Maschine ohne Betriebsanweisung

Von Benedikt Treuer
Tiger Woods hat in seiner Karriere schon 14 Major-Siege eingefahren
© getty

Vor der PGA Championship in Whistling Straits ist Tiger Woods am Tiefpunkt seiner Karriere angelangt. Die desolaten Platzierungen der letzten Jahre sind das Ergebnis einer eingebrannten Mentalität, die ihren Tribut fordert. Die Kollegen sorgen sich, doch Woods weiß, woran er ist. Er braucht Lösungen - muss dazu aber einen Teufelskreis durchbrechen.

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Die Sonne wirft ihren letzten Schein gerade noch über den malerischen Zuschauerhügel im Hintergrund, während sich die Bäume ringsum grün im Wasser spiegeln. Ein paar Vögel zwitschern, Grillen zirpen - ansonsten ist es ruhig. Absolute Stille ob der Anspannung.

Es ist der 10. April 2005. Tiger Woods steht auf dem Vorgrün von Loch 16 beim Masters in Augusta und berät sich mit Caddy Steve Williams. Im Kampf um den Turniersieg hat der Weltbeste auf der Schlussrunde zwar noch einen Schlag Vorsprung auf Flightpartner Chris DiMarco, nach dem Abschlag auf dem Par 3 droht dem Tiger aber ein Schlagverlust.

Während DiMarco sicher auf dem Grün liegt, steht Woods nach seinem gepullten Abschlag vor einem schwierigen Chip ins Grün. Mehrfach läuft er umher, schaut sich das kurzgeschnittene Gras in jedem Detail an. Der Ball liegt genau an der Grenze vom Vorgrün zum Second Cut, was einen kontrollierten Pitch verhindert. Der Break? Quasi unmöglich zu berechnen.

Zwei Probeschwünge, sechs, sieben Blicke zum Loch. Dann geht Tiger zum Ball und chippt - acht Meter oberhalb der Fahne hält er an. Der Ball rollt zügig, aber perfekt dosiert in den Hang, sodass er die Kurve herunter zum Loch nimmt - so, wie Tiger es sich vorgestellt hat. In die Stille hinein platzen die ersten "Ooohs" und "Come on"-Rufe. Rechts, dann wieder links: Der Ball ist genau auf Kurs - und bleibt einen Millimeter vor dem Loch liegen. Drei Sekunden vergehen - dann fällt er doch!

Ein Schlag für die Ewigkeit?

"Oh wow! In your life have you seen anything like that?", schrie CBS-Kommentator Verne Lundquist förmlich in sein Mikrofon. Und in diesem Gänsehautmoment traf er die Emotionen der Zuschauer auf den Punkt.

Wenige Schläge später gewann Woods das Green Jacket zum vierten Mal. Und es war jener Schlag, der Golf-Fans bis heute in Erinnerung bleibt - neben zahlreichen weiteren grandiosen Momenten, die der einstige Weltbeste in seiner Karriere produzierte.

Doch Zeiten ändern sich: Würde Lundquist seine ekstatische Frage heute noch einmal stellen, müsste er sie ein wenig umformulieren: "Will we ever see anything like that again?", wäre wohl eher der passende Wortlaut. Denn Tiger Woods im Jahr 2015 hat nur noch wenig mit dem unfassbaren Dominator von vor einem Jahrzehnt zu tun.

Statistisch der Beste - damals

Statistisch ist der 39-Jährige immer noch das Nonplusultra des Golfsports: Im Schnitt gewann Woods jedes vierte Turnier, bei dem er in seiner Karriere startete (79 von 325) - eine Quote, die im so unvorhersehbaren Spiel mit dem kleinen weißen Ball schier übermenschlich erscheint. Mit 14 Major-Titeln ist er zudem in der ewigen Rangliste nach wie vor Zweiter hinter Jack Nicklaus (18).

Statistisch hat er in den letzten sechs Jahren bei 72 Turnieren aber auch nur noch achtmal gewonnen. Majors waren darunter keine. 2014 und 2015 stand er nicht ein einziges Mal ganz oben im Leaderboard. Nicht einmal in den Top Ten war der so klangvolle Name des Amerikaners wiederzufinden. Und schlimmer noch: Bei seinen vergangenen 16 Turnierstarts verpasste Tiger gleich sechsmal (!) den Cut.

Ein Höhepunkt der Tragik ist in diesem Jahr noch nicht auszumachen. Gleich mehrere Turniere bieten sich für den Spitzenplatz im Ranking der Negativ-Erlebnisse des verzweifelten Superstars an: Seine katastrophale 80er-Runde bei den US Open, der ebenfalls desolat verpasste Cut bei der Open Championship im Juli... Und dann war da noch das Memorial in Muirfield Village, als er auf dem Par-72-Kurs in der dritten Runde eine 85 schoss. 13 (dreizehn!) über Par - seine mit Abstand schlechteste Karriere-Runde.

