WM

Frankreichs Scharnier

Von Adrian Bohrdt
Blaise Matuidi ist aus der franzöischen Nationalmannschaft nicht wegzudenken
© getty

Er ist für die Equipe Tricolore die Verbindung zwischen der Defensive in der Offensive und im System von Didier Deschamps nahezu unersetzbar: Blaise Matuidi hat seine Rolle untermauert und genießt innerhalb der Mannschaft höchste Wertschätzung. Dabei hat er sein kraftraubendes Spiel sogar erweitern können.

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Beim 5:2 gegen die Schweiz lieferte Blaise Matuidi eines seiner besten Länderspiele ab. Der 27-Jährige fing drei Schweizer Pässe in der eigenen Hälfte ab, mehr als jeder andere Spieler auf dem Platz. Dazu erzielte er das vorentscheidende 2:0 und war während den kompletten 90 Minuten quasi überall auf dem Feld zu finden.

"Matuidi? Der läuft noch. Er wollte nicht das Flugzeug nehmen", grinste Nationaltrainer Didier Deschamps am nächsten Tag. Deschamps' launiger Spruch war das Ergebnis des quasi sicheren Einzugs ins Achtelfinale sowie einer herausragenden Leistung gegen die Schweiz. Und doch spiegelt sie gleichzeitig die Wertschätzung des Trainers für das Herz seiner Mannschaft wieder.

"Er ist eine Maschine"

Bei einer Weltmeisterschaft, bei der wie kaum zuvor in diesem Jahrtausend die kämpferischen und läuferischen Qualitäten im Vordergrund stehen, ist ein Spieler wie Matuidi von elementarer Bedeutung. "Er ist der athletische, moderne Spielertyp. Ein Box-to-Box-Player", lobte Deschamps und Mathieu Valbuena fügte hinzu: "Er ist ein Hund auf dem Platz. Er erobert viele Bälle, beunruhigt den Gegner."

Auch Morgan Schneiderlin bestätigte das hohe Standing seines Mitspielers innerhalb des Teams: "Er ist eine Maschine. Er hört nie auf zu laufen. Selbst wenn man das Gefühl hat, dass er einen Schlag abbekommt, steht er sofort wieder auf. Man braucht solche Spielertypen in der Mannschaft. Er hat einen großen Anteil an unserem Erfolg."

Aufstieg mit kleinem Hindernis

Der Einschätzung würde in Frankreich wohl kaum jemand widersprechen, immerhin überzeugt Matuidi zumindest national schon seit Jahren. Aufgewachsen in einem Pariser Vorort ging es für den Franzosen mit angolanischen Wurzeln schnell nach oben. Bei kleineren Hauptstadt-Klubs machte er früh auf sich aufmerksam und wurde 1999 in die berühmte Clairefontaine-Akademie aufgenommen.

Für den jungen Mittelfeldmann lief es wie am Schnürchen. Es folgten vier Jahre beim ES Troyes, inklusive des Aufstiegs in die erste Liga, sowie 2007, bereits als feste Größe in Frankreichs U-21-Nationalmannschaft, der Wechsel zum AS St. Etienne. Dort stieg er schnell zum Kapitän auf - und leistete sich schließlich doch einen Fauxpas.

Nach zwei Jahren in St. Etienne fühlte sich Matuidi zu Größerem berufen. Als Kapitän kündigte er seinen Wechsel im Sommer an, konnte sich aber mit keinem Klub auf einen Transfer verständigen und musste letztlich bleiben. Entsprechend sank der einstige Publikumsliebling in der Gunst der Fans und um seinen Youngster zu schützen, nahm ihm Trainer Alain Perrin im Winter die Kapitänsbinde ab.

2011 aber, zwei Jahre nach seinem ursprünglichen Wechselwunsch, war es endlich so weit. Paris St. Germain lockte, Matuidi sollte den zurückgetretenen Claude Makelele ersetzen. Große Fußstapfen, die der Mittelfeldmann nach und nach aber immer besser und selbstbewusster ausfüllt.

Das Scharnier in Frankreichs System

Denn Matuidi verkörpert im modernen Fußball einen unabdingbaren Spielertypen: Läuferisch und in den Zweikämpfen stark, ist der 27-Jährige als Abfangjäger eine absolute Waffe: Kein Spieler hat in der Ligue 1 in den vergangenen fünf Jahren mehr Bälle abgefangen als der Pariser (484), in der WM-Vorrunde unterbrach er gegnerische Angriffe insgesamt vier Mal auf diese Art und Weise.

