WM

WM 2018 in Russland - Tagebuch, Teil 2: Wie am Wasserloch in der Serengeti

SPOX-Reporter Stefan Petri berichtet von seinen Erfahrungen von der WM in Russland.
© getty

SPOX-Redakteur Stefan Petri ist bei der WM 2018 in Russland vor Ort und begleitet die DFB-Elf. Im zweiten Teil seines WM-Tagebuchs ist er mittlerweile in Sotschi angekommen. Außerdem berichtet er vom alltäglichen Wahnsinn aus der Mixed Zone und verrät, wie er Ordnung ins dortige Chaos bringen würde.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Es wird Zeit für ein Update meiner Russland-Reise. Mittlerweile bin ich Sotschi angekommen - und was soll ich sagen: Der Weg vom Flughafen zum Hotel war diesmal fast schon lächerlich einfach! Nur einmal in den falschen Bus gestiegen, dann in den richtigen, fünf Minuten gelaufen: Sie haben Ihr Ziel erreicht.

Okay, das "Hotel" nehme ich zurück. Wo meine in Moskau von der FIFA vermittelte Bleibe so aussah, als hätte Gazprom nicht gewusst wohin mit den Millionen, ist mein Zimmer hier eher "schnuckelig" geraten: Ich bin in einer Mischung aus Mini-Pension, Ferienhaus und Gästezimmer untergebracht. 10 Quadratmeter, mit laut summendem Kühlschrank, 15-Zoll-Röhrenfernseher und einem Lokus, in der man um Himmels Willen bitte kein Toilettenpapier versenken darf!!!

Okay, für fünf Tage ist das alles kein Problem, hab ich eben mehr von Russland gesehen. Außerdem ist der Strand nur ein paar hundert Meter weg, was ich natürlich noch genau auskundschaften werde. Oh, in diesem Moment macht mich der nächste Jumbo über meinem Kopf darauf aufmerksam, dass wir hier direkt in der Landeschneise des nur wenige Kilometer entfernten Flughafens platziert sind. Urig! Hab trotzdem geschlafen wie ein Baby - ätsch!

Das "Highlight" - Anführungszeichen sind hier sicherlich angebracht - war bisher selbstverständlich das Auftaktspiel der deutschen Mannschaft. Zum Auftritt auf dem Rasen ist eigentlich alles gesagt. Nur so viel, falls es im TV nicht rübergekommen ist: Nicht nur die DFB-Elf, auch die deutschen Fans wurden gehörig abgekocht. Schon vor dem Stadion waren die Sombreros den Lederhosen an Masse und Lautstärke deutlich überlegen, auf der Tribüne fühlte es sich wie ein Heimspiel El Tris an.

Gedanken zur Mixed Zone: Wasserloch in der Serengeti

Als wir von unseren Medienplätzen nach Abpfiff geschlossen in Richtung Mixed Zone marschierten - zumindest die mit einem goldenen Ticket, der Rest musste mit Pressekonferenz oder TV im Media Centre Vorlieb nehmen -, kam mir nicht zum ersten Mal in den Sinn, dass die Mixed an sich eigentlich völlig absurd ist.

Falls ihr euch nicht genau vorstellen könnt, wie es dort zugeht: Irgendwann nach Abpfiff wird der komplette Tross beider Mannschaften in den Katakomben auf dem Weg zum Bus an einer Absperrung oder einem "Police Line: Do not Cross"-Band vorbeigeschleust. Dahinter haben sich die Print- und Radiojournalisten in Grüppchen postiert, bewaffnet mit Smartphone, Diktiergerät oder in einzelnen Fällen sogar vorsintflutlichem, analogem Notizblock.

Nach und nach kommen die Spieler raus, frisch geduscht und entweder gut gelaunt oder im Falle einer Niederlage entsprechend lustlos. Während ein Marvin Plattenhardt erst nach 20 Metern überhaupt erkannt wird, geht es bei Müller, Hummels oder Kroos so zu wie vor dem Gerichtsgebäude eines schlechten Hollywoodfilms, nur ohne Blitzlicht: "Toni!" "Mats, ganz kurz?"

Die Protagonisten dürfen sich dann aussuchen, ob und wo sie kurz stehenbleiben. Bei einem Mesut Özil heißt das dieser Tage "gar nicht", der Rest guckt sich vielleicht die größte Meute aus oder den persönlichen Lieblingsjournalisten, keine Ahnung. Den größten Stars rollt die Welle natürlich hinterher: Jeder will ein paar saftige Zitate für den Nachdreh aufschnappen. Da geht es kuschelig zu wie im Linienbus zur Stoßzeit, durch jede Lücke wird schnell ein Aufnahmegerät gesteckt.

Die folgenden Fragen sind ein Thema für sich: Wie am Wasserloch in der Serengeti muss sich auch hier eine interne Rangordnung herausbilden, damit nicht jeder durcheinanderschreit. Da wir zur deren Klärung nicht vorher mit den entblößten Häuptern zusammenrasseln wollen wie eine Horde Gnus, sieht das ungefähr so aus:

  • Wer den Spieler dazu gebracht hat, stehenzubleiben, bekommt die erste Frage.
  • Alte Hasen > Junge Hüpfer.
  • Weiter vorn > weiter hinten.
  • Öffentlich-Rechtliche > Private
  • Kamerateams (wenn vorhanden) > Diktiergeräte.

