Vergangenen Sommer hatte Harry Kane genug von der quälenden Titellosigkeit und all dem Gerede über den Kane-Fluch. Im Trikot von Tottenham Hotspur und der englischen Nationalmannschaft gewann er zwar regelmäßig individuelle Auszeichnungen, aber keinen einzigen Titel. Damit sollte es vorbei sein, also wechselte er im Alter von 30 Jahren für 100 Millionen Euro zur Titel-Garantie schlechthin, zum FC Bayern München. Elfmal in Folge deutscher Meister, zwischendurch auch gerne für einen Supercup oder einen Champions-League-Triumph gut.
Und dann? Bei Kanes erstem Einsatz verloren die Münchner den Supercup gegen RB Leipzig mit 0:3, später scheiterten sie im DFB-Pokal und ließen sich in der Bundesliga von Bayer Leverkusen deklassieren - sowohl in der Tabelle, als auch im direkten Duell. Was in dieser Saison noch bleibt, ist die Chance auf die größte aller Trophäen, die Champions League. Nach dem 2:2 im Hinspiel sind die Münchner beim Rückspiel gegen Real Madrid im Estadio Santiago Bernabéu am Mittwoch jedoch Außenseiter.
Der Wechsel zum FC Bayern bescherte Kane bisher nicht, was sich der Stürmer erhofft hatte: einen Titel. Umgekehrt sieht es ganz anders aus: Ein Jahr nach dem Abschied des langjährigen Stammstürmers Robert Lewandowski gab Kane dem FC Bayern genau das, was sich der Klub erwartet hatte: einen verlässlichen Torjäger. Generell erfüllt Kane seine Aufgabe bravourös, ein genauerer Blick auf die Statistiken wirft aber zumindest Fragen auf.
Harry Kane beim FC Bayern: Meiste Tore, meiste Minuten
In 44 Pflichtspielen gelangen Kane bisher 44 Tore, dazu noch elf Assists. Sowohl in der Champions League als auch in der Bundesliga führt er die Torschützenliste an. Bei der Jagd nach dem goldenen Schuh für Europas besten Torjäger dieser Saison liegt er uneinholbar vor Kylian Mbappé von Paris Saint-Germain in Führung.
Kane verpasste kein einziges Spiel verletzt, zur Schonung fehlte er lediglich bei den beiden Partien im DFB-Pokal. In der Bundesliga und in der Champions League wurde er nur sechsmal in der Schlussphase ausgewechselt. Seine 3849 Pflichtspielminuten in dieser Saison sind absoluter Bestwert beim FC Bayern, auf Platz zwei folgt Joshua Kimmich abgeschlagen mit 3233 Minuten.
Aufgrund zahlreicher Verletzungen und einer mangelhaften Kaderzusammenstellung muss Trainer Thomas Tuchel permanent taktisch und personell improvisieren, eine Spielweise mit Wiedererkennungswert entwickelte sich deshalb nicht. In dieser Gemengelage hängt umso mehr von Kane ab, als Sturmspitze einer der ganz wenigen Fixpunkte dieser Saison.
FC Bayern München: Die Abhängigkeit von Harry Kane
Mit seinen 44 Treffern erzielte Kane 38,3 Prozent aller 115 Bayern-Tore dieser Saison. Im Jahr zuvor waren die gefährlichsten Torjäger Serge Gnabry und Eric Maxim Choupo-Moting mit jeweils 17 Treffern für je 12,7 Prozent aller Bayern-Tore verantwortlich. Lewandowski erreichte seinen persönlichen Bestwert in seiner letzten Saison in München mit 35 Prozent.
Die Münchner sind in der aktuellen Saison also abhängiger von Kane, als sie es je von Lewandowski waren - und das, obwohl Lewandowski vor allem in seiner Endphase in München noch verlässlicher traf als Kane. Der Engländer steht aktuell bei einem Tor pro Spiel, das überbot Lewandowski in seinen drei letzten Bayern-Jahren teils deutlich.
Der Grund für den dennoch höheren Prozentsatz bei Kane? Der FC Bayern trifft mit dem neuen Torjäger insgesamt seltener als zuvor. In der aktuellen Saison kommen die Münchner im Schnitt auf 2,5 Tore pro Spiel. In den vergangenen vier Jahren waren es stets mehr, bisweilen sogar deutlich mehr. Sogar als in der vergangenen Torjäger-losen Saison permanent nach einem neuen Topstürmer geschrien wurde, erzielten die Münchner im Schnitt 2,7 Tore pro Spiel.
Gedeutet werden kann diese Diskrepanz so oder so. Man kann sie auf den bedachteren Tuchel-Fußball im Vergleich zur riskanteren Spielweise von Vorgänger Julian Nagelsmann sowie die bekannten Kader- und Verletzungsprobleme zurückführen. Womöglich sind die Münchner wegen Kane aber auch ausrechenbarer als zuvor.
Statistik-Vergleich: Der FC Bayern und seine Torjäger
Saison | Spiele | Tore | Tore/Spiel | Bester Torjäger | Anteil an allen Toren |
2019/20 | 52 | 159 | 3,1 | Lewandowski (55) | 34,6 Prozent |
2020/21 | 50 | 139 | 2,8 | Lewandowski (48) | 34,5 Prozent |
2021/22 | 47 | 143 | 3 | Lewandowski (50) | 35 Prozent |
2022/23 | 49 | 134 | 2,7 | Choupo-Moting und Gnabry (17) | 12,7 Prozent |
2023/24 | 46 | 115 | 2,5 | Kane (44) | 38,3 Prozent |
Kane baute im Laufe dieser Saison auf hohem Niveau übrigens ab: Bis zur Winterpause erzielte er im Schnitt 1,2 Tore pro Spiel, seitdem fiel der Wert auf (immer noch starke) 0,87 Tore. In den vergangenen sieben Pflichtspielen gelangen Kane zwar sechs Treffer, darunter aber nur einer aus dem Spiel heraus.
Für das Halbfinal-Rückspiel gegen Real ruhen die größten Hoffnungen der verletzungsgeplagten Münchner dennoch einmal mehr auf Kane. Mit einem Weiterkommen wäre der 30-jährige Engländer nur mehr einen Sieg von seinem langersehnten ersten Titel entfernt. Und wenn der FC Bayern ausscheidet? Dann soll der Fluch eben später gebrochen werden. "Ich bin hier für viele Jahre", sagte Kane neulich. "Es ist nicht nur ein Jahr, für das ich gekommen bin."