Fliegen mit der Stoppuhr

Bis heute gilt Nurmi als erfolgreichster Leichtathlet bei Olympia
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Das menschliche Chronometer Paavo Nurmi war einer der dominantesten Läufer der Leichtathletik-Geschichte. Der Finne war Triumphator der Sonnenschlacht von Colombes und erlernte sein Rüstzeug als Wasserlieferant. Zeit seines Lebens von Selbstzweifeln geplagt, war er der erste Fliegende Finne der Sportwelt und wurde zur nationalen Ikone. SPOX stellt den Rekord-Olympioniken vor.

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Alle vier Jahre erlebt der Sport das größte Spektakel, das die Welt unter dem Banner der fünf Ringe zu bieten hat. Acht Sprintwunder in den Startlöchern und die Frage: welcher Mensch über 100 Meter der Überirdischste ist? Ein kurzer Moment atemloser Spannung. Der Kampf gegen die physikalischen Grenzen komprimiert in einem Zehn-Sekunden-Opus.

Um dieses Event herum brennen zahlreiche Mittel- und Langstreckendisziplinen einen zuweilen schauderhaften Kontrast in die olympischen Tartanbahnen. Quälende Minuten der mentalen und körperlichen Schinderei. Hässliche Grimassen, hängende Schultern, zermürbende Schritte. Doch ein Mann erhob selbst diese Strapazen zur Kunstform und schien unter den widrigsten Bedingungen fast zu fliegen.

Funktionieren bei 45 Grad

Es ist der 12. Juli 1924, als Paavo Nurmi zusammen mit 37 weiteren Läufern in Paris zum Querfeldeinlauf der achten Olympischen Spiele antritt. Bei Temperaturen von knapp 45 Grad ist an Leistungssport eigentlich nicht zu denken, doch der damals 27-jährige Finne blendet diese unmenschlichen Zustände rigoros aus. Er erlaubt seinem Körper keine Angriffsfläche, keine Schwäche. Zwei Tage zuvor hatte er bereits Historisches vollbracht und innerhalb einer Stunde die Goldmedaille über 1500 Meter und 5000 Meter geholt. Der Laufapparat muss einfach weiter funktionieren.

Funktionieren, darin sah Paavo Nurmi, geboren am 13.6.1897 im südfinnischen Turku, seine sportliche Bestimmung seit Hannes Kolehmann Finnland bei den Spielen 1912 mit drei Goldmedaillen "auf die Weltkarte lief". Nurmi war damals 15 und fasste als begeisterter Läufer den Entschluss, dieses Erbe irgendwann einmal fortzuführen.

Disziplin als Schlüssel

Dabei wurde dem kleinen Paavo vehemente Disziplin in die Wiege gelegt. Die Nurmis waren bettelarm und die meisten Mahlzeiten bestanden bei der Zimmermannsfamilie aus Schwarzbrot und getrocknetem Fisch. Die Schule der fünf Kinder lag mehrere Kilometer entfernt und konnte im Winter nur per Ski erreicht werden. Daneben musste der Nachwuchs früh einen Weg finden, um die Familienkasse zu unterstützen. Leerlauf war keine Option.

Nicht nur deshalb betrachte Vater Johan Frederik das Hobby seines Sohnes als "einen unnötigen Zeitvertreib". Aber der Kleine hatte große Pläne. "Meine Freunde und ich begannen mit einem extrem harten Trainingsprogramm", erinnerte sich Paavo. Jeder Tag war eine neue Herausforderung für den Jungen: "Langläufe, meistens querfeldein, machten wir drei bis viermal in der Woche. Zum Teil zehn Kilometer weit. Normalerweise war der Trainer ein älterer Junge."

Wasser liefern und trainieren

Bereits mit 13 Jahren verlor der junge Nurmi seinen Vater und musste nun als ältester Sohn der Familie einen noch größeren Beitrag zum Unterhalt der Familie leisten. Dadurch war die herkömmliche Trainingsarbeit zwar eingeschränkt, allerdings erledigte er neben Holzarbeiten auch anstrengende Wasserlieferungen, die ihn täglich bis an den äußersten Rand seiner Heimatstadt führten. Darüber hinaus suchte das Ausnahmetalent - spätestens als er mit 17 seine Vereinskarriere startete - nach immer neuen Wegen, um sich zu verbessern.

Das finnische Laufwunder, das bereits mit elf Jahren die 1500 Meter in unter fünf Minuten lief, war einer der ersten Sportler, der systematische Trainingspläne erstellte: Er teilte sein Tage in Intervalle ein, probierte sich an anderen Sportarten, um neue Impulse für seinen Körper zu setzen. Auch Ernährung war früh ein Thema. Der Leichtathlet war jahrelang Vegetarier, verzichtete auf Kaffee, Tee oder Alkohol.

Die Stoppuhr als bester Freund

Im Mittelpunkt seines Schaffens stand allerdings die Arbeit mit der Stoppuhr. Sein Stillauf wurde immer mit der Uhr begleitet und machte ihn zu einem gewieften Taktiker, sein Zeitmanagement war legendär. Der einstige IOC-Präsident Avery Brundage wurde einmal gefragt, was ihm als erstes in den Sinn kommt, wenn er an Paavo Nurmi denkt: "Der mathematische Gebrauch von Zeit".

Ein ausgeprägtes Zeitgefühl wurde zu seinem sechsten Sinn - wie ein menschlicher Chronometer: "Wenn du gegen die Zeit läufst, brauchst du nicht zu sprinten. Die anderen können nicht mithalten, wenn das Tempo konstant schnell ist - bis ins Ziel", erklärte er einst seine Vorgehensweise.

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