NBA

Endlich wieder Titelträume

Von Martin Gödderz
Tom Thibodeau war von 2007-2010 als Assistenztrainer der Boston Celtics tätig
© Getty

Der ganze große Wurf wollte nicht gelingen, trotzdem sind die Chicago Bulls einer der absoluten Gewinner der Offseason. Mit neuem Coach und einem auf nahezu jeder Position verbesserten Team plant man den Angriff auf die Spitze - und ist dabei gerade einmal am Anfang der Entwicklung.

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Es sind noch 10 Sekunden zu spielen. Es geht um nicht weniger als den Titel. Die Utah Jazz führen mit 86:85. Der beste Spieler der Chicago Bulls hat den Ball. Er hatte ihn kurz zuvor von Karl Malone gestohlen.

Michael Jordan zieht von links in Richtung Korb, sein Gegenspieler Bryon Russell, der wohl beste Perimeter-Verteidiger der Jazz, klebt an ihm wie eine Klette. Schneller Crossover von His Airness. Russell rutscht aus. Mit 5,2 Sekunden auf der Uhr nimmt Jordan den offenen Wurf aus sechs Metern Entfernung. Und trifft! Natürlich trifft er. Es ist Jordan.

Dieser Wurf entschied die NBA-Finals 1998. Es war der sechste Triumph der Chicago Bulls in der Jordan-Ära und es war gleichzeitig der letzte.

Der Wurf, den Gegenspieler Bryron Russell später als "das größte Play in der Basketball-Geschichte" bezeichnete, war auch der letzte von Jordan im Trikot der Bulls. Mit Jordans Rücktritt verließen auch Dennis Rodman, Scottie Pippen und Phil Jackson Chicago.

Jordans Erben kommen nicht

Danach fiel die dominierende Franchise der 90er-Jahre in ein tiefes Loch, verpasste sechs Jahre am Stück die Playoffs und spielte bis heute keine Rolle mehr in der Titelvergabe. Dies könnte sich schon bald wieder ändern. Seit dem Ende der Jordan-Ära war die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht mehr so groß.

Als LeBron James in einer groß inszenierten Show seine Entscheidung bekanntgab, dass er nach Miami wechseln würde, war die Enttäuschung in Chicago zunächst groß.

Alles hatten die Bulls in die Hand genommen, um James und am besten noch dessen Kumpel Dwyane Wade in die Windy City zu bringen. Jordans Erben. Aus diesem Vorhaben wurde nichts, die weitere Geschichte ist bekannt.

Doch die Verantwortlichen in Chicago steckten den Kopf nicht in den Sand und verstärkten das Team vor allen Dingen in der Breite. Alle Verpflichtungen des Sommers ergaben Sinn und beseitigten Schwachstellen im Roster, so dass die Chicago Bulls als deutlich verbessertes Team in die neue Saison starten.

Königstransfer Boozer

Königstransfer des Sommers ist zweifellos Carlos Boozer. Der Power Forward, der in der letzten Saison noch in den Diensten der Utah Jazz stand, war im Sommer ebenfalls als Free Agent auf dem Markt und unterschrieb einen Fünfjahresvertrag in Chicago. Der in Aschaffenburg geborene Big Man bringt die dringend benötigte Präsenz im offensiven Low-Post und ist als Waffe mit dem Rücken zum Korb Gold wert.

Die größte Schwäche des 28-Jährige, die Verletzungsanfälligkeit, offenbarte sich aber schon, bevor die Preseason überhaupt angefangen hatte. Mit einem Handbruch fällt Boozer acht Wochen aus und wird damit auch zum Saisonstart fehlen.

BLOG Die Chicago Bulls in der Analyse

Eine Botschaft, die die Bulls zwar trifft, jedoch nicht aus der Bahn wirft. Schließlich wird das Frontcourt-Duo Noah/Boozer auch noch nach dessen Heilung genug Zeit haben, um sich einzuspielen. Nach den Statistiken der letzten Saison kamen die beiden zusammen auf mehr als 22 Rebounds pro Spiel.

Vertreten wird Boozer von Taj Gibson, der in der letzten Saison als Rookie bereits in 70 Spielen startete. Der 26. Pick des Drafts 2009 spielte sich mit einer vorbildlichen Einstellung und robuster Defense ins Team der Bulls.

Die neue Generation

Sowieso ist der 25-Jährige einer aus der neuen Bulls-Generation, die schon in den letzten beiden Jahren auf sich aufmerksam machte. Angeführt von Derrick Rose, dem Nummer-eins-Pick von 2008 und Center Joakim Noah lieferten sich die Bulls in den Playoffs 2009 eine der legendärsten Erstrunden-Schlachten der NBA, als sie sich erst im siebten Spiel den Boston Celtics geschlagen geben mussten. Die hervorragende Einstellung und die beeindruckende kämpferische Leistung des jungen Teams kamen gut an bei den treuen Fans.

