Lisickis Lebenstraum (vorerst) geplatzt

Von Stefan Petri
Verließen den Centre Court nach dem Wimbledonfinale Arm in Arm: Marion Bartoli und Sabine Lisicki
© getty

Sabine Lisicki vergoss schon während des Wimbledonfinales erste Tränen der Enttäuschung. Zu einseitig verlief ihr erstes Grand-Slam-Endspiel gegen Marion Bartoli. Während die Französin bis zum Triumph cool und konzentriert blieb, spielten der Deutschen ihre Nerven einen Streich. Dennoch kehrte eine Stunde danach Lisickis Optimismus zurück.

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Als Marion Bartoli und Sabine Lisicki Arm in Arm den Centre Court verließen, da konnte die Unterlegene schon wieder ein bisschen lächeln. Ein wenig gequält vielleicht, das Gesicht noch feucht von den vielen Tränen, aber nicht mehr so ganz das Häufchen Elend, das nach der 81-Minuten-Abreibung eben noch auf ihrem Stuhl im Schatten der Siegerehrung gehockt hatte.

Der gemeinsame Walk off Court war eine große Geste der Siegerin, die sich gut daran erinnerte, wie sich solch eine herbe Niederlage anfühlt. "Ich glaube, wenn ich heute gegen mich vor sechs Jahren spielen müsste, würde ich wahrscheinlich recht locker gewinnen, weil ich einfach alles besser mache", hatte Bartoli vor dem Finale gesagt. Sie bezog sich explizit auf Schlaghärte und Beweglichkeit. Aber wer sie auf dem Court gegen Lisicki sah, der wusste, wie unschätzbar wertvoll die Erfahrung des verlorenen Finales 2007 gegen Venus Williams für die Französin gewesen sein musste. Damals verlor sie 4:6, 1:6 - und dieses Mal triumphierte sie 6:1 und 6:4.

Analyse: Aus der Traum! Lisicki unterliegt Bartoli

So war es keine Überraschung, dass sich die Siegerin, die auf dem Platz eine stoische Miene und das eine oder andere Mätzchen präsentiert, aber ohne Racket in der Hand einen entwaffnenden Charme aufblitzen lässt, mit warmen Worten an die Unterlegene wandte: "Ich war 2007 in genau der gleichen Situation", sagte sie vor der Siegerehrung. "Ich weiß, wie sich das anfühlt, Sabine, und ich bin sicher, dass du noch einmal im Finale stehen wirst. Kein Zweifel."

Lisicki: "Nicht bei 100 Prozent"

Überhaupt konnte sie im Vergleich zu Lisicki auf einen reichhaltigen Erfahrungsschatz zurückgreifen: Im 47. Anlauf gewann sie ihr erstes Major - Rekord. Nur vier Spielerinnen waren in der Open Era bei ihrem ersten Grand-Slam-Titel älter als die 28-Jährige. Bartoli war erst die sechste Wimbledonsiegerin, die ohne Satzverlust zum Titel spazierte. Und die Erste, die die Venus-Rosewater-Schale in Händen halten durfte, ohne eine Top-15-Spielerin aus dem Weg geräumt zu haben.

Reaktionen zum Finale: "Wir sind trotzdem krass stolz auf Dich!"

Auf der Pressekonferenz nach dem Match suchte Lisicki, mittlerweile wieder gefasst, nach Erklärungen für ihren schwachen Auftritt. "Ich fühlte mich nicht bei 100 Prozent", erklärte sie. "Ich glaube, dass Marion heute die Frischere war, das hat einen großen Unterschied gemacht." Die 23-Jährige hatte in der Tat in ihren sechs Matches zuvor länger auf dem Platz gestanden und bei den Matches gegen Williams oder Radwanska viel Energie verbraucht. Aber körperlich schien sie - bis auf die zitternden Hände - auf der Höhe.

Sie wird auch die psychische Erschöpfung gemeint haben, die Achterbahnfahrten im Achtel- und Halbfinale, die mentalen Hochs und Tiefs, die vielen schon zuvor vergossenen Tränen. Sabine Lisicki ist eine Kämpferin, eine, die sich von ihren Emotionen beflügeln und tragen lässt - und die sie an diesem Nachmittag so unsanft auf dem Boden der Tatsachen abstürzen ließen.

