Die Türkei stellt bei der Europameisterschaft die jüngste Mannschaft und den ältesten Trainer. Eine Kombination, die funktioniert - auch wenn Nationalcoach Senol Günes ein unfassbarer Kontrollfreak ist, der es sogar auf türkische Autofahrer in Deutschland abgesehen hat.
Er kann ja auch anders. Plötzlich gab es schallendes Gelächter im Saal und Senol Günes hatte die seltene Ehre, die Menschen in seiner Umgebung zum Lachen zu bringen. Soeben verlängerte der türkische Fußballverband auf einer Pressekonferenz den Vertrag mit einem Hauptsponsor, einem Autohersteller. Zur Feier des Tages überreichte der Abgesandte des Sponsors dem Nationaltrainer der Türkei einen Spielzeugbus als Andenken. Günes grinste und sagte: "Das war ein Kindheitstraum, ich wollte schon immer einen Bus haben. Jetzt ist es endlich so weit."
Busse und Günes. Das ist tatsächlich eine interessante Verbindung. Als Trainer von Trabzonspor diktierte er mal dem langjährigen und altgedienten Busfahrer, welche Route er auf dem Weg zum Stadion nehmen soll. Der Busfahrer war allerdings irritiert. Zum einen kannte er den Weg, zum anderen wurde er von einer Polizei-Eskorte begleitet und musste den Beamten Folge leisten. Aber Günes ging das alles zu langsam und er griff ein. Augenzeugen berichten, dass es danach tatsächlich schneller voranging.
Für Günes-Kenner ist die Geschichte nicht sonderlich überraschend. Der 69 Jahre alte Fußball-Lehrer ist der Prototyp eines Kontrollfreaks. Delegation ist etwas für Anfänger, findet Günes. Wenn er Einfluss nehmen kann, dann tut er das auch. Just vor der EURO 2020 musste der langjährige Pressesprecher der Nationalmannschaft, der unzählige Nationaltrainer überlebte und international ein hohes Standing unter Kollegen genießt, intern versetzt werden, weil Günes lieber einen alten Bekannten an seiner Seite hat.
Wobei Günes eigentlich auch Pressesprecher ist. Bei Pressekonferenzen ruft Günes gerne selbst die Fragensteller auf. Als man seit Ausbruch der Pandemie vornehmlich über Zoom kommuniziert, liefert Günes gerne auch mal technische Unterstützung, wenn ein älterer Reporter nicht weiß, welchen Knopf man drücken muss, um das Mikro einzuschalten.
spoxSenol Günes: "Meine Eltern konnten nicht lesen und schreiben"
Die Gier nach der Weitergabe von Wissen kommt nicht von ungefähr. Als Günes noch ein erfolgreicher Fußballprofi von Trabzonspor war, arbeitete er zeitgleich als Lehrer. Erst als Geografie- und Geschichtslehrer an einem Institut in Trabzon, später vier Jahre lang als Klassenlehrer in einer Mittelschule in einer Dorfschule. Die Strapazen machten ihm nichts aus.
"Ich war zwei Mal die Woche an der Schule, manchmal hatte ich Training und Schule am gleichen Tag und musste schnell hin und her fahren." Warum ein angesehener Profi, der damals gut verdiente, Nationalspieler war und jedem bekannt war, noch einen Nebenjob haben muss? Günes überlegt lange, wenn ihm diese Fragen gestellt werden.
Denn die Antwort ist in seiner Lebensgeschichte versteckt. "Meine Eltern konnten nicht lesen und schreiben", erzählt er. Die Familie kam aus bescheidenen Verhältnissen, Geld gab es nicht viel, also begann er früh zu arbeiten, um der Familie zu helfen, und gleichzeitig zur Schule zu gehen. "Damals war es etwas Besonderes, zu studieren, denn dann bekam man einen ordentlichen Job. Als ich die Chance sah, Lehramt zu studieren, ergriff ich sie.