"Matuidi ist ein anderer Spieler. Er bringt die physischen und athletischen Voraussetzungen mit, um defensiv genau wie offensiv seine Position zu besetzen", lobte Jose Mourinho schon vor der WM. Der Linksfuß überzeugt mit hoher Laufbereitschaft und passt perfekt in Frankreichs System: Deschamps' 4-3-3 benötigt eine dominante Dreierreihe im Mittelfeld, da die Franzosen nur so das Spiel kontrollieren können.

Das System ist von seiner Ausrichtung und personellen Besetzung her sehr offensiv interpretiert und Deschamps braucht Matuidi, um für Stabilität zu sorgen. Der Mittelfeldmann hat im bisherigen Turnier nur ein Kopfballduell verloren und insgesamt 68 Prozent seiner Zweikämpfe gewonnen. Dazu kommen 14 Balleroberungen.

Außerdem kann Matuidi, der nicht nur als Herz, sondern auch als Scharnier zwischen Defensive und Offensive fungiert, Gegenstöße einleiten. In Brasilien kann er bislang eine Passquote von 91 Prozent aufweisen, den Großteil seine Pässe spielte er in der gegnerischen Hälfte - immer noch mit einer Quote von über 90 Prozent.

Neu entdeckte Offensivlust

Dazu kommt, dass Matuidi in Paris auch an seinen Offensivqualitäten gearbeitet hat. Bereits unter Carlo Ancelotti schaltete er sich häufiger nach vorne ein, Laurent Blanc führte diese Entwicklung fort. Das Resultat: Sieben Tore und sieben Vorlagen gelangen dem Mittelfeldmann wettbewerbsübergreifend in der vergangenen Saison, in Brasilien steht er bei sieben Torschüssen und einem Treffer.

"Dass ich mich bei Paris Saint Germain jeden Tag mit großen Spielern messe erklärt meine Fortschritte", sagte Matuidi, angesprochen auf seinen neuen Offensivdrang, gewohnt bescheiden: "Ich muss mich technisch verbessern und ich werde versuchen, mich weiter zu entwickeln und dabei meine Werte zu bewahren. Ich setze mir selbst keine Grenzen."

In der Nationalmannschaft profitiert davon vor allem Karim Benzema. Da sich neben Paul Pogba und Yohan Cabaye, die beiden anderen Puzzlestücke in Frankreichs Mittelfeld-Dreierreihe, mittlerweile auch Matuidi verstärkt nach vorne einschaltet, kann Benzema auf die Flügel oder den Rückraum ausweichen und sich so dem Zugriff der Innenverteidiger entziehen.

Gleichgewicht über alles

Trotz des neuen Offensivdrangs verliert Matuidi nicht den Überblick und sichert nur zu gerne für Pogba und Cabaye ab. "Wir haben alle eine Verantwortung: Die unterschiedlichen Qualitäten in den Dienst der Mannschaft zu stellen", erklärte er kürzlich: "Ich weiß, dass ich gelegentlich offensiver agieren und meinen Mitspielern helfen kann. Aber es ist wichtig, das Gleichgewicht zu wahren, selbst wenn man offensiv spielen will."

Mit dem Einzug ins Achtelfinale als Gruppenerster hat Frankreich den ersten Teil seiner Wiedergutmachung für die Chaos-WM 2010 perfekt gemacht, jetzt soll der Weg der Grande Nation weiter gehen. "Für uns ist die Vergangenheit vergangen. Wir schauen nach vorne. Wir haben jetzt eine neue Generation", stellte Matuidi, der vor vier Jahren nicht dabei war und auch bei der EM 2012 verletzungsbedingt nicht zum Einsatz kam, klar.

Frankreich braucht seinen Mittelfeld-Motor, um auch in der K.o.-Phase weiter für positive Schlagzeilen zu sorgen. "Wir wollen eine große WM spielen", hatte Matuidi vor Turnierbeginn angekündigt. Kann er an seine Leistungen aus dem Schweiz-Spiel anknüpfen, werden die Franzosen im Mittelfeld schwer zu knacken sein.

"Vor WM-Beginn habe ich ihn damit aufgezogen, dass er für torlose Remis gemacht sei. Aber er hat mich Lügen gestraft", grinste Deschamps nach der Partie gegen die Eidgenossen weiter. Er weiß um Matuidis Wert für das Spiel seines Teams. Spätestens jetzt sollte dieser auch international jedem klar sein.

Blaise Matuidi im Steckbrief

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