"Mit diesem Druck konnte ich nicht umgehen"

Paris 1989: Michael Chang ist noch immer jüngster Grand-Slam-Champion aller Zeiten
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Michael Chang gewann 1989 mit nur 17 Jahren die French Open gegen Stefan Edberg. Es blieb sein einziger Major-Titel, doch noch immer ist der US-Amerikaner jüngster Grand-Slam-Champion der ATP-Tour (LIVE auf DAZN). Dabei stand Chang im legendären Achtelfinale gegen Ivan Lendl bereits mit dem Rücken zur Wand. Im Interview spricht der 44-Jährige über das Match seines Lebens, seinen Glauben und Gegner wie Boris Becker.

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SPOX: Michael Chang, wir müssen mit den berühmten French Open 1989 beginnen. Daran denkt man natürlich zuerst, wenn man Ihren Namen hört. Wobei: Sie dürften es ja eigentlich leid sein, darüber zu sprechen.

Michael Chang: Nein, das ist schon okay. Ich habe ja auch sehr schöne Erinnerungen daran, vor allem wenn ich wieder nach Paris komme. Paris ist deswegen immer ein ganz besonderer Ort. Was auch immer ich in meiner Karriere noch erreicht hätte, die Leute würden immer wieder zu diesen French Open zurückkehren, weil sie einzigartig waren. Deshalb ist das kein Problem für mich.

SPOX: Na dann! Sie lagen im Achtelfinale gegen Ivan Lendl 0:2 in den Sätzen zurück, das war noch vor dem berühmten Aufschlag von unten. Wie haben Sie das Match überhaupt drehen können?

Chang: Um ehrlich zu sein: Ich bin mir nicht sicher. Ich habe eigentlich ganz gut angefangen, Ivan war in den ersten beiden Sätzen einfach besser als ich. Dann fand ich in einen noch besseren Rhythmus und konnte mir den dritten und vierten Satz jeweils für mich entscheiden. Aber dann, am Ende des vierten Satzes, gingen die Krämpfe los. Und das stellte mich vor große Probleme. Es war ohnehin ein körperlich sehr herausforderndes Match, mit fast vier Stunden und 39 Minuten dazu auch noch sehr lang. Es hat mir alles abverlangt. Wenn man mich fragt, wie ich das Match letzten Endes gewinnen konnte, dann kann ich das nicht wirklich erklären.

SPOX: Waren Sie kurz davor aufzugeben, als die Krämpfe kamen? Einfach aufzuhören und zu sagen: Ich kann nicht mehr?

Chang: Ich war in der Tat sehr kurz davor. Beim Stand von 2:1 im fünften Satz ging ich beim Seitenwechsel zum Stuhlschiedsrichter, meine Krämpfe wurden immer schlimmer. Da kamen die Gedanken in mir hoch: "Was macht das schon für einen Unterschied, ob ich jetzt aufgebe oder in fünf Sätzen verliere? Das ist doch einerlei. Aber wenn ich jetzt aufgebe, dann kann ich zumindest in die Kabine gehen und mich behandeln lassen, vielleicht werde ich die Krämpfe dann schneller los." Ich sagte zu mir: Ist doch eigentlich gar kein schlechter Tag. Ich habe viel geleistet, vielleicht schreibt die Presse ein paar nette Dinge über mich. Und die anderen Spieler werden sagen: "Wow, toll gemacht, du hast die Nummer eins der Welt in einen fünften Satz gezwungen." Alles in allem also gar nicht so übel.

SPOX: Was hat Sie von einer Aufgabe letztlich abgehalten?

Chang: Als ich zum Stuhlschiedsrichter lief, schenkte mir Gott eine unglaubliche innere Überzeugung. Diese Überzeugung war: Hey, wenn ich jetzt aufgebe, werde ich beim zweiten, dritten, vierten und fünften Mal, wenn ich in einer solchen Lage bin, wieder aufgeben. Ob nun auf dem Tennisplatz oder sonst in meinem Leben. Soll ich wirklich dafür bekannt werden, auch unter meinen Kollegen? Und das sollte mich auf keinen Fall definieren. Also dachte ich mir: Okay, dein Job in diesem Moment ist es nicht, über Sieg oder Niederlage nachzudenken. Sondern dein ganzes Ziel muss es jetzt sein, dieses Match zu beenden.

SPOX: Und dann kam der ikonische Aufschlag von unten. Haben Sie das öfter gemacht?

Chang: Ich habe genau einmal in meiner Karriere von unten aufgeschlagen, und das war gegen Ivan bei den French Open. Ich hatte große Probleme, meinen Aufschlag zu halten, schließlich konnte ich wegen der Krämpfe nicht zu meinem normalen ersten Aufschlag hochgehen. Deshalb war mein erster Aufschlag in dieser Phase vielleicht 110 km/h schnell, was ja eigentlich schon ein sehr langsamer zweiter Aufschlag ist. So war es sogar leichter, ihn zu breaken, als meinen Aufschlag zu halten. Ich war dann auch ein Break vor, 4-3 und 15:30. Aber ich wusste: Ich werde meinen Aufschlag verlieren, wenn ich nichts ändere.

