am Montag in die Glaskugel und sehen den Fußball von morgen...