Der Fußball genoss damals noch nicht das Standing von heute. Günes' Vater war ganz und gar nicht überzeugt, ob es das Richtige für den Sohn ist, Fußball zu spielen. Doch Günes brachte es fertig, in allem, was er tat, erfolgreich zu werden. Er wurde einer der besten Torhüter des Landes, er half der Familie und er wurde ein praktizierender Lehrer.
Senol Günes: "Man muss Dinge hinterfragen"
Die Zeit als Lehrer ist ihm heute noch wichtig, denn sie half ihm später auch in seiner Trainer-Laufbahn: "Es gibt viele Parallelen zwischen beiden Jobs, denn du gibst Wissen weiter und gewissermaßen gibst du auch einen Weg vor."
Günes erzählt dann die Geschichte von einem Schüler, der im Geografie-Unterricht als einziger eine Frage beantworten konnte. "Er war nicht der Klassenbeste, er hatte nicht mal gute Noten. Aber warum war er der Einzige? Ich recherchierte und fand heraus, dass er in schwierigen Verhältnissen lebte. Er war sehr intelligent, aber sein Umfeld stand ihm im Weg, Erfolg zu haben und auch gute soziale Kontakte zu knüpfen."
Für Günes ist das auch ein Problem im türkischen Fußball: "Talent alleine reicht nicht. Das Umfeld muss stimmen, man muss charakterlich stark sein, man muss selbstbewusst sein, um eigene Entscheidungen zu treffen. Man muss Dinge hinterfragen."
imago imagesKleine Oase in einem teils chaotischen Fußball-Land
Wenn Günes über die Probleme des türkischen Fußballs spricht, sieht er sie nie im Fußball begründet. Vielmehr verweist er auf falsche Entwicklungen in den Verhaltensweisen, in der pädagogischen Erziehung junger Türken. Und das über die Grenzen hinweg: "Schauen Sie sich doch mal die Türken in Deutschland an", sagte Günes im Socrates Magazin: "Fahren sie in Deutschland so ihre Autos wie sie es in der Türkei machen? Nein! Und warum? Weil es in Deutschland bestraft wird. Wir sind in der Türkei schuld an dieser Entwicklung. Wenn einer den Sicherheitsstreifen befährt, weil Stau ist, sagst du dir irgendwann: 'Ach, dann mache ich das auch.'"
Dass Günes trotz all der Widrigkeiten, die nicht nur den Fußball betreffen, mit der aktuellen Nationalmannschaft der Türkei Erfolg hat, beispielsweise die EM-Qualifikation mit nur drei Gegentoren beendete und gegen Weltmeister Frankreich vier Punkte in zwei Spielen holte, spricht für ihn. Günes schaffte eine kleine Oase in einem teils chaotischen Fußball-Land. Mit eigenen Regeln, mit eigenen Grenzen und pädagogischen Ansätzen, die auch von den Spielern angenommen werden. Die Türkei stellt den jüngsten Kader und den ältesten Trainer bei der EM - eine Kombination, die funktioniert.
Dass Günes ein Kontrollfreak ist, stört die Spieler nicht. Ganz im Gegenteil. Viele Spieler holten sich über die Nationalmannschaft das nötige Selbstvertrauen, um in ihrem Klub eine bessere Entwicklung zu nehmen. Wie Kenan Karaman, der als Zweitliga-Profi von Fortuna Düsseldorf in der Nationalmannschaft gesetzt ist. Wie Ozan Tufan, der lange umstritten war, aber dank seiner Leistungen in der Nationalmannschaft nun auch bei Fenerbahce einer der Führungsspieler ist. Setzt die Türkei den Erfolg auch bei der EM fort, gibt es für Günes vielleicht sogar bald einen echten Bus als Geschenk.
EM 2021: Gruppen in der Übersicht
Gruppe A | Gruppe B | Gruppe C | Gruppe D | Gruppe E | Gruppe F |
Italien | Belgien | Österreich | Kroatien | Polen | Frankreich |
Schweiz | Dänemark | Niederlande | Tschechien | Spanien | Deutschland |
Türkei | Finnland | Ukraine | England | Schweden | Portugal |
Wales | Russland | Nordmazedonien | Schottland | Slowakei | Ungarn |