Pokerface gegen das Nervenbündel

Denn diese Emotionen kosten Kraft - und spenden sie wiederum der Gegnerin. "Wir sind gute Freunde und kennen uns schon lange", sagte sie auf der Pressekonferenz über ihre Beziehung zu Bartoli. Und Bartoli konnte aus ihrem Wissen um die Emotionalität Lisickis - die übrigens nicht bei allen Gegnerinnen gut ankommt, man erinnere sich nur an den Handshake mit Radwanska - Kapital schlagen. Durch ihr eigenes Pokerface bot sie der Deutschen, anders als etwa Serena Williams, keinerlei Angriffsfläche, konnte aber den Zustand Lisickis jederzeit haarklein an deren Gesicht ablesen und ihre Taktik dahingehend ausrichten.

Und Lisicki ist jemand, die sich dem Narrativ nicht entziehen kann - der "Geschichte", die sich nach großen Matches den Journalisten schon fast von selbst in die Notizbücher und Laptops diktiert: Deutsches Talent mischt Wimbledon auf, lernt nach einem Knöchelbruch 2011 wieder laufen, besiegt als krasse Außenseiterin Seriensiegerin Serena Williams auf dem Centre Court.

Lisicki liebt die Comeback-Storys: Wie oft wurde vor dem Finale rekapituliert, wie sie gegen Williams und Radwanska schon fast aussichtslos zurückgelegen hatte, nur um dann am Ende doch, allen Widerständen zum Trotz, die strahlende Siegerin zu sein. Mit den Gedanken daran zieht sie sich hoch, und hegte auch gegen Bartoli die leise Hoffnung, das schon verloren geglaubte Match noch zu drehen.

Lisickis "Es soll wohl nicht sein"-Lächeln

Aber diese Gedanken sind es auch, die ihr gegen Bartoli einen Streich spielten. Denn so wie sie sich daran hochziehen kann, so lässt sie sich andererseits auch davon runterziehen. Gegen Ende des ersten Satzes war ihr Gesicht zu einer Maske erstarrt, das Lächeln war verschwunden. Das tauchte zwar nach einer Power-Rückhand von Bartoli auf die Linie wieder auf, aber es handelte sich um ein resigniertes, verzweifeltes Lächeln.

Bei Novak Djokovic sieht man hin und wieder diesen Gesichtsausdruck, wenn sein Gegner einen unglaublichen Punkt für sich entscheidet. Aber beim besten Spieler der Welt ist es ein amüsiertes Grinsen, das zeigt, dass er sich der Herausforderung stellt und den Kampf annimmt. Bei Lisicki jedoch war es ein "Sie ist zu stark", um ein "Es soll wohl nicht sein"-Lächeln. Sie glaubte nach vier vergebenen Breakbällen im zweiten Spiel des zweiten Satzes nicht mehr an den Sieg - und der Gedanke an die Niederlage vervielfachte ihre Panik.

Es gibt Spieler, die sich aus sich selbst heraus pushen können. Lisicki kann das nicht, sie braucht einen spektakulären Ballwechsel, einen donnernden Applaus des Publikums, ein paar Asse.

Aber gegen Bartoli fehlte es daran. Als sie bei 1:3 dann den Spielball zum 2:3 per Doppelfehler vergab, hatte sie sich nicht mehr im Griff. Resultat: Sie schlug kurze Zeit später einen weiteren Doppelfehler, drückte völlig aufgelöst ihr Gesicht in die Saiten ihres Schlägers, konnte die Tränen aber nicht zurückhalten. Der Applaus der 15.000 Fans auf dem Centre Court war jetzt nur noch Mitleid.

"Marion hat das gut gemeistert"

Sie versuchte es mit lautstarkem Schimpfen in Richtung ihrer Box, mit "Komm jetzt" nach fast jedem Punkt durch den Aufschlag. Aber sie hatte den Kampf gegen sich selbst da schon verloren. "Ich war von der ganzen Situation überwältigt", erklärte sie mit zitternder Stimme nach dem Match. "Ich liebe Euch, ihr habt versucht, mir über meine Nervosität hinwegzuhelfen. Marion war schon einmal in dieser Situation und hat sie gut gemeistert." Eine treffende Analyse.

"Ich bin mir aber sicher, dass ich noch einmal die Chance bekommen werde, diesen Titel zu holen." Lisickis Optimismus, gepaart mit ein wenig Trotz, war nach dem Endspiel schnell zurück. Aber um solche Matches in Zukunft zu gewinnen, darf "Boom Boom Bine" ihre Emotionen erst nach dem letzten Ballwechsel zulassen. Das ist ihr im Wimbledon-Finale 2013 nicht gelungen.

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