Viel erwarten dürfen die auch wieder von Luol Deng, der in den letzten Jahren häufiger mit Verletzungen zu kämpfen hatte, völlig fit aber zu den besseren Small Forwards der Liga zählt. Das geriet in letzter Zeit arg in Vergessenheit.

In der neu formierten Offense von Coach Thibodeau will Deng nun wieder angreifen: "Ich denke mein Spiel wird wieder ganz anders aussehen. Die Art und Weise, wie wir jetzt spielen, baut auf viel Bewegung auf. Und das wird uns allen helfen."

Kollege Joakim Noah traut dem Briten jedenfalls einiges zu: "Lu ist einer, der bisher wenig beachtet wurde. Aber er ist sehr motiviert und trainiert hart. Ich denke, das neue System wird ihm definitiv helfen."

Rekordschütze als Neuzugang

Neben Carlos Boozer bekamen Rose, Noah und Co. jede Menge ausgezeichnete Rollenspieler zur Seite gestellt. Ronnie Brewer bringt als voraussichtlicher Starter auf der Position des Shooting Guards die benötigte Flügelverteidigung und wird es mit seinen langen Armen selbst den besseren Guards der NBA schwer machen.

Schüsse von Downtown sollten die Bulls, die in der letzten Saison die zweitwenigsten Dreier-Versuche nach den Memphis Grizzlies abfeuerten, aber auch von Brewer nicht erwarten.

Dafür holten die Verantwortlichen vielmehr Kyle Korver, den besten Dreierschützen der Liga, der in der letzten Saison bei den Utah Jazz mit einer Quote von 53,6 Prozent aus der Distanz einen neuen Ligarekord aufstellte. Mit seiner enormen Treffsicherheit aus dem Feld schafft er mehr Platz für Derrick Rose und erleichtert diesem die Penetration.

Ein neues Maskottchen kommt

Der Point Guard stimmte auch gleich ein Loblied auf den Neuzugang an: "Ich liebe es, mit Kyle zu spielen. Er wirft den Ball, ganz egal was passiert. Das ist genau der Typ Spieler, den ich mag. Er hat einfach Vertrauen in seinen Wurf."

Tatsächlich eröffnet Korver den Bulls ganz neue Möglichkeiten. Auch der Flügelspieler selbst freut sich über seine große Rolle im Bulls-System: "So viele Spielzüge liefen schon lange nicht mehr über mich. Ich liebe das. Man kommt einfach in einen guten Rhythmus und will immer so weitermachen."

Dazu kamen mit C.J. Watson (Sign-and-Trade aus Golden State) und Keith Bogans (2 Jahre, 3,2 Millionen) zwei Guards zur Verbreiterung des Backcourts.

Mit Kurt Thomas (Low-Post-Defense) und Ömer Asik (Rebounds, Potenzial) wurde auch der Frontcourt sinnvoll verstärkt. Außerdem kam Brian Scalabrine als Maskottchen gemeinsam mit Coach Tom Thibodeau aus Boston.

Das entscheidende Puzzleteilchen

Der neue Trainer Tom Thibodeau könnte der entscheidende Faktor beim Aufbau eines neuen Spitzenteams sein. Der Ex-Celtic gilt als defensives Superhirn, das für die ausgezeichnete Bostoner Defensive der letzten Jahre verantwortlich zeichnete.

Die Chicago Bulls sind dessen erste Station als Headcoach. Dabei muss er beweisen, dass er auch ein ganzes Team leiten kann, was ihm die meisten Experten allerdings bedenkenlos zutrauen.

Seine Philosophie in der Defensive baut vor allem auf einer klaren Idee auf: Die Zone muss dicht gemacht werden! Thibodeaus Teams rotieren viel, helfen aus, wann immer ein Kollege von seinem Gegenspieler geschlagen wird.

Dass dabei hier und da ein offener Distanzwurf für das andere Team herausspringt, nimmt Thibodeua in Kauf. So lange er keine einfachen Korbleger oder Dunkings sehen muss.

Immer noch Platz unterm Salary Cap

Dass dieses Rezept meisterschaftstauglich ist, bewiesen die Celtics 2008 mit dem Gewinn des Titels und um ein Haar 2010 erneut. Ob Chicago deshalb schon in diesem Jahr enrsthaft nach den Sternen greift, muss man allerdings abwarten.

Da Chicago mit Kirk Hinrich, Brad Miller und Hakim Warrick dicke Verträge abgab, ist noch immer mächtig Platz unter dem Salary Cap, so dass auch nach der Vertragsverlängerung von Noah (5 Jahre, 60 Millionen Dollar) noch ein hochkarätiger Free Agent vom Schlage eines Carmelo Anthony im nächsten Sommer verpflichtet werden kann.

Weil der Kader noch nicht endgültig fertig ist, scheinen Teams wie die Miami Heat, Boston Celtics oder Los Angeles Lakers noch ein Stück entfernt zu sein. Doch der Sprung in die NBA-Elite steht kurz bevor.

Der komplette Spielplan der Chicago Bulls