Am darauffolgenden letzten Turniertag erlebte er zudem noch eine der größten Demütigungen seiner bisherigen Laufbahn: Als Letztplatzierter startete er am Sonntag als Erster. Da aber nur noch eine ungerade Anzahl von Spielern im Turnier war, spielte Woods die Runde alleine - ohne Flightpartner. Ein Bild mit größtmöglichem symbolischen Charakter.

Leiden - nicht nur auf dem Platz

Selbst das Finale des FedEx-Cups, für dessen Playoffs sich am Saisonende die besten 125 Spieler der Saison qualifizieren, droht Woods in diesem Jahr zu verpassen. Als 185. der Wertung braucht er in Whistling Straits eine Top-Platzierung, um die Chance auf eine Teilnahmeberechtigung zu wahren.

"Im Moment bin ich so weit weg, dass ich mich sehr weit oben platzieren müsste", sagte Woods in dieser Woche zu seinen Playoff-Aussichten. Nach der PGA Championship will er entscheiden, ob er beim nachfolgenden Turnier in Greensboro überhaupt noch antritt. Ansonsten findet das verhängnisvolle 2015 für ihn ein stark verfrühtes Ende - auf dem Platz jedenfalls.

Denn zu allem Überfluss hat Tiger neben seinem sportlichen Einbruch auch als Persönlichkeit gelitten. Seine privaten Negativschlagzeilen kosteten ihn große Popularität - bei den Fans genauso wie bei den Sponsoren. Und der verlorene Rückhalt ist ihm auf dem Platz längst anzusehen: Der Blick des Amerikaners sieht müde aus, das Haar wird lichter und erste Falten graben sich in sein Gesicht.

Da tut es durchaus gut, dass sich Lindsey Vonn noch hinter ihn stellt - trotz der Trennung Anfang Mai: "He will!", lautete zuletzt ihre bestimmte Antwort auf die Frage, ob Woods noch einmal ein PGA-Turnier gewinnen wird. Es ist dieser Zuspruch, den der niedergeschlagene Golfstar aktuell am meisten braucht.

Raubbau am eigenen Körper

Immer wieder hatte Woods in den letzten Monaten und Jahren mit physischen Problemen zu kämpfen. Vor allem sein Rücken zwang ihn zu mehreren Pausen, so auch in diesem Jahr. Zwischen Februar und April nahm er sich erneut eine Auszeit: "Mein Spiel und meine Ergebnisse sind für Turniergolf derzeit inakzeptabel", hieß es damals in dem Statement auf seiner Homepage.

Mit hartem Training hat der einstige Branchenprimus knapp zwei Jahrzehnte Raubbau an seinem Körper betrieben. Zu welchem Preis, hat er in den vergangenen Spielzeiten gemerkt. "Ich war nie der Talentierteste, der Größte, der Schnellste und schon gar nicht der Stärkste. Was mich so weit gebracht hat, war meine Arbeitsmoral", betont er immer wieder. Diese wichtige Eigenschaft nutzte ihm zuletzt aber nichts.

Sein Körper zollte dem Fleiß Tribut: 2008 riss sich Woods die rechte Achillessehne und unterzog sich einer Operation des vorderen linken Kreuzbandes. 2010 entzündete sich ein Gelenk im Nackenbereich, 2011 zerrte er sich die linke Achillessehne. Den linken Ellenbogen verletzte er sich 2013, die Rückenplagen begannen 2014, als ein eingeklemmter Rückennerv operiert werden musste. Woods musste aufpassen, nicht zum körperlichen Wrack zu verkommen.

Verlorene Konstanz im Schwung

Hinzu kommt, dass er über die Jahre immer wieder seinen Schwung verstellte. Mit jedem neuen Trainer sah man Woods in veränderter Ansprechposition - der Rückschwung wurde immer kürzer, dafür weniger dynamisch.

Während Tigers Schwung unter Butch Harmon (1993-2004) noch frei wirkte und der ganze Körper im Durchschwung explosiv mitdrehte, verringerte Hank Haney (2004 bis 2010) sowohl den Abstand zum Ball, als auch das ruckartige Mitschwingen der Hüfte. Sean Foley (2010 bis 2014) führte diesen Trend fort. Seit Chris Chomo erkennt man nun eine leichte Rückkehr zum einstigen Harmon-Schwung.

Jedoch: Jede Anpassung brauchte und braucht weiterhin Zeit. Mit zunehmendem Alter können selbst kleine Veränderungen über einen längeren Zeitraum noch großen Einfluss auf das Wohlbefinden des Golfers haben. Bei Woods war das offensichtlich der Fall, das gab er immer wieder zu.

