Ein Killer, der keiner war

Ein typischer Tyson: Zerstörerisch im Infight, der Gegner chancenlos
© getty
Cookie-Einstellungen

"Buster Douglas hat Mike Tyson entzaubert"

Bis schließlich die wohl größte Überraschung der Box-Geschichte ansteht. Das Ergebnis einer Titelverteidigung in Tokio gegen Buster Douglas ist so klar, dass man in den meisten Casinos nicht einmal darauf wetten kann. Und so trainiert Tyson auch - wenn man es so nennen kann: "Ich glaube, das meiste Gewicht habe ich durch Sex mit den Ladies in Japan verloren. Lauftraining gab es vielleicht ein oder zweimal."

Douglas ist nach dem Tod seiner Mutter dagegen hochmotiviert und liefert den Fight seines Lebens, steckt sogar einen Niederschlag weg. Und auch Tyson muss einstecken. "Sie hatten nichts gegen die Schwellung, also füllten sie ein Kondom mit Eis und Wasser", erinnert sich Journalist Tim May im Playboy an den Kampf. "Etwas so Kurioses habe ich noch nie gesehen." In Runde zehn schickt Douglas den großen Tyson zu Boden - zum ersten Mal in dessen Karriere.

Wenn es nicht Douglas gewesen wäre, hätte ihn früher oder später jemand anders geschlagen, betont Tyson. "Ich habe einfach nicht genug an meinem Boxen gearbeitet." Auch wenn er sich den WM-Gürtel nach einer dreijährigen Gefängnisstrafe wegen Vergewaltigung - Tyson beteuert bis heute seine Unschuld - später zurückholen sollte: Ausgerechnet Donald Trump, Freund und Geschäftspartner von Don King, fasst es treffend zusammen: "Buster Douglas hat Mike Tyson entzaubert. Er hat ihm seine Aura geraubt."

"Ich habe einfach alles und jeden gehasst"

Und obwohl Tyson nach drei Jahren hinter Gittern topfit zurückkehrte und unter großem Jubel wieder Weltmeister wird, ist er danach einfach nicht mehr derselbe. Er ist nicht mehr unbesiegbar - und jeder weiß es. Schlimmer noch: Mehr und mehr schwindet seine Lust darauf, sich dem Boxzirkus auszusetzen, die Spielchen mitzuspielen, "Iron" Mike, der schlimmste Mensch des Planeten zu sein. "Dieser grausame Killer, vor dem alle Angst haben ... das bin ich nicht" gesteht er im Telegraph. "Ich wünschte, ich könnte das sein, aber ich bin es nicht. Ich bin ein verschüchterter, unsicherer kleiner Junge."

Und dieser kleine Junge in Tyson fängt an, wieder um sich zu schlagen. Verbale Attacken gegen Lennox Lewis ("Ich will sein Herz essen! Ich will seine Kinder auffressen!"). Der berühmte Biss in Evander Holyfields Ohr: "Ich habe einfach alles und jeden gehasst! Ich hasste mich selbst!" Es folgt die hässliche Abschiedstour so vieler großer Boxer, mit Niederlagen gegen früheres Fallobst. In seinem letzten Kampf im Juni 2005 bleibt er vor der siebten Runde einfach sitzen. Er kann nicht mehr. Er will nicht mehr.

Aus diesem Jahrzehnt bleiben am Ende neben schlechten Fights nur noch jede Menge Skandale. Alkohol, Drogen, Kämpfe mit Papparazzi. Eine zweite Scheidung. Finanzieller Bankrott. 2009 stirbt seine vierjährige Tochter Exodus bei einem tragischen Unfall. Er werde wohl nicht älter als 40, hat er einmal gesagt. Zu diesem Zeitpunkt hätte sich niemand gewundert.

Abschließen mit der Vergangenheit

Stattdessen erlebt man in den letzten Jahren einen anderen Tyson. Einen, der bemerkenswert offen mit den Fehlern in seiner Vergangenheit umgeht, viele Interviews gibt. Und mit seinem Dasein als "Iron" Mike abgeschlossen hat: "Ich habe mit meiner Vergangenheit ein für allemal Frieden geschlossen." Das Tier in ihm sei gebändigt.

Seinen Sport beobachtet er zwar noch aus der Ferne, doch in Erinnerungen schwelgt er nicht. "Ich hasse Boxen, weil es einen schlechten Menschen aus mir gemacht hat", gesteht er der Welt. "Als Boxer bist du ein egoistischer Eroberer, der niemand neben sich duldet." Stattdessen ist er heute mit früheren Kontrahenten gut befreundet - sogar mit Evander Holyfield, der ihm 2009 in einer Talkshow öffentlich vergibt.

An erster Stelle stehen heute acht Kinder, dazu seine dritte Ehefrau Kiki, die sein Leben organisiert. Und natürlich seine geliebten Tauben. Er ist aber kein neuer Mensch geworden, wie er freimütig bekennt. Das Verlangen nach Alkohol und Drogen etwa ist geblieben, Entziehungskuren und cleane Phasen wechseln sich mit Rückfällen ab. "Ich versuche nüchtern zu leben, weil ich weiß: Wenn ich das nicht tue, sterbe ich", sagt er 2013.

Einfach nur geliebt werden

Auch die Unsicherheit ist geblieben: "Ich bin sehr dankbar, dass ich eine Frau und Kinder habe, die mich lieben. Weil ich meistens denke, dass ich es überhaupt nicht wert bin, geliebt zu werden." In der Öffentlichkeit springt seine Pistolenkugel weiter von Projekt zu Projekt, mit einer eigenen Fernsehserie, einer Stiftung. Die Frage im Hinterkopf: Wo komme ich am besten an? Derzeit ist es die Schauspielerei, etwa die Hangover-Trilogie. "Andere finden mich komisch - dann bin ich wohl komisch", sagt er der GQ.

Er wird wohl noch mehr ausprobieren, in den nächsten 50 Jahren. Weiter auf der Suche nach Anerkennung, Respekt und Zuneigung. Dabei hat er sie längst sicher. Der wahre Mike Tyson, der mit seinen Dämonen offen umgeht, seine lustige Seite zeigt und seine Familie an erster Stelle hat, ist in den USA längst ein Publikumsliebling.

Mike Tyson: vom Saulus zum Paulus? Nicht ganz. Aber ein bisschen älter, ein bisschen weiser. Die Killermaschine im Ring brachte Geld, Ruhm und Ehrfurcht. Aber die ist längst K.o. gegangen.

Die Box-Weltmeister in der Übersicht

Inhalt:
Artikel und Videos zum Thema