Der entscheidende Moment ist aber immer das Ende einer jeden Antwort. Hier heißt es aufpassen wie ein Luchs und den richtigen Sekundenbruchteil abwarten - wer nämlich das Satzende am besten antizipiert hat und direkt loslegt, während der Superstar noch die letzte Silbe seines Statements heraushaucht, hat sich nolens volens das Recht auf die nächste Frage gesichert. Die muss gut überlegt sein.

"... bin überzeugt davon, dass wir beim nächsten Spiel besser si-"

"Woran hat's heute gelegen?"

Mixed-Zone-Anarchie: Wie in der großen Pause beim Bäcker

Das Sonnen im Neid der Kollegen ist aber nur von kurzer Dauer, schließlich weiß man nie, wie lange der Spieler spricht. Also beginnt das Lauern von neuem - Circle of Life und so.

Nach ungefähr drei bis fünf Fragen hat der Spieler dann die Schnauze voll und geht weiter, verfolgt von den Blicken der hinteren Reihen: Bleibt er ein paar Meter später noch einmal stehen, kommt man schließlich wunderbar hinterher. Die erste Reihe direkt am Gatter bleibt dagegen eher stehen, um den Standortvorteil beim nächsten Spieler zu nutzen: "Jerome, nur ein paar Fragen?"

Warum ist das Ganze so absurd? Zum einen ist die Mixed Zone quasi das genaue Gegenteil zur Pressekonferenz: Dort geht es zu wie im Klassenzimmer: Hinsetzen, strecken, aufgerufen werden, Frage stellen, Antwort bekommen. Alles genau organisiert. Und meistens absolut nichtssagend: "Unser Gegner hat gute Spieler, aber ich will keinen herausheben. Wir haben Respekt, aber keine Angst. Zur Aufstellung will ich nichts sagen." Von mehreren Kameras genau aufgezeichnet.

In der Mixed geht es im Vergleich dazu fast anarchisch zu. Außerdem sind die Antworten hundertmal besser, werden aber von keinem daneben sitzenden Pressesprecher kontrolliert. Da wird gefrustet, kritisiert, sich auch schon mal verplappert.

Dieser Spaß ist null organisiert: Als Messi nach dem Island-Spiel sprach, brach vor ihm fast eine Stampede aus, die Absperrung wurde niedergedrückt und musste neu errichtet werden. Die Spieler haben schließlich kein Mikro und ihnen ist völlig wurscht, ob die Antwort bis zum Smartphone in der vierten Reihe trägt. Da wird gedrückt wie früher in der großen Pause beim Bäcker.

Ob man hinterher das eine, goldene Zitat für den eigenen Nachdreh aufgeschnappt hat, ist reine Glückssache. Lieber später noch beim ZDF, SID oder der SZ nachschauen, ob Müller dort einen guten Spruch rausgehauen hat.

Warum das so ist, dafür bin ich noch nicht lange genug dabei. Wenn es nach mir ginge, würde ich ein Dutzend Aufnahmegeräte an einzelnen Stationen aufhängen, die Clips später kurz zuschneiden lassen und auf FIFA.com ins Netz stellen. Hätte jeder mehr davon.

Aber es geht nicht nach mir. Also werde ich mich am Samstag nach dem Schweden-Spiel wieder ins Getümmel stürzen. Wünscht mir Glück!

Uber-Fahrt zum Flughafen: Den Bussen kann man nicht trauen

Habe ich oben geschrieben, dass die Fahrt in die Sotschi-Unterkunft ereignislos verlief? Die Fahrt zum Moskauer Flughafen war zumindest ein bisschen spannender.

Zu meiner Verteidigung sei gesagt: Ich bin nicht prinzipiell unfähig, ohne Umwege von A nach B zu gelangen. Dafür hat das schon oft genug geklappt. Ich habe bei mir allerdings die Tendenz entdeckt, im unpassendsten Moment ... wie soll ich sagen ... "Risiko zu gehen"? Also bin ich am Dienstagmorgen an der Bushaltestelle vor meinem Hotel in einen mir unbekannten Bus gestiegen, weil bisher ja auch alle zur gleichen Metro-Station gefahren sind.

Nun, der natürlich nicht. Stattdessen fuhr er in Richtung Autobahn ab und entfernte sich vom Stadtzentrum. Ich also an der ersten Haltestelle raus - was nicht viel mehr war als eine Autobahn-Parkbucht, von Bussen nicht gerade häufig frequentiert ...

(Die Busse hier sind sowieso gewöhnungsbedürftig. Dreimal bin ich abends von der gleichen Metro-Station zu meinem Hotel gefahren. Dreimal hielt der Bus an unterschiedlichen Stellen - immer ein paar hundert Meter weiter weg ...)

Immerhin brachte mir das eine nette Unterhaltung mit dem Uber-Fahrer ein, der mich Minuten später wieder auf den rechten Weg brachte.

Fahrer: [Russisches Kauderwelsch] "Futbol?"

Ich nicke: [auf Russisch] "Ich spreche kein Russisch."

Fahrer: [von mir mühsam entziffert] "Och, sprichst du doch!"

Ich: [zeige auf meinen Medienausweis]

Fahrer: "Oh, Germania! [zeigt auf sich] Tadschikistan."

Ich: [lächeln und nicken]

Fahrer: "Germania. Rummenigge!"

Ich: [lächeln und nicken]

Fahrer: [von mir mühsam und durch seine Handbewegungen entziffert] "Wie gefällt dir Russland?"

Ich: [lächeln, Daumen hoch]

Wieder einen Freund fürs Leben gefunden. Ho ho ho ho ho - hey!

Artikel und Videos zum Thema