Konsequenzen einer vorgeschriebenen Jugend

Hunter Mahan sagte kürzlich, sein Landsmann sehe auf dem Platz nicht danach aus, als hätte er noch sonderlich viel Spaß am Spiel. Ein Eindruck, den auch die Öffentlichkeit teilt. Ungeachtet des ausbleibenden Erfolgs ist das aber auch kein Wunder. Denn Tiger wurde im Kindesalter gezwungen, Golf zu lieben. Vater Earl, der für das amerikanische Militär arbeitete, drillte seinen Sohn schon im jungen Kindesalter auf dem Golfplatz.

Neben der Schule hatte der spätere Megastar kein soziales Leben. Er war ein Außenseiter, der zudem unter dem starken Rassismus der Zeit zu leiden hatte. Er erhielt den Spitznamen "Urkel", anlehnend an den tollpatschigen Charakter aus der amerikanischen Fernsehserie Alle unter einem Dach (orig.: Family Matters).

Joe Grohman, neben Earl eine der wichtigsten Bezugspersonen in Woods Kindheit, gab vor einigen Monaten zu: "Wir haben aus ihm eine Maschine gemacht, einen Roboter. Den menschlichen Aspekt haben wir aber vergessen zu schulen. Da hat er sich zu viel von uns abgeschaut und wir waren keine Engel. Ich fühle mich schuldig."

Die privaten Eskapaden wirkten sich auf Tigers Golf aus. Während die Maschine Woods zuvor fehlerlos getaktet schien, geriet sie ab 2009 heftig ins Stocken - immer wieder mit großen Rückschlägen.

Den Schlüssel zum Erfolg hat er seitdem nicht wiedergefunden. Ähnlich wie ein Haushaltsgerät, an dem man nach Jahren zuverlässiger Arbeit eine kleine Änderung vornimmt, die einen kompletten Funktionsausfall zur Folge hat. Nur, dass die Bedienungsanleitung fehlt, in der man die Lösung zum Problem nachschlagen kann.

Immer wieder kleine Lichtblicke

Nach wie vor besteht die Hoffnung, dass Woods den Glauben an die eigene Stärke mal wieder über ein ganzes Turnierwochenende zurückerlangt. Und sich so womöglich dauerhaft rehabilitiert.

Kleine Lichtblicke gibt es inmitten der großen Niederschläge immer wieder, zum Beispiel beim Quicken Loans National vor zwei Wochen, als Woods mit einem Gesamtergebnis von 8 unter Par auf dem geteilten 18. Platz landete. Zwar schoss er neben drei starken Runden erneut auch eine verheerende, jedoch zeigte er mal wieder, wozu er in der Lage ist.

"Ich habe eine schwere Zeit hinter mir. Das trifft sowohl auf meine Golfkarriere als auch auf mein Privatleben zu. Die letzten Jahre waren heftig. Mittlerweile habe ich mich wieder ein wenig beruhigt", bilanzierte er auf der Pressekonferenz des Turniers, um sich dann öffentlich weiter den Druck zu nehmen: "Ich habe noch viele Jahre vor mir. So betrachte ich die Situation. Ich schaue nicht nur auf diese Saison. Ich habe noch Jahre Zeit."

Eine Mentalität für die Ewigkeit

Die PGA Championship, das letzte Major des Jahres, beginnt Tiger Woods als 278. der Weltrangliste - schlechter war er zuletzt im September 1996 als 20-Jähriger. Kampfansagen gibt es von ihm längst keine mehr. Vor seinen Kontrahenten, die einst in Ehrfurcht erstarrten, wenn sie in einem Flight mit dem großen Tiger spielten, hat er mittlerweile riesigen Respekt. Fast schon Demut.

Nachdem ihn schon bei der Open Championship nur noch wenige Extrem-Optimisten auf dem Zettel hatten, zählt Woods bei der PGA Championship in dieser Woche wohl eher zu den Namen, über die man bei den Startzeiten kommentarlos hinwegliest - so, wie es für seinen Weltranglistenplatz eben üblich ist. Die Branchenführer heißen mittlerweile Rory McIlroy, Jordan Spieth oder Jason Day.

Die ganz großen Emotionen - wie früher, als er nach glorreichen Schlägen die Faust ballte und den adrenalingeladenen Körper anspannte - lässt Tiger auf dem Golfplatz nicht mehr zu. Die Mentalität aber ist die gleiche geblieben - ganz egal, wie tief das Tal ist, in dem er steckt: "Ich will auf den Platz gehen, ich will spielen, und ich will gewinnen." Das war schon immer sein Motto.

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