SPOX: Und dann?

Chang: Ich dachte in diesem Moment gar nicht lange nach, sondern schlug kurzentschlossen von unten auf, mit viel Sidespin. Einfach nur um zu sehen, was passiert. Weil das immer noch besser war als das, was ich zuvor serviert hatte. Ivan wurde davon vollkommen überrascht, und der Ball war so kurz, dass er nach vorn kommen musste. Und ich schlug einen Passierball, der zuerst die Netzkante und dann seinen Schläger streifte. Plötzlich war das Match nicht nur eine physische, sondern auch eine mentale Schlacht.

SPOX: Wie reagierte Lendl?

Chang: Man sieht, wie er sich nach diesem Punkt an die Schläfe tippte. Auch er wusste: Das ist jetzt eine mentale Angelegenheit. Ich konnte meinen Aufschlag halten, schlug ein paar unglaubliche Rückhände die Linie runter und hatte dann bei 15:40 zwei Matchbälle. Nachdem er bei seinem ersten Aufschlag einen Fehler machte, schlich ich mich immer näher an die T-Linie heran, weil ich mir sagte: Ich habe zwei Matchbälle, ich kann genauso gut aufs Ganze gehen. Wenn ich nicht treffe, bleibt mir ein Matchball. Wenn ich treffe, ist das Match vorbei. Die Zuschauer wurden immer lauter, wahrscheinlich weil ich so nahe an der T-Linie war. Ivan hat daraufhin angefangen, mit dem Referee zu diskutieren: Die Zuschauer seien zu laut, er wollte einen neuen ersten Aufschlag. Aber der sagte nein. Und dann machte er einen Doppelfehler.

SPOX: Unglaublich.

Chang: Die letzten vier Matches in Paris spielte ich aus einer besonderen Inspiration heraus. Die Leute vergessen oft, dass sich zur gleichen Zeit die Situation am Tian'anmen-Platz abspielte. Die Niederschlagung des Aufstandes war am mittleren Sonntag der French Open - ein Tag vor dem Lendl-Match, glaube ich. Eine ganz besondere Ironie, da ich ja chinesischer Abstammung bin. Ich hatte das Gefühl dass Gott wollte, dass ich gewinne, um den Chinesen einen Grund zum Lächeln zu geben - in einer Zeit, in der es nicht viele Gründe dazu gab.

SPOX: Sie haben gesagt, dass die Zeit nach dem gewonnenen Finale gegen Stefan Edberg die "beste Zeit Ihres Lebens" war. Sie waren der jüngste Grand-Slam-Champion aller Zeiten, jünger noch als Boris Becker. Der sagte, dass sich sein Leben nach dem Wimbledon-Sieg über Nacht veränderte. Aber nicht immer zum Besseren. Wie war es bei Ihnen?

Chang: Ich stimme Boris zu. Das hat zwei Seiten. Es verändert sich zum Besseren, weil ja nicht viele von sich sagen können, dass sie einen Grand Slam gewonnen haben. Sehr gut zu sein und berühmt zu werden bietet ja sehr viel Positives und eröffnet eine Reihe von Möglichkeiten. Aber es hat auch negative Seiten: Man hat viel mehr Druck, die Erwartungen steigen, und viele Menschen nehmen deine Zeit in Anspruch. Das ist manchmal gut, manchmal aber auch nicht. Wenn man nicht so berühmt ist, ist es leichter zu wissen, wer deine Freunde sind. Aber wenn man berühmt ist, sind irgendwie alle deine Freunde. Das macht es schwer, Prioritäten zu setzen und eine Balance zu finden. Zu wissen, wem man vertrauen kann. Wenn Sie mich fragen, ob ich es irgendwie anders hätte haben wollen: Nein, wahrscheinlich nicht. Aber als Topspieler muss man eine Balance finden zwischen Matches, Training und auf der anderen Seite den ganzen Dingen, die um deine Zeit wetteifern. Das dauerte bei mir definitiv eine Weile.

SPOX: Hat es Sie als Mensch verändert?

Chang: Ich glaube nicht, dass es mich als Persönlichkeit verändert hat, aber meine Einstellung hat sich in gewissen Dingen zum Schlechten verändert. Ich hatte die French Open gewonnen und dachte, ich müsse jetzt alle anderen Turniere natürlich auch gewinnen. (lacht) Was natürlich eine ganz falsche Erwartungshaltung ist. Also setzte ich mich viel zu sehr unter Druck, und mit diesem Druck konnte ich nicht umgehen. Ganz ehrlich: Es hat wahrscheinlich ein Jahr gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte, in den Top Ten zu stehen und diese Berühmtheit zu sein, von der alle etwas wollen. Es gehört viel mehr dazu, einer der besten Spieler der Welt zu sein, als nur rauszugehen und gutes Tennis zu spielen.