WM

Die schlaflose Nacht

Von Uwe Morawe
Franz Beckenbauer und Helmut Schön nach dem WM-Finale 1974
© getty
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Doch jetzt bei der WM im eigenen Land benahmen sich seine Spieler wie verzogene Bengel aus verwöhntem Haus. Auf der Busfahrt nach dem 0:1 gegen die DDR hatte Helmut Schön begriffen, dass nicht nur der Erfolg im Turnier, sondern seine gesamte Arbeit der letzten Jahre auf der Kippe stand. Eine Standpauke halten, die Versager niedermachen - das konnte er vom Naturell her nicht, das nahm ihm keiner ab. Er hatte nur noch eine Möglichkeit. Wenn sie sich wie Kinder aufführen, muss man sie auch wie Kinder erziehen. Eine der letzten Prozesse der Kindheit ist das Eingestehenkönnen von Schuld, das aufrichtige Sichentschuldigen.

Als der gelbe Mannschaftsbus um Mitternacht am Eingang von Malente hielt, gab Schön das Zeichen: Vollversammlung im kantinenartigen Speisesaal. Helmut Schön sprach nur kurz, dafür jedoch mit entwaffnender Offenheit: "Ist es das, was ihr als fußballbegeisterte Jungs von zehn, zwölf Jahren wolltet? Ist es das? Ich bin von Euch maßlos enttäuscht."

Das Skandal-Bankett

Und zog sich mit Magenschmerzen zurück. Mal sehen, ob sie erwachsen werden. Udo Lattek, sein ehemaliger Assistent, hatte ihm erzählt, dass er als Trainer von Bayern München vor wichtigen Spielen immer bis zwei Uhr morgens auf einem Stuhl vor dem Zimmer von Franz Beckenbauer Posten bezog. So etwas hatte Helmut Schön nie gewollt. Sein Ziel war es, dass der Franz dem Lattek um elf Uhr abends sagt: Trainer, ist nicht nötig, ich hab´s begriffen.

Helmut Schön drehte sich im Bett, was in den Kojen von Malente gar nicht so einfach war. Viertel nach Vier. Er hörte sie immer noch unten in der Küche. Wirklich kein so schlechtes Zeichen. Morgen würde er kein Wort mit der Mannschaft reden. Nicht eins, das hatte er sich vorgenommen. Bis auch der Letzte begriffen hatte...

Nachtrag

Das historische 0:1 gegen die DDR erwies sich für die Bundesrepublik als reinigendes Gewitter. Beckenbauer ging als Kapitän vorweg und es entwickelte sich mit vier Wochen Verspätung ein funktionierender Mannschaftsgeist. Das Team spielte keinen strahlend schönen Fußball wie noch 1970 und 1972, stand aber als kompakter Block. Die Mär, dass ab der Zechnacht von Malente Franz Beckenbauer die Aufstellung machte, ist nicht haltbar. Schön und Beckenbauer stimmten sich zwar enger ab als zuvor, das letzte Wort behielt sich aber der Bundestrainer vor. So plädierte Beckenbauer vor dem Endspiel für den wiedergenesenen Jupp Heynckes als Linksaußen, Schön vertraute jedoch weiterhin Bernd Hölzenbein.

Was sonst noch wichtig war

  • Die Sportschule Malente wurde während des Aufenthalts der Nationalmannschaft aus Angst vor terroristischen Anschlägen der RAF durch GSG9-Beamte gesichert. Umso verwunderlicher, dass die Spieler immer wieder einen Weg fanden, nach Hamburg auszurücken. Der einzige gemeinsame Ausflug der Mannschaft während der dreiwöchigen kasernenhaften Vorbereitung war eine Fahrt ins nahe gelegene Legoland. Da staunten Breitner, Hoeneß und Co. Bauklötze...
  • Den DDR-Spielern war vor der Partie gegen die BRD der Trikottausch untersagt worden, weil die Funktionäre von einer klaren Niederlage ausgegangen waren und die Delegation nicht wie Souvenirjäger dastehen sollte. Die Spieler setzen sich über die Vorgabe hinweg und tauschten die Jerseys nach Abpfiff in den Katakomben. Zum Spiel in Hamburg waren 1800 parteigetreue Genossen als Fans ausgewählt worden. Die erhielten im Vorfeld sogar eine Schulung in einem extra kreierten Fangesang: "acht, neun, zehn...Klasse!" Wo hier der Sinn lag, wusste wohl nicht mal Erich Honecker.
  • Die Holländer spielten als erste Nation der WM-Geschichte mit alphabetisch geordneten Nummern. So turnte Torhüter Jan Jongbloed mit der Nummer 8 auf dem Rücken durchs Turnier. Dazu auch noch nach alter Sitte mit bloßen Händen! Erst vier Jahre später in Argentinien zog sich auch Jongbloed Handschuhe über. Die einzige Ausnahme der alphabetischen Reihung war Superstar Johan Cruyff. Der beharrte auf seiner 14 und lief als einziger Niederländer mit zwei Streifen an Ärmel und Hose auf. Die Niederländer hatten als Ausrüster adidas, Cruyff einen Exklusivvertrag mit Puma. Die zwei Streifen waren der Kompromiss.
  • Die Schlussfeier vor dem Finale war die wohl langweiligste aller Zeiten. Zu den Klängen der Bundeswehr Big Band unter Leitung von Günter Noris gab es eine Busparade. Jawoll, Busparade! Alle gesponserten 16 Mannschaftsbusse fuhren 20 Minuten lang im Kreis über die Tartanbahn des Münchener Olympiastadions. Ein Hoch auf die deutsche Ingenieurskunst!
  • Wahrscheinlich war der Zeugwart ob dieser eintönigen Vorführung dermaßen weggenickt, dass das Finale mit vier Minuten Verspätung angepfiffen werden musste. Schiedsrichter Taylor hatte im letzten Moment bemerkt, dass die Eckfahnen vergessen worden waren. Ein Hoch auf die perfekte deutsche Organisation!
  • Beim Schlussbankett hatten die Funktionäre des DFB an alles gedacht. Außer den Spielerfrauen eine Eintrittskarte und einen Platz zu besorgen. Da saßen die Sponsoren und DFB-Oberen nebst Gattinnen drinnen und wunderten sich, dass sich immer mehr Spieler in den Außenbereich verabschiedeten, wo die Frauen und Freundinnen warteten. Jürgen Grabowski, Paul Breitner und Gerd Müller erklärten noch am Abend ihren Rücktritt. Müller hatte diese Entscheidung jedoch bereits vor dem Finale und dem skandalösen Bankett für sich gefällt.
  • So blieb Müllers wichtigstes Tor auch sein letztes für die Nationalmannschaft. Seine Länderspielkarriere hatte nur etwas länger als sieben Jahre gedauert. 68 Tore in 62 Spielen. Der Gerd war der Größte!
  • Beim Ausscheiden der Brasilianer gegen die Niederlande sah man das stilvollste Frustfoul der WM-Geschichte. Als kleiner Junge vor dem Fernseher hatte ich Angst vor Luis Pereira. Die selbe Frisur und Statur wie Boxchampion George Foreman. Sein bewusster Tritt mit Schmackes gegen Neeskens - so verabschiedet man sich von der großen Bühne. Und nicht so mädchenhaft wie 32 Jahre später Zinedine